In dieser Reihe stellen wir die jüdische Dichterin und Widerstandskämpferin Chana Szénes vor. Sie emigrierte 1939 als 18-Jährige von Ungarn nach Palästina, wo sie sich 1943 einer Freiwilligeneinheit des britischen Geheimdienstes anschloss, deren Ziel es war, als Fallschirmspringer über feindlichem Gebiet abzuspringen, um abgeschossene britische Piloten und Juden zu retten.
Während die Zeit zur Rettung der ungarischen Juden im Februar 1944 abläuft, entbrennt in Kairo eine Debatte darüber, wie die jüdischen Fallschirmspringer ins Zielgebiet zu bringen sind.
Bis März 1944 war Ungarn ein souveräner Staat, der freundschaftliche diplomatische Beziehungen zu Nazi-Deutschland unterhielt. Die beiden Regierungen teilten eine ähnliche Weltanschauung; Juden waren, wie in Teil 8 erwähnt, in Ungarn diskriminierenden Gesetzen unterworfen. Rund 100.000 jüdische Männer mussten Zwangsarbeit leisten, etwa 45.000 von ihnen – so der israelische Holocaustforscher Robert Rozett vom International Institute for Holocaust Research in Yad Vashem – wurden ab 1942 mit der ungarischen Armee in die besetzten Territorien der Sowjetunion geschickt. Sie sollten den Kriegsanstrengungen dienen, galten als Juden aber als unwürdig, Waffen zu tragen:
»Selbst Arbeiten wie das Fällen von Bäumen konnten grausam werden, wenn die Männer viele Kilometer mit dem frisch geschlagenen Holz auf den Schultern laufen, zurücklaufen und dies den ganzen Tag über mehrmals wiederholen mussten, während sie dabei Beschimpfungen und Schlägen ausgesetzt waren. Manche Arbeiten waren schlichtweg gefährlich wie das ungeschützte Begraben der Toten an den vordersten Frontlinien, während Kugeln von beiden Seiten der Linien an den Zwangsarbeitern vorbeiflogen.
Andere Arbeiten waren geradezu mörderisch wie das Räumen von Minenfeldern ohne vorherige Ausbildung und das bloße Ausgraben entdeckter Minen mit Stöcken. Die zugrunde liegende Idee war, dass die Männer Minen durch Treten freilegten, mit den offensichtlichen Folgen für Leib und Leben.«
Von dieser Grausamkeit habe es Ausnahmen gegeben: »Einige ungarische Soldaten und Beamte taten ihr Bestes, um den Zwangsarbeitern zu helfen, sie wie Menschen zu behandeln und ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Einige von ihnen wurden als Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet.«
Etwa achtzig Prozent der jüdisch-ungarischen Zwangsarbeiter, so Rozett, »kehrten nie nach Hause zurück, da sie Opfer von Gefechten, Krankheiten, sowjetischer Gefangenschaft und sogar Mord durch ungarische Soldaten wurden«.
Die in Ungarn verbliebenen Juden aber waren, so sie ungarische Staatsbürger waren, noch nicht unmittelbar bedroht, anders als in den von der deutschen Wehrmacht besetzten Teilen Europas. Das änderte sich schlagartig mit der deutschen Invasion Ungarns im März 1944. Juden mussten nun den gelben Stern tragen, die Bevölkerung in den ländlichen Gebieten wurde zusammengetrieben und in Ghettos genannte Areale in den Städten interniert. Dabei konnte es sich um jüdische Viertel handeln oder um einzelne Fabrikgebäude.
Insgesamt befanden sich während des Zweiten Weltkriegs rund 825.000 Juden unter ungarischer Herrschaft. Vom 15. Mai bis zum 9. Juli 1944 deportierten ungarische Gendarmeriebeamte unter der Führung deutscher SS-Offiziere rund 440.000 Juden aus Ungarn. Die meisten wurden nach Auschwitz-Birkenau gebracht, wo sie großteils nach ihrer Ankunft und einer Selektion in Gaskammern ermordet wurden.
»Israelische« Fallschirmspringer
Im Februar 1944 war Ungarn noch nicht besetzt, doch die Juden in Eretz Israel waren sich der Gefahr bewusst, in der diese schwebten; das galt besonders für Chana Szénes, deren Mutter noch in Budapest war. Insgesamt hatten sich 250 palästinensische Juden als Freiwillige für Missionen in von Deutschland besetzten Teilen Europas gemeldet. 110 wurden für eine Ausbildung ausgewählt; 32 sprangen schließlich mit dem Fallschirm über Europa ab, fünf gelangten auf anderen Wegen in die Zielländer. Diese Zahlen nennt das US Holocaust Memorial Museum in Washington.
Chana Szénes kam zusammen mit vier anderen Fallschirmspringern in Kairo an: Yoel Palgi, Abba Berdichev, Dov Berger-Harari und Shaike Dan (hier links im Bild mit Berger-Harari). Später stieß einer weitere Gruppe hinzu, darunter Yonah Rosen (ein gebürtiger Ungar aus dem Kibbuz Maagan, von dem Chana von der Mission erfahren hatte), Peretz Goldstein, der Jugoslawe Reuven Dafni und der Italiener Enzo Sereni.
