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»Nur die Sterne waren nah.« Teil 16: Nach Jugoslawien

Nach Jugoslawien: Chana Szenes in britischer Militäruniform
Nach Jugoslawien: Chana Szenes in britischer Militäruniform (Quelle: Facebook US Holocaust Memorial Museum)

In dieser Reihe stellen wir die jüdische Dichterin und Widerstandskämpferin Chana Szénes vor. Sie emigrierte 1939 als 18-Jährige von Ungarn nach Palästina, wo sie sich 1943 einer Freiwilligeneinheit des britischen Geheimdienstes anschloss, deren Ziel es war, als Fallschirmspringer über feindlichem Gebiet abzuspringen, um abgeschossene britische Piloten und Juden zu retten.

Chanas Mutter Katharina ist in Budapest noch sicher, doch die jüdische Landbevölkerung wird nach dem Einmarsch der Deutschen sofort in Ghettos und anschließend nach Auschwitz deportiert. Chana springt kurz vor der deutschen Invasion über Jugoslawien ab und verbringt Monate bei den Partisanen.

Gleich nach der Besetzung Ungarns durch die deutsche Wehrmacht am 19. März 1944 organisierte das Sondereinsatzkommando Eichmann die Vernichtung der Juden.

Dem Kommando gehörten neben Adolf Eichmann und dessen Stellvertreter, SS-Obersturmbannführer Hermann Krumey, auch die SS-Hauptsturmführer Franz Novak (koordinierte die Eisenbahntransporte), Dieter Wisliceny (1940–1944 »Beauftragter für jüdische Angelegenheiten« für die Slowakei, Ungarn und Griechenland), Siegfried Seidl (mitverantwortlich für die Erfassung von Juden und Beschlagnahmung ihres Vermögens), Theodor Dannecker (vorher beteiligt an Deportationen aus Frankreich, Bulgarien und Italien), Otto Hunsche (Jurist und Regierungsrat im Reichssicherheitshauptamt), Alois Brunner (Mitorganisator früherer Massendeportationen von Juden u. a. aus Deutschland, Österreich, Griechenland und Frankreich) und Franz Abromeit (vormaliger Judenreferent für Kroatien) an.

Insgesamt waren nur 150 Personen an dem Sondereinsatzkommando beteiligt. Um die schnelle Deportation der ungarischen Juden – nach Rudolf Höß, dem Lagerkommandanten von Auschwitz, »Operation Höß« oder »Aktion Höß« genannt – umzusetzen, war also die Mithilfe der ungarischen Exekutive – von Verwaltung, Milizen und Gendarmen – notwendig.

Ende April 1944 begannen in Ungarn die Deportationen von Juden nach Auschwitz. Zuvor waren sie in Ghettos in den großen Städten konzentriert worden. Lediglich die Budapester Juden, zu denen Chanas Mutter Katharina gehörte, wurden in dieser Phase noch nicht in Ghettos umgesiedelt, sondern in »Judenhäuser«, die mit einem gelben Davidstern markiert waren, innerhalb der Stadt. Diese waren über ganz Budapest verstreut, weil dessen Bürgermeister fürchtete, dass bei Luftangriffen sonst nur der nichtjüdische Teil bombardiert würde. Jene Häuser, in denen Juden interniert waren, waren oft in der Nähe von Fabriken oder anderen Gebäuden, die Ziele von Luftangriffen hätten werden können.

Willkürlich verhaftete Juden wurden verschiedenen Formen der Demütigung und Folter ausgesetzt. Der serbische Historiker Petar Durdev schrieb in seinem Buch Deportation of the Jews of Bačka in 1944:

»In Novi Sad beispielsweise verhaftete die Gestapo mit Hilfe von Volksdeutschen über 300 Juden und brachte sie in das Hotel Sloboda, das als Gefängnis diente. Die Verhafteten galten gleichzeitig als Geiseln. Tagsüber verrichteten sie schwerste körperliche Arbeit und wurden von Wächtern und Aufsehern misshandelt. Nachts dienten sie den deutschen Wächtern und Mitgliedern der lokalen faschistischen deutschen und ungarischen Organisationen, die aus diesem Grund ins Gefängnis kamen, zur Unterhaltung.

