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»Nur die Sterne waren nah.« Teil 20: Die Katastrophe

Ausstellung über die Widerstandskämpferin im Chana-Szenes-Haus im Kibbuz Sdot Yam in Israel
Ausstellung über die Widerstandskämpferin im Chana-Szenes-Haus im Kibbuz Sdot Yam in Israel (Quelle: Shmuel Bar-Am)

In dieser Reihe stellen wir die jüdische Dichterin und Widerstandskämpferin Chana Szénes vor. Sie emigrierte 1939 als 18-Jährige von Ungarn nach Palästina, wo sie sich 1943 einer Freiwilligeneinheit des britischen Geheimdienstes anschloss, deren Ziel es war, als Fallschirmspringer über feindlichem Gebiet abzuspringen, um abgeschossene britische Piloten und Juden zu retten.

Der Weg nach Ungarn gestaltet sich schwierig. Kurz nach der Überquerung der Grenze fliegt die Mission auf.

Als Chana Szénes zwischen dem 7. und 9. Juni 1944 in der Grenzregion zwischen Kroatien und Ungarn herumirrte, war sie ziemlich allein auf jener Mission, die anfangs für dreißig gut ausgebildete Soldaten geplant gewesen war: abgeschossene alliierte Piloten herausholen, Nachrichten über feindliche Truppen sammeln und Juden vor der Vernichtung retten. 

Mit ihr waren drei Flüchtlinge, die sie erst vor Kurzem kennengelernt hatte: die beiden ungarischen Juden Kallós und Fleischmann sowie der entflohene französische Kriegsgefangene Tissandier. Ob sie sich auf sie verlassen konnte oder ob sie sie verraten würden, wusste sie nicht.

Kallós hatte eine Landkarte und einen Kompass, doch die Orientierung fiel ihm schwer, zumal die kroatischen und ungarischen Ortsnamen für die Dörfer der Grenzregion oft kaum Ähnlichkeit miteinander hatten. Sie suchten den Weg nach Murska Sobota, eine Stadt an der Grenze, die heute slowenisch ist, zwischen 1941 und 1945 aber zu Ungarn gehörte. Ihr deutschsprachiger Name war Olsnitz, auf Ungarisch hieß sie Muraszombat. Am 26. April 1944 waren die Juden von Murska Sobota nach Auschwitz deportiert worden.

Immer wieder liefen die vier im Kreis, bis sie endlich auf einen größeren Fluss stießen. Kallós war überrascht, denn er hatte in diesem Gebiet nur kleinere in Erinnerung. Es musste die Drau (Drava) gewesen sein, einer der vier größten Nebenflüsse der Donau, den sie überqueren mussten. Die Wassertiefe der Drau liegt zwischen drei und sieben Metern, die Fließgeschwindigkeit ist mancherorts langsam, anderswo schnell. Nachdem es in den Tagen zuvor viel geregnet hatte, war der Wasserstand recht hoch. Boote gab es keine, und auf der Karte waren keine Brücken eingezeichnet. 

Zwei Stunden lang wanderten sie im Dunkeln an der Drau entlang, um eine Möglichkeit zur Überquerung zu finden. Dann war klar, dass sie schwimmen mussten. Allerdings durfte die Ausrüstung, vor allem der Funksender, nicht nass werden. Tissandier drängte Chana, ihn zurückzulassen. Er argumentierte, dass sie im Grenzgebiet jederzeit von Gendarmen kontrolliert werden könnten und der Sender schwer zu erklären sei.

Doch Chana erwiderte, dass der Sender der einzige Kontakt zu den Briten und den Kameraden sei und wesentlich für die Mission war. Sie holte ihn aus der Lederummantelung heraus und nahm ihn auseinander, wie sie es in Kairo gelernt hatte. Es war offensichtlich, dass sie etliche Male würden schwimmen und dabei mit einer Hand Teile des Senders über Wasser halten müssen. Viermal durchquerten sie den Fluss. Dann setzte Chana den Sender wieder zusammen. Nur der Kopfhörer war nicht mehr zu finden.

Weitere, kleinere Flüsse waren zu durchqueren, dann war Kallós sicher, in der Nähe der Grenze zu sein. Als die Sonne aufging, beschlossen sie, sich in einem Gebüsch zu verstecken. Dann entdeckten sie am Horizont ein Dorf, von dem Kallós meinte, dass dies das Dorf sei, wo sie die Schmuggler getroffen hätten, die sie über die Grenze gebracht hatten. Die vier beschlossen, dass Kallós und Fleischmann ins Dorf gehen sollten, da sie sich ein wenig auskannten. Auch sprachen sie im Gegensatz zu Tissandier Ungarisch ohne französischen Akzent. Chana und Tissandier würden warten. 

Kallós zögerte. Was würde geschehen, würden Chana und Tissandier entdeckt? Tissandier mit seinem lustigen Akzent würde durchkommen, aber eine Engländerin? Kallós und Fleischmann hielten Chana für eine Britin, denn sie hatte mit ihnen nur Englisch gesprochen und mit Tissandier nur Französisch. Sie waren sehr überrascht, als sie miteinander auf Ungarisch darüber diskutierten, dass Chana wegen ihrer Sprache auffallen würde und sie ihnen in perfektem Ungarisch erklärte: »Sollte es dazu kommen, werde ich mich auf Ungarisch durchschlagen.«

Chana und Tissandier versteckten die Ausrüstung in einem nahegelegenen Maisfeld. Chana zitterte vor Kälte, hatte aber keine trockene Kleidung. Als Kallós und Fleischmann gegangen waren, entdeckte Chana einen Weg zu einem Hügel, von dem aus man sie beobachten konnte. Doch sie konnten den Ort nicht wechseln, da dies der vereinbarte Treffpunkt war. Viele Stunden vergingen. 

Entdeckt

Dann entdeckte Tissandier Soldaten, an deren Uniformen er sie als Deutsche identifizierte. Chana und Tissandier wollten dorthin zurück, wo sie die Grenze vermuteten. Vielleicht könnten sie sich in einem Wäldchen verstecken. Doch ein anderer Trupp Soldaten schwenkte von der Straße ins Feld ein und schnitt ihnen den Weg ab. Somit waren sie von etwa zweihundert Soldaten eingekesselt. 

Die Soldaten waren nicht zufällig hier, sondern durchsuchten methodisch die Gegend mit Spürhunden. Tissandier zog Chanas Kopf zu Boden und sagte: »Vite, vite, wir müssen so tun, als wenn wir Liebende wären.« Das wäre in Friedenszeiten überzeugend gewesen, doch nicht im Krieg, in einer Situation, in der die deutsche Wehrmacht im Angesicht der Niederlage war und jemand sie alarmiert hatte, dass Partisanen in der Gegend seien. »Sind das die Leute, die wir suchen?«, fragte ein Offizier seinen Kollegen. »Nehmen wir sie mit«, erwiderte der andere. »Wenn wir uns irren, können sie immer noch hierher zurückkehren und da weitermachen, wo sie aufgehört haben.«

Obwohl die Deutschen nicht wussten, mit wem sie es zu tun hatten, war Chana klar, dass es kein Entrinnen mehr gab. Jegliche Zweifel verflogen, als sie ins Dorf kamen und erfuhren, was mit ihren beiden Kameraden geschehen war. Kallós und Fleischmann hatten richtig gelegen, was das Dorf betraf. Es war jenes, das sie kannten, doch die Schmuggler waren nicht mehr da. Deren Ehefrauen sagten ihnen, sie sollten am Abend wiederkommen. 

Als Kallós und Fleischmann zurück zu Chana und Tissandier gehen wollten, kamen zwei Polizisten auf sie zu. Wären sie weggerannt, hätten sie sich verdächtig gemacht und Alarm ausgelöst. Also gingen sie weiter. Die Polizisten hielten sie an und kontrollierten ihre Papiere. Scheinbar merkten sie nicht, dass sie gefälscht waren. Dennoch mussten sie zur Wache mitkommen. Dazu Chana Szénes’ Biograf Peter Hay: »Dies war ein alter Trick der ungarischen Gendarmen. Wenn Verdächtige willig mitkamen, würde die Polizei sie gehen lassen. Anderenfalls würden sie eine gründlichere Prüfung einleiten.«

Kallós und Fleischmann besaßen automatische Pistolen, die, weil die Polizisten sie noch nicht durchsucht hatten, noch in ihrem Besitz waren. Es waren keine anderen Menschen in der Nähe. Sie könnten sich schnell umdrehen und die mit Gewehren bewaffneten Polizisten, die einige Schritte hinter ihnen gingen, erschießen, ehe diese reagieren könnten. 