Reuven Dafni sollte später noch eine wichtige Rolle in der israelischen Geschichte spielen: Er half 1948 beim Schmuggel von Waffen aus den USA zur Haganah, indem er den jüdischen Mafioso Sam Kay überzeugte, dessen Freund, den Präsidenten von Panama, dafür zu gewinnen, Schiffe und später auch Flugzeuge der Haganah bzw. Israels unter den Schutz Panamas zu stellen. Dafni lebte bis 2005. Er erinnerte sich: »Ich hatte das Privileg, im Zweiten Weltkrieg mit Chana zu dienen und monatelang durch das Land der jugoslawischen Partisanen zu ziehen, bis sie eines schrecklichen Tages die ungarische Grenze überquerte und in die Hände der Nazis fiel.«
Dafni traf Chana zum ersten Mal, als die Freiwilligen aus Eretz Israel zusammenkamen, um ihre Mission zu planen.
»Ich war damals Soldat, und da ich Jugoslawien gut kannte, wurde ich gebeten, mit ihnen zu sprechen, sie zu beraten und ihnen mitzuteilen, wo sie meiner Meinung nach am besten landen sollten, um einer Gefangennahme zu entgehen. Während meiner Sitzungen mit der Gruppe fiel mir ein Mädchen – das einzige Mädchen in der Gruppe – durch seine aufmerksame Teilnahme auf. Ich kam zunächst nicht auf die Idee, dass sie eine der Fallschirmspringerinnen war; ich nahm an, dass auch sie hinzugezogen worden war, um Informationen über eines der Länder zu geben, in die die Mission unterwegs war.«
Einige Wochen später traf er Chana in Kairo; sie habe ihn bekniet, er möge sich der Gruppe anschließen. »Ich erinnere mich noch genau, wie sehr sie mich beeindruckte. Ich kannte sie noch nicht gut und verstand auch nicht, was sie motivierte. Sie war fröhlich, heiter, scherzte mit uns allen, auch mit unserem arabischen Fahrer, verlor aber nie ihre Mission aus den Augen. Ihre Stimmungsschwankungen verblüfften mich. Mal lachte sie sich schlapp, mal brannte sie vor Begeisterung. Ich spürte, dass tief in ihrem Innern ein göttlicher Funke brannte.«
Diskussionen über den Weg
In Kairo wurden die jüdischen Fallschirmspringer vom britischen Geheimdienst in einer Privatwohnung untergebracht. Dem aus Deutschland geflohenen Juden Rudy Goldstein, der als britischer Militärarzt unter anderem in Kairo arbeitete, ist es zu verdanken, dass es Fotos von etlichen der jüdischen Freiwilligen während ihres Aufenthalts in Kairo gibt. Sie zeigen sie etwa beim Besuch der Djoser-Pyramide und im Kairoer Zoo. Zu sehen ist auch Haviva Raik, die mit Abba Berdichew, Rafael Reiss, Zvi Ben-Yaakov und Chaim Hermesh an einer Mission in der Slowakei und am slowakischen Nationalaufstand teilnahm. Sie wurde am 20. November 1944 von einer ukrainischen SS-Einheit ermordet.
Yoel Palgi beschreibt »Tage und Nächte hitziger Diskussionen« in Kairo. Die Frage war, wie die Fallschirmspringer in die Zielländer gelangen sollten. In Jugoslawien gab es Partisanen, die ganze Landstriche kontrollierten. Sie konnten den Piloten Orientierung geben, wo sie die Fallschirmspringer absetzen sollten, und die Springer nach ihrer Landung in Empfang nehmen. Der Nachteil war, dass sie anschließend noch mindestens eine Staatsgrenze überqueren mussten, was sehr gefährlich war.
Die andere Option war der »blinde Sprung« direkt ins Zielland, bei dem jedoch niemand den Piloten helfen konnte. Wie Yoel Palgi festhielt, habe er ebenso wie Chana Szenes für den »blinden Sprung« votiert:
»Zwar würden wir damit direkt in feindliches Gebiet vordringen, doch wenn wir beim Sprung nicht erwischt werden, hätten wir gute Chancen, die Zielstadt zu erreichen. Der Sprung ins Partisanengebiet war zwar sicher und Freunde würden auf uns warten, doch der Großteil Jugoslawiens befand sich in feindlicher Hand und Titos Partisanen kontrollierten nur die Berge. Wir müssten uns über die Grenze schleichen und Hunderte von Kilometern nach Budapest zurücklegen. Wir wussten weder, wie die Bedingungen in Ungarn waren, noch, ob unsere Dokumente dort noch gültig sein würden.«
Noch während der Debatte legten die Briten ein Veto gegen den »blinden Sprung« ein; man könne sich nicht darauf verlassen, dass die Piloten das Ziel finden würden: »Um ihren Standpunkt zu untermauern, berichteten sie, sie hätten am Vorabend des jüdischen Neujahrs zwei palästinensische Fallschirmspringer über Rumänien in einer Stadt abgesetzt, die etwa sechzig Kilometer vom Ziel entfernt war. Beide wurden gefangen genommen.«
In der Serie »Nur die Sterne waren nah« bisher erschienen:
- Teil 1: Die jüdische Widerstandskämpferin Chana Szénes
- Teil 2: Hinwendung zum Zionismus
- Teil 3: Sehnsucht nach Eretz Israel
- Teil 4: Das Zertifikat
- Teil 5: Ankunft und Eretz Israel
- Teil 6: Bomben auf Haifa und Tel Aviv
- Teil 7: Im Kibbuz Sdot Jam
- Teil 8: Palmach
- Teil 9: Gyuris Flucht
- Teil 10: Union Jack und Menora
- Teil 11: Haganah gegen Hitler
- Teil 12: Abschied von Eretz Israel
- Teil 13: Hitzige Diskussionen in Kairo