Nach der harten Arbeit mussten die Gefangenen abends verschiedene gymnastische Übungen durchführen, zum Vergnügen der anwesenden faschistischen Bürger. Als alles vorbei war und die Besucher das Gefängnis verließen, befahlen die Wächter den Juden, den Rest der Nacht im Stehen zu verbringen und verwehrten ihnen den Schlaf. Sackte einer zusammen und fiel hin, schlugen sie ihn, bis er wieder aufstand und mit den anderen an der Wand stand. Ähnlich behandelten die Deutschen Geiseln an anderen Orten. Die meisten dieser Geiseln wurden nach 19 bis 20 Tagen Gefängnisaufenthalt wieder nach Hause entlassen.«

Katharina Szénes erinnerte sich: »Meine Verwandten auf dem Land zu besuchen, war nicht mehr länger möglich, und bis zum 1. Mai hatte ich von allen gehört, dass sie im Ghetto waren. Dann verbreiteten sich Gerüchte, dass die Juden im Ghetto mit Güterwagen an unbekannte Orte verbracht würden. Und einige Tage später wurde den Juden in Budapest befohlen, in mit gelbem Stern gekennzeichnete Häuser zu ziehen. Auch ich packte ein paar notwendige Dinge, bereit für jede Eventualität, war aber unsicher, was ich tun, wie ich weitermachen sollte.«

Ein befreundetes Ehepaar riet ihr, nicht in eines jener Häuser zu ziehen, sondern sich falsche Dokumente zu besorgen, die sie als »Arierin« auswiesen, und mit ihm zusammen nach Rumänien zu fliehen, von wo aus sie nach Palästina weiterreisen könnten. Katharina hielt den Plan für »undurchführbar, sogar absurd«, wollte ihn aber erwägen.

»Aktion Höß«

Die ersten Deportationen nach Auschwitz fanden am 27. und 28. April vom Konzentrationslager Kistarcza bei Budapest, in dem Gegner der ungarischen Regimes interniert waren, und aus Bačka Topola in der Vojvodina statt. Sie erreichten am 2. Mai die sogenannte »Alte Judenrampe« von Auschwitz II/Birkenau. Nach der Selektion wurden 486 Männer und 616 Frauen im Lager registriert. Die übrigen 2.698 wurden in den Gaskammern ermordet.

Um Panik in Budapest und in den Ghettos zu vermeiden, mussten die nach Auschwitz deportierten Juden Postkarten nach Ungarn schicken, um die Fiktion zu verbreiten, sie wären in einem Ort namens »Waldsee« in Thüringen. Die Karten enthielten Sätze wie »Wir sind gut angekommen« oder »Es geht uns gut«.

Die erwartete Ankunft von einer Million ungarischer Juden stellte die Mordmaschinerie von Auschwitz vor eine Herausforderung. Neue Ausrüstung wurde angeschafft, darunter weitere Gaskammern und Krematorien, und eine neue Rampe errichtet. Die Hauptphase der Deportationen von Juden aus Ungarn begann am 14. Mai und dauerte bis zum 9. Juli 1944. In dieser Zeit trafen 142 Züge mit rund 420.000 Menschen in Auschwitz ein.

Kurz vor Beginn der geplanten Deportationen von Juden aus Budapest erreichte der Vrba-Wetzler-Bericht die Alliierten. Er enthielt eine detaillierte Beschreibung der Gaskammern von Auschwitz und der Vorgänge im Lager. Er war im April 1944 von zwei Auschwitz-Flüchtlingen, Rudolf Vrba und Alfred Wetzler, dem slowakischen Judenrat diktiert worden. Der Sohn und die Schwiegertochter von Ungarns Reichverweser Miklós Horthy erhielten Anfang Mai Kopien des Berichts, bevor die Massendeportationen begannen.

Auf der Grundlage dieses Berichts appellierten führende Politiker der Welt, darunter Papst Pius XII., US-Präsident Franklin D. Roosevelt und König Gustav V. von Schweden an Horthy, die Deportationen zu stoppen. Roosevelt drohte mit militärischen Vergeltungsmaßnahmen. Am 2. Juli bombardierten britische und amerikanische Bomber Budapest.

Am 7. Juli ordnete Horthy die Beendigung der Deportationen an. Zu diesem Zeitpunkt war bereits die gesamte jüdische Landbevölkerung nach Auschwitz deportiert worden. Doch das war nicht das Ende des Holocausts in Ungarn. Nach der Machtübernahme der Pfeilkreuzler im Oktober 1944 wurden Tausende Budapester Juden an den Ufern der Donau ermordet und Zehntausende Hunderte von Kilometern weit in Richtung der österreichischen Grenze getrieben.

Rechnet man die Transporte vom April und von einigen kleineren ab Herbst 1944 hinzu, beträgt die Gesamtzahl der aus Ungarn Deportierten rund 430.000. Drei Viertel von ihnen wurden sofort nach der Ankunft vergast. Bis zu 568.000 ungarische Juden kamen während des Holocausts ums Leben. Viele Juden – Yad Vashem schätzt ihre Zahl auf »bis zu 8.000« – flohen aus Ungarn, die meisten nach Rumänien, viele mit Hilfe von Mitgliedern der zionistischen Jugendbewegung.

Absprung über Jugoslawien

Chana Szénes sprang wenige Tage vor der deutschen Invasion Ungarns über Jugoslawien mit dem Fallschirm gemeinsam mit Reuven Dafni, Yonah Rosen und Abba Berdichev ab. Dafni erinnerte sich an den Moment des Abflugs aus Bari:

»Wir saßen in dem überfüllten Flugzeug, umgeben von Paketen, einige für die Partisanen, andere für uns. Wir fühlten uns erdrückt. Mit dem Gurtzeug auf dem Rücken, den Waffen und unserer schweren Winterkleidung hatten wir kaum Bewegungsfreiheit. Das Dröhnen des Motors machte jede Unterhaltung unmöglich.

Ich betrachtete die Gesichter meiner Kameraden, die alle tief in Gedanken versunken waren, und spürte, dass unsere Herzen wohl in schicksalhaftem Gleichklang schlagen müssten. Mein Blick ruhte auf Chana. Ihr Gesicht strahlte, sie strahlte vor Freude und Aufregung. Sie zwinkerte mir zu und winkte aufmunternd und ein entzückendes, verschmitztes Lächeln umspielte ihr Gesicht. Unter ihrem Fallschirmjägerhelm wirkte ihr Gesicht kleiner, ihr Gesichtsausdruck fast elfenhaft, und ihr strahlendes Lächeln erinnerte mich an ein kleines Mädchen auf seiner ersten Karussellfahrt. Ihre Freude war ansteckend; wir waren alle davon angesteckt.

Allmählich löste sich die Anspannung und die Luft schien leichter. Ängste und düstere Gedanken wichen, verschwanden schließlich, und wir begannen, uns friedlich und zuversichtlich zu fühlen. Die Zeit verging. Müdigkeit und Anspannung hatten ihren Tribut gefordert; der gesegnete Schlaf umarmte uns, einen nach dem anderen.«

Als sie aufwachten, sahen sie, dass die Crew Pakete aus der Luke warf und das Flugzeug das Zielgebiet umkreiste. Dafni weiter:

»Ich werde nie den Moment vergessen, als ich den Sprung machte. Chana stand daneben, so schlank, ihr Gesicht von einem breiten Lächeln umhüllt, ihr Gesichtsausdruck ruhig, glücklich, mit dem Daumen nach oben, ihrem Lieblings-Victory-Zeichen. Ich sprang … und sie war direkt hinter mir.«

Sie landeten im heutigen Slowenien. Einige Wochen später kamen Yoel Palgi und Peretz Goldstein hinzu. Über Monate wanderten die sechs jüdischen Fallschirmspringer mit den Partisanen quer durchs Land. Dafni notierte:

»Wir waren Zeugen des grausamen und doch wunderbaren, erbitterten Partisanenkampfes um Sieg und Freiheit. Wir sahen unglaublichen Heldenmut, Siege und tragische Niederlagen. Wir sahen Zerstörung – ganze Städte und Dörfer in Schutt und Asche, Flammen, die die Arbeit von Generationen vernichteten. Wir begegneten angreifenden und fliehenden Truppen und schlossen uns Karawanen tapferer, einfacher Menschen an, die vor dem unerbittlichen Feind flohen oder zurückkehrten, um ihre Hügel, Felder und Dörfer zurückzuerobern.

Alles, was wir sahen, berührte uns tief: die Grausamkeit, der Terror, die Menschlichkeit und Zärtlichkeit. Unser Ziel lag weiter entfernt … unsere Mission war es, zumindest einige unserer Brüder zu retten.«

In der Serie »Nur die Sterne waren nah« bisher erschienen:

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