In dieser Reihe stellen wir die jüdische Dichterin und Widerstandskämpferin Chana Szénes vor. Sie emigrierte 1939 als 18-Jährige von Ungarn nach Palästina, wo sie sich 1943 einer Freiwilligeneinheit des britischen Geheimdienstes anschloss, deren Ziel es war, als Fallschirmspringer über feindlichem Gebiet abzuspringen, um abgeschossene britische Piloten und Juden zu retten.
Der Abflug aus Kairo wird von den Briten immer wieder verschoben, während sich Anzeichen einer bevorstehenden deutschen Invasion Ungarns mehren. Die Zeit für die dortigen Juden läuft ab. Chana Szénes will über Ungarn abspringen, wird aber der Jugoslawien-Gruppe zugeteilt.
Seit 1942 hatte Adolf Hitler Ungarn gedrängt, seine jüdische Bevölkerung zu deportieren. Reichsverweser Miklós Horthy und Ministerpräsident Milkos Kallay hatten sich mit dem Argument geweigert, dies würde der ungarischen Wirtschaft schaden. Obwohl Ungarn für das Deutsche Reich ein wichtiger Lieferant von Öl und Bauxit war, waren die Kriegsanstrengungen des Landes aus Sicht der Nationalsozialisten unbefriedigend. In Berlin war man überzeugt, Kallay werde von einer »jüdischen finanziellen Clique« unterstützt, wie es von US-Geheimdiensten abgefangener Kommunikation japanischer Diplomaten hervorgeht.
Ab März 1943 entsandte der deutsche Außenminister Joachim Ribbentrop den Diplomaten und SS-Oberführer Edmund Veesenmayer mehrmals nach Budapest, um mit politischen Führern die Situation zu analysieren. Der Diplomat kam im November zur Überzeugung, dass es nur eine Frage der Zeit – »höchstens einem Jahr« – sei, bis Ungarn aus der Achse ausscheren würde. So stellte Hitler Mitte März 1944 Horthy vor die Wahl zwischen einer deutschen Militärbesetzung und der Bildung einer von Deutschland anerkannten und von Ungarn dominierten Regierung, die Deutschland freundlich gesinnt war.
Die britische Spionage wusste über Veesenmayers Aktivitäten Bescheid und hatte den Schluss gezogen, dass eine deutsche Invasion bevorstünde, weswegen in Folge – und wegen der fehlenden Unterstützung am Boden – aus Sicht der Briten ein Absprung über Ungarn nicht infrage kam. Stattdessen würden die jüdischen Fallschirmspringer über Jugoslawien abgesetzt und sich dort zunächst den Partisanen anschließen. In dem Apartment in Kairo debattierten die Freiwilligen weiter hitzig. Yoel Palgi erinnerte sich:
»Ich blieb vehement standhaft und drängte darauf, mit dem Fallschirm auf der Halbinsel Tihany in der Nähe des Balatons unweit von Budapest abzuspringen. Sie hatte den doppelten Vorteil, selbst nachts, wenn das Wasser glitzerte, leicht erkennbar und außerdem ein Erholungsgebiet zu sein, das Soldaten aller Achsenmächte anzog. Wenn wir in Uniform und Armeeregenmantel absprangen, würden wir wahrscheinlich nicht auffallen.«
Wären sie hingegen in Jugoslawien, wüssten sie nicht, wie lange sie bleiben müssten, bis man annehmen könne, dass der Weg nach Ungarn frei sei. Am Ende stimmten die Briten einem, wie Palgi es nannte, »Kompromissvorschlag« zu: Ein Team würde über Jugoslawien abspringen, der Rest in Kairo bleiben. Sollten sich die Bedenken bezüglich Jugoslawiens bestätigen, würde zwei Männer über Ungarn abspringen und, so sie nicht gefangen genommen würden, den anderen dabei helfen, die Grenze zu überqueren. Die Wartezeit zog sich hin:
»Es gab Gerüchte, dass Rumänien und Ungarn kurz vor der Kapitulation stünden. Es war von größter Wichtigkeit, diese Länder vorher oder zumindest unmittelbar danach zu erreichen, um so viele unserer Leute wie möglich zu retten. Doch das kümmerte die Alliierten nicht. Wir wussten, dass die Briten versuchten, uns zu schützen, aber damit hinderten sie uns daran, unserem Volk zu helfen, und natürlich kam es zu endlosen Auseinandersetzungen – sogar schweren Zusammenstößen – zwischen unseren britischen Paten und uns.«
Chana sei »die Hauptrebellin« gewesen, so Palgi.
