Latest News

»Nur die Sterne waren nah.« Teil 11: Haganah gegen Hitler

Das Palmach-Museum in Tel Aviv. Der Palmach war die Eliteeinheit der Haganah. (© imago images/Depositphotos)
Das Palmach-Museum in Tel Aviv. Der Palmach war die Eliteeinheit der Haganah. (© imago images/Depositphotos)

Lange Zeit hatten sich die Briten dagegen gesträubt, mit der von ihnen bekämpften jüdischen Untergrundorganisation Haganah gegen die Nationalsozialisten in Europa zusammenzuarbeiten. Das ändert sich 1943. Chana Szénes muss vor einer britisch-jüdischen Auswahlkommission bestehen.

Dicke Wolken verdeckten den Himmel, als Yoel Palgi, Sergeant der britischen Armee, Anfang Januar 1944 in einem Auto saß, das auf regennasser Wüstenstraße von Kairo aus kommend Richtung Tel Aviv fuhr. Nur die Geschicklichkeit des Fahrers verhinderte, dass der Wagen in den Graben schlitterte. Palgi hatte Schmerzen vom langen Sitzen und die trübe Sicht ermüdete ihn. Die Kälte im Auto war schwer zu ertragen.

Ein unangenehmer Schauer der Vorahnung durchfuhr ihn. Bald würde er seinen ersten Sprung mit dem Fallschirm machen. Als Kind hatte er immer wieder Albträume gehabt, in denen er ins Nichts fiel. Die abergläubische Angst vor schlechten Omen, die er während seiner Zeit an der Front in Nordafrika bekommen hatte, überwältigte ihn von Zeit zu Zeit. »Wir brausten weiter nach Tel Aviv«, erinnerte er sich später in seinen Memoiren:

»Der strömende Regen hüllte alles in Traurigkeit, und je näher wir der Stadt kamen, desto deprimierter wurde ich. Gedankenfetzen schossen mir durch den Kopf: Ich gehe zur Fallschirmspringerschule … morgen oder übermorgen werde ich zum ersten Mal aus einem Flugzeug springen … der Fallschirm wird sich nicht öffnen … er wird sich nicht öffnen … er wird sich nicht öffnen … ich werde fallen … fallen … fallen … fallen. Und dieses Mal werde ich nicht aufwachen, wie in den Albträumen meiner Kindheit, in denen ich sprang – immer wachte ich im letzten Moment auf, bevor meine Füße den Boden berührten, mit klopfendem Herzen, aber lebendig, lebendig!

Ich wusste, dass ich niemandem von meiner Angst erzählen durfte und es keinen Ausweg gab. Ich war nicht mehr mein eigener Herr. Man hatte mir eine Mission anvertraut. Wenn ich versage, würden wir alle beschämt werden und leiden. Und wer wusste, wohin das führen würde? Ich wiederholte fieberhaft: ›Er geht nicht auf … er geht nicht … ich muss springen! Ich werde springen und zerschmettert werden. Dann holen sie jemand anderen für den Job und es wird nicht meine Schuld sein …‹.«

Yoel Palgi wurde 1918 als Emil Nuszbacher in Klausenburg in Siebenbürgen geboren, das auf Ungarisch Kolozsvár und auf Rumänisch Cluj heißt und damals noch nicht zu Rumänien gehörte, sondern zu Österreich-Ungarn. Mit vierzehn Jahren hatte er sich einer linken zionistischen Organisation angeschlossen. 1939, im selben Jahr wie Chana Szénes, war er nach Palästina ausgewandert, zusammen mit seinem Freund Peretz Goldstein, dessen ungarischer Vