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»Nur die Sterne waren nah.« Teil 12: Abschied von Eretz Israel

Chana Szenes bei einem Purim-Fest (ca. 1937) als ungarische Soldatin verkleidet
Chana Szenes bei einem Purim-Fest (ca. 1937) als ungarische Soldatin verkleidet (Quelle: Facebook)

In dieser Reihe stellen wir die jüdische Dichterin und Widerstandskämpferin Chana Szénes vor. Sie emigrierte 1939 als 18-Jährige von Ungarn nach Palästina, wo sie sich 1943 einer Freiwilligeneinheit des britischen Geheimdienstes anschloss, deren Ziel es war, als Fallschirmspringer über feindlichem Gebiet abzuspringen, um abgeschossene britische Piloten und Juden zu retten.

Über Nahal, wo Chana Szénes zwei Jahre lang gelebt hatte, findet das Fallschirmspringertraining statt. David Ben-Gurion gibt letzte Worte auf den Weg, und Chana trifft ihren Bruder wieder, ehe sie mit anderen Freiwilligen zur Geheimdienstausbildung nach Kairo abreist.

Als Sergeant Yoel Palgi an einem regnerischen Tag Anfang Januar 1944 von Kairo aus kommend in Tel Aviv eintraf, hatte er eine halbe Stunde Zeit, ehe er weiterreisen musste zum britischen Flugplatz David Heights in der Nähe von Nazareth, wo er in ein Flugzeug steigen würde, um seinen ersten Fallschirmsprung zu absolvieren. Er ließ sich zur Redaktion der hebräischen Tageszeitung Davar fahren, die ihren Sitz in einem heruntergekommenen Gebäude hatte, wo er seinen Freund Zvi Yehieli von der Haganah treffen wollte, wie er in seinen Memoiren berichtete: 

»Ich stieg eine enge Treppe hinauf, die zu einem kleinen Raum unter dem Dach führte. Dort saß ein Mädchen in RAF-Uniform im Dämmerlicht mit gekreuzten Beinen hinter einem kleinen Tisch. Ich fragte nach Zvi. ›Er kommt bald zurück‹, sagte sie. Ich zündete mir eine Zigarette an und blickte verstohlen zu ihr. Sie war groß, hatte feine Gesichtszüge, blaue Augen und welliges, dunkelbraunes Haar. Das Blaugrau ihrer Uniform betonte die Farbe ihrer Augen. Sie hatte etwas Gewinnendes an sich.

Zvi kam herein. Überrascht, mich zu sehen, überschüttete er mich mit Fragen. Wie bin ich hierhergekommen? Wann würde ich weiterfahren? Das Mädchen musterte mich neugierig, sprang dann plötzlich auf und fragte mit einem Lächeln im Gesicht: ›Bist du Yoel?‹ – Ich blickte zurück. Ich wusste es. Sie war die Richtige! Mit einem Schlag verflog die ganze Beklemmung dieses Tages. ›Und du bist Chana?‹«

»Wie, ihr habt einander noch nicht getroffen?«, fragte Zvi. Chana wollte wissen, ob Yoel bis zum nächsten Tag in Tel Aviv bleiben werde.

»Ich erinnerte mich an das Auto, das draußen auf mich wartete. ›Nein‹, platzte es aus mir heraus. ›Ich werde [Fallschirm] springen.‹ Sie musste das Zittern in meiner Stimme bemerkt haben. ›Ich habe es schon gemacht. Es ist gar nicht so schlimm. Es kann sogar aufregend sein. Ich werde nie vergessen, wie Nahalal von oben aussieht.‹ Sie sprach so einfach, als wäre Fallschirmspringen das Natürlichste der Welt. Ich war beschämt. Wenn sie springen konnte, konnte ich es auch. Wenn sie ihre Angst überwunden hatte, musste ich meine überwinden. Ich machte mich in Hochstimmung auf den Weg, wohl wissend, dass Chana Szénes, das begabte junge Mädchen, von dem ich schon so viel gehört hatte, mich auf der langen Reise begleiten würde.«

Die Briten legten bei den jüdischen Freiwilligen für die Mission in Ungarn und auf dem Balkan Wert auf zwei Dinge: Fallschirmspringen und das Übermitteln von Nachrichten. Sie würden dem britischen Geheimdienst Informationen über die Stärke der feindlichen Truppen, Truppenbewegungen, den Standort von Fabriken und Brücken übermitteln. Dann würden sie jüdischen Widerstand organisieren, Rettungszentren einrichten und Routen erkunden, die abgeschossene alliierte Piloten nutzen konnten. Erst dann würden sie sich um die Flucht von Juden in von Partisanen gehaltenes Gebiet kümmern. Das schien Anfang 1944 noch möglich. In Ungarn gab es noch rund eine Million Juden; Reste jüdischer Gemeinden existierten noch in der Slowakei, Rumänien und Bulgarien.  