»Und sie hatte nicht immer Recht. Im Gegenteil. Meistens lag sie falsch. Ihre eigene Sicherheit war ihr völlig gleichgültig. Wir stritten uns ständig. Manchmal fragte ich mich, wie ich jemals mit ihr zusammenarbeiten sollte, sobald wir uns in feindlichem Gebiet befanden. Sie schien nicht kooperativ genug zu sein; sie schien nur an ihren eigenen Zielen interessiert; es fehlte ihr völlig an Vorsicht und sie weigerte sich, Disziplin zu akzeptieren. Sie bestand darauf, dass wir die Aufgabenbereiche im Voraus aufteilten, damit wir nach unserem Sprung keine Zeit mit solchen Dingen verschwenden mussten. Sie wollte sichergehen, dass sie ihren Anteil an der Aktion bekam, dass sie nicht außen vor blieb.«
Keine Flugzeuge
Chana war die Einzige in der Gruppe, die nicht aus einer zionistischen Jugendbewegung kam. Die dort eingeübten Methoden der Zusammenarbeit waren ihr fremd. Da sie mit diesen nicht vertraut war, hatte sie Angst, beiseite geschoben zu werden. Immer wieder wurde der Abflug verschoben. Von Tag zu Tag, von Woche zu Woche.
»Keine Flugzeuge, sagten die Briten. Unsere völlige Abhängigkeit von ihnen war sehr frustrierend. Kostbare Zeit lief uns davon, und die Spannung in der Gruppe stieg. Anfang März erfuhren wir schließlich, dass wir in wenigen Tagen aufbrechen würden.«
Nun war die Frage, wer in welches Land gehen würde. Ursprünglich waren Yonah Rosen und Yoel Palgi für den möglichen Sprung über Ungarn vorgesehen. Yonah sei ein praktisch denkender und bodenständiger Mensch gewesen, der ohne Aufregung in schwierigen Situationen Lösungen fand, so Palgi, weshalb er froh gewesen sei, mit ihm gemeinsam in die Mission zu gehen. Doch Peretz Goldstein, der jüngste in der Gruppe, stellte die Entscheidung infrage: Er argumentierte, dass dies für Yonah, einen Ehemann und Vater eines kleinen Mädchens, zu gefährlich sei. Er selbst solle an Yonahs Stelle gehen, so Goldstein. Das wurde akzeptiert.
Chana wollte gemeinsam mit Yonah und Peretz nach Ungarn, was aber abgelehnt wurde, da im Fall der Entdeckung der Fallschirmspringer sie die Geschichte erzählen würden, sie seien Teil einer britischen Flugzeug-Crew, deren Flugzeug abgestürzt sei (während feindliche Piloten hoffen konnten, als Kriegsgefangene behandelt zu werden, wurden Spione erschossen). Eine Frau würde zu dieser Story nicht passen.
Chana und Yonah würden von Jugoslawien aus nach Ungarn kommen. Shaike Dan, Dov Berger-Harari würden über Rumänien abspringen. Abba Berdichev würde von Jugoslawien aus die Grenze nach Rumänien überqueren. Reuven Dafni würde in Jugoslawien bleiben und zusammen mit Major John Eden, dem Neffen des britischen Außenministers, eine Basis aufbauen, deren Aufgabe darin bestand, Agenten aus Eretz Israel in Empfang zu nehmen und jene Flüchtlinge, die hoffentlich aus Ungarn ihren Weg nach Jugoslawien finden würden.