Fleischmann gab Kallós heimlich ein Zeichen mit dem Zeigefinger, als würde er einen Abzug ziehen. Dann führte er die Hand in die Tasche, um die Pistole zu greifen. Er hörte nun einen der Polizisten zu seinem Kollegen flüstern, dass man die beiden nach weiteren hundert Metern gehen lassen solle. Er war erleichtert und überlegte, ob auch Kallós die Worte gehört hatte. Im nächsten Moment gab es einen Knall, und Fleischmann wurde von hinten gefasst und überwältigt. 

Als er zur Seite schaute, bot sich ihm ein grässliches Bild: Kallós war in Panik geraten und hatte, statt die Polizisten zu erschießen, sich selbst in den Kopf geschossen. Nach einigen Minuten kamen Bauern herbei, die den Schuss gehört hatten. Ein junger Kroate sagte in gebrochenem Ungarisch, dass er zwei weitere Partisanen gesehen habe, die sich im Gebüsch versteckten. Die anderen Bauern, so Peter Hay in seiner Szenes-Biografie, »schwiegen in Missbilligung«, da sie annahmen, dass die Partisanen gegen die Ungarn kämpften, die Teile Kroatiens besetzt hielten. »Selbst die größten Faschisten« seien damals »zuerst Nationalisten« gewesen.

Der dienstältere Polizist forderte Verstärkung an. Er wollte die Partisanen noch vor den Deutschen finden. Dann durchsuchte er die Taschen von Kallós und entdeckte zu Fleischmanns Bestürzung den Kopfhörer von Chanas Sender.

Verhör

In weniger als einer halben Stunde wurden Chana und Tissandier gefunden und an den Schauplatz gebracht. Chana wusste nicht, was mit Kallós geschehen war und tat so, als würde sie Fleischmann nicht kennen. Doch ihr war bewusst, dass ihre Mission in einer Katastrophe geendet war. 

Die drei Überlebenden wurden nach Szómbathely gebracht, die nächste Stadt. Sie wurden getrennt, sodass sie ihre Aussagen nicht absprechen konnten. Die Polizisten schlugen Chana, während sie von ihr Auskunft über den Funkkopfhörer verlangten. Chana antwortete, darüber nichts zu wissen. Dann brachten die Beamten den Kopfhörer und sagten, dass sie ihn bei Fleischmann gefunden hätten. Chana tappte in die Falle: Sie wusste nicht, dass Kallós ihn gehabt hatte. Hätte sie dieses Wissen gehabt, hätte sie die Schuld auf den Toten schieben können. Sie wollte aber nicht, dass Fleischmann dafür bestraft würde, weil es ja sie selbst gewesen war, die den Sender unbedingt hatte mitnehmen wollen. Also gestand sie, dass es ihr Kopfhörer war.

Nach dem Geständnis brachten Wachen sie auf den Flur, wo sie zwei übel zugerichtete Gestalten sah: Tissandier und Fleischmanns Gesichter waren voller Blutergüsse, ihnen waren die Zähne ausgeschlagen und Haare ausgerissen worden. Auch Chana hatte Zähne verloren. 

Als sie zu dem Feld gebracht wurde, wo sie den Sender versteckt hatte, sah sie, dass es von Soldaten völlig zertrampelt war. Sie brauchte nicht lange zu überlegen, ob der Sender gefunden worden war. Ein Armeefahrzeug fuhr auf sie zu, ein Offizier der Grenzpolizei stieg aus und präsentierte stolz den Sender in der Lederummantelung. 

Der Sender war nutzlos ohne den Code. Chana wusste, dass die Deutschen ihn würden haben wollen, um den Alliierten in Chanas Namen irreführende Nachrichten zu senden. Der Code war in einem Büchlein mit französischen Gedichten versteckt, das sie immer noch hatte. Sie wusste, dass sie es schnell loswerden müsste. Chana wurde in einem Auto zum Bahnhof gefahren, um mit dem Zug zu weiterem Verhör nach Budapest gebracht zu werden. Als sie aus dem Fahrzeug ausstieg, ließ sie das Büchlein im Wagen zurück.

In der Serie »Nur die Sterne waren nah« bisher erschienen:

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