Der Sprung aus dem Flugzeug

Das Morsen mit dem sechzig Kilogramm schweren Sender würde später in Kairo geübt werden; in Palästina ging es um den Absprung aus der Luft. Seinen ersten Sprung unternahm Palgi mit drei anderen zusammen:

»Wir saßen zu viert auf der Bank: Abba Berdichev, Dov Berger-Harari, Shaike Dan und ich. Wir trugen Overalls, Fallschirme um den Oberkörper geschnallt und Helme aus dickem Gummi auf dem Kopf. Der Mann, der den Helm vor mir getragen hat, hatte darauf geschrieben: Folg mir nicht, ich bin verrückt! … Der Ausbilder versuchte, eine entspannte Atmosphäre zu schaffen, als wäre ein Sprung vom Himmel etwas ganz Alltägliches. ›Seht, wie schön das ist!‹ Wir schauten hin. Die landwirtschaftliche Siedlung Nahalal lag ausgebreitet unter uns. Doch wir hatten keine Zeit, ihre Schönheit zu genießen, denn gerade in diesem Moment erhielten wir das Signal zum Sprung. 

Wir lächelten gezwungen. Niemand wollte zugeben, dass ihm das Herz klopfte. Mir war schlecht. Meine Hände zitterten und meine Zähne klapperten. Einen Sekundenbruchteil lang dachte ich: Warum nicht sagen, dass ich krank bin und morgen springe? Das rote Licht ging an und wir drängten uns um die offene Tür. Ich spannte meine Muskeln an, um mein Zittern zu verbergen, und zwang mich, nicht mehr zu denken. Ich konnte den Blick nicht von dem roten Licht abwenden. Plötzlich erlosch es und wurde durch grünes Licht ersetzt. Ein gebrülltes ›Los!‹ drang an meine Ohren; meine geübten Hände und Füße folgten scheinbar von selbst. Ich sprang! 

Die Luft traf mich, und mein Herz schmolz dahin. Ich schwebte im Raum ohne Gefühle und Gedanken. … Die dünne Schnur, die vom Flugzeug hinter mir herzog, war meine einzige Verbindung zur Realität. Ich zog den Fallschirm aus seiner Hülle und riss ihn los. Ich schwebte zwischen zwei Welten, befreit, mein eigener Herr, allein in der Leere. Als ich durch die Luft glitt, sahen die Häuser aus wie Streichholzschachteln, die Menschen wie Insekten. Die enorme Last, die Todesangst, verschwand, und Glück erfüllte mich. Warmes Blut strömte durch meine Glieder, und ich sah Dov aus der Ferne winken. Ich schrie vor Freude. Ich war gesprungen!«

Das Training in der Fallschirmspringerschule sei hart gewesen, schreibt Palgi, und jeder neue Sprung mit Angst verbunden, auch für diejenigen, die schon oft gesprungen waren. 

Die drei Affen

Dann kam das Training an sein Ende und Tage und Nächte intensiver Vorbereitung begannen:

»Es gab geheime Treffen mit britischen Geheimagenten und mit Juden, die dem Inferno entkommen waren und es nach Palästina geschafft hatten, dem britischen Verbot jüdischer Einwanderung nach Palästina zum Trotz. Es waren die Treffen mit diesen Entkommenen und ›illegalen Einwanderern‹, die jegliche aktuellen Informationen lieferten, die wir bekommen würden, ehe wir in die Länder zurückkehrten, in denen wir geboren waren.«

Die Freiwilligen mussten zunächst viel über das dortige Leben lernen. Zudem erhielten sie Namen und Adressen von Menschen, die ihnen helfen würden. 

Zvi Yehieli arrangierte informelle Gespräche mit den Führern des Jischuw, die in deren Privatwohnungen oder im geheimen Hauptquartier der Haganah im Keller des Gebäudes der Gewerkschaft Histradut stattfanden. Sie trafen David Ben-Gurion und Golda Meir, Eliahu Golomb, den Gründer und Leiter der Haganah, Leiter der Histadrut und einer der Leiter des Mossads le Alija Bet, der für die heimliche Einwanderung von Juden nach Palästina zuständig war, sowie Ben-Gurions Vertraute Berl Katznelson und David Remez. Die Freiwilligen hätten an diese Führer zwei brennende Fragen gehabt, schreibt Palgi: 

»Was ist unsere Mission, unsere Hauptaufgabe, und was ist euer letztes Wort, euer Segen, für diesen Weg? Auf diese Fragen erhielten wir diese Antworten: ›Lehrt die Juden zu kämpfen!‹, sagte Golomb. ›Macht den Juden klar, dass Palästina, das Land Israel, ihr Land und ihre Zuflucht ist‹, sagte Ben-Gurion. Golda Meir, die starke Frau, weinte. Sie wusste, dass nicht alle von uns zurückkehren würden. ›Rettet Juden‹, sagte Katznelson, ›der Rest später. Wenn keine Juden überleben, werden das Land Israel und das Unternehmen des Zionismus ebenfalls zugrunde gehen‹.«