Emotionaler Abschied
Enzo Sereni würde nach Norditalien gehen. Enzo und die Jugoslawien-Gruppe um Chana Szénes verließen als erste Kairo. Obwohl dies der seit Wochen ersehnte Moment war, fiel ihm die Trennung von Chana, mit der er so oft gestritten hatte, nicht leicht, erinnerte sich Palgi: »Unser Abschied war ziemlich emotional und löste die Spannung, die sich allmählich zwischen uns aufgebaut hatte. ›Wir sehen uns in Budapest‹, sagte ich zum Abschied.«
Nachdem ein Teil der Gruppe die Wohnung in Kairo verlassen hatte, herrschte eine deprimierende Stimmung unter den Verbliebenen: »Nun, da die fünf weg waren, waren nur Shaike, Dov, Peretz und ich übrig in dem Apartment, das plötzlich so leer wirkte.« Es war eine schwierige Zeit. Die drei waren extrem besorgt über die jugoslawische Gruppe und nicht weniger über ihren eigenen Abflug. Es würde weitere zwei Wochen dauern, ehe sie wüssten, ob sie den anderen folgen oder einen blinden Sprung nach Ungarn machen würden – also einen, bei dem der Pilot keine Orientierung durch Helfer am Boden hätte.
»Gelangweilt und reizbar, verbrachten wir Stunden vor dem Radio, hörten Budapest und Bukarest. Am 19. März 1944 hörten wir in der Budapester Rundfunksendung eine merkwürdige Nachricht. Es wurde nicht ausdrücklich gesagt, aber wir verstanden, dass der Einmarsch der Nazis in Ungarn begonnen hatte. Was wir so befürchtet hatten, war eingetreten. Wir waren zu spät. Morgen oder übermorgen würden antijüdische Verordnungen verkündet; Juden würden in Ghettos gesperrt; die Vertreibungen und Vernichtungen würden beginnen. Unsere Hoffnungen, vor dem Einmarsch der Nazis Flucht und Selbstverteidigung organisieren zu können, zerschlugen sich. Nun würden wir unter der Herrschaft der Nazis agieren müssen.«
Der »einzige Lichtblick« sei nun gewesen, dass es durch die Invasion einige Tage des Chaos geben würde, die vielleicht für den Absprung genutzt werden konnten. Yoel Palgi rief den Kommandanten der Force A des britischen Geheimdienstes an, dem die Gruppe zugeteilt war. »Du musst sie dazu bringen, dass sie uns sofort gehen lassen«, verlangte Palgi. Doch der Kommandant wollte nichts ohne seinen Ansprechpartner bei der Haganah entscheiden, Zvi Yehieli. »Wir warteten. Stundenlang hingen wir herum und rauchten eine Zigarette nach der anderen; Albtraumbilder zogen durch unsere Gedanken. Es war spät, aber noch konnte man etwas tun. Alles hing von diesen wenigen Stunden ab.« Doch Zvi kam nicht:
»Er brauchte vier Tage, um Kairo zu erreichen. Er war durch eine Ausgangssperre aufgehalten worden, die die Briten über Tel Aviv verhängt hatten, nachdem die beiden abtrünnigen jüdischen Untergrundbewegungen Lehi und Irgun eine Reihe antibritischer Aktivitäten unternommen hatten. Als Zvi Kairo erreichte, war die Machtübernahme der Nazis abgeschlossen. Jugoslawien war unsere einzige Option.«
In der Serie »Nur die Sterne waren nah« bisher erschienen:
- Teil 1: Die jüdische Widerstandskämpferin Chana Szénes
- Teil 2: Hinwendung zum Zionismus
- Teil 3: Sehnsucht nach Eretz Israel
- Teil 4: Das Zertifikat
- Teil 5: Ankunft und Eretz Israel
- Teil 6: Bomben auf Haifa und Tel Aviv
- Teil 7: Im Kibbuz Sdot Jam
- Teil 8: Palmach
- Teil 9: Gyuris Flucht
- Teil 10: Union Jack und Menora
- Teil 11: Haganah gegen Hitler
- Teil 12: Abschied von Eretz Israel
- Teil 13: Hitzige Diskussionen in Kairo
- Teil 14: Schwere Stunde