Diese Treffen, so Palgi, hätten die Freiwilligen mit einem Sendungsbewusstsein erfüllt, sie aber gleichzeitig mit Beunruhigung zurückgelassen, da sie das Gefühl gehabt hätten, dass die Beteiligten an der Operation zu sorglos gewesen seien, was die Geheimhaltung betraf, und sich der tödlichen Gefahr nicht bewusst.

»Einer von uns, ich erinnere nicht mehr, wer, sah in einem Souvenirshop in der Dizengoff-Straße zufällig Statuetten der drei mythischen Affen. Wir kauften ein Dutzend und bei jedem Treffen ließen wir eine auf dem Tisch zurück als Warnung: Höre nichts! Sehe nichts! Sage nichts! In die verbleibenden Statuetten ritzten wir unsere Namen als Andenken. Während ich diese Zeilen schreibe, blicke ich auf diese drei Affen, die immer noch in meinem Besitz sind, und auf die Unterschriften meiner Freunde. Von den fünfen, die unterschrieben haben, sind nur noch zwei am Leben.«

Willkommen und Abschied

Bevor Chana Szénes Palästina verließ, traf sie sich noch einmal mit ihrer Freundin Miryam Yitzhaki aus ihrer Zeit in Nahalal und überreichte ihr ein Notizbuch, auf dem »Hagar« stand – Chanas Codename bei der Mission. In dieses Notizbuch hatte sie ihre hebräischen Gedichte geschrieben. Alle, die an der Mission teilnahmen, versuchten, möglichst viele Eindrücke von Palästina in sich aufzunehmen. Sie wussten nicht, wann sie es wiedersehen würden. Chana vertraute Yoel Palgi an, dass sie sich um ihre Mutter sorgte, die noch in Budapest war. Ihr Bruder Gyuri war auf dem Weg von Spanien nach Palästina. 

Am 3. Februar, dem geplanten Tag der Abreise nach Kairo, kam Gyuri an Bord der S. S. Nyasa von Cadiz aus in Haifa an. Dort musste er, wie alle Passagiere, in die Quarantäne im Internierungslager Atlit. Wohl, weil sie Teil einer wichtigen britischen Mission war – und vielleicht auch dank Yoel Palgi, dem Offizier –, gelang es Chana, ihren Bruder in kürzester Zeit aus Atlit herauszuholen, was normalerweise Wochen gedauert hätte.

Die Abreise wurde um einen Tag verschoben, sodass die Geschwister den Tag in Tel Aviv verbringen konnten. Chana sei aufgeregt gewesen, als sie ihren Bruder zum ersten Mal, seit sie ihn fast fünf Jahre zuvor im April 1939 gemeinsam mit ihrer Mutter in Lyon besucht hatte, wiedersah »und weinte wie ein kleines Mädchen, ganz anders als die kräftige junge Frau, die wir kannten«, so Palgi. Kurz darauf musste sich Chana von ihrem Bruder verabschieden. Es ging nach Kairo. Palgi erinnerte sich an die Autofahrt:

»Die strahlend weißen Häuser der jüdischen Siedlungen wichen tristen arabischen Dörfern. Wir alle spürten den Ernst der Lage, aber wohl niemand mehr als Chana, die ein so komplexes persönliches Problem hinter sich ließ. Doch sie sagte nichts, während wir sangen, scherzten und uns allerlei Pläne für die Zeit nach unserer Rückkehr ausdachten. Wir beschlossen, nach Kriegsende in einem großen Bomber zurückzukehren; jeder von uns würde mit dem Fallschirm in seiner Siedlung abspringen.«

Im Auto saßen fünf jüdische Fallschirmspringer und zwei britische Fahrer. Chana übersetzte die Witze für sie, damit sie mitlachen konnten. Dann, als sie über die Grenze kamen, rief sie: »Ich will Autofahren lernen!« Die anderen protestierten, dass sie ihr Leben in Gefahr bringen würde. Doch sie sagte, der Moment sei ebenso gut wie jeder andere. Schnell habe sie das Auto im Griff und großes Vergnügen daran gehabt, erinnerte sich Palgi, auch wenn die anderen jedes Mal unruhig wurden, wenn ihnen ein Fahrzeug entgegenkam. »Sie fuhr über Stunden, ohne müde zu werden, und übergab das Lenkrad erst dann wieder dem Fahrer, als wir den Suezkanal erreicht hatten.«

In der Serie »Nur die Sterne waren nah« ist bisher erschienen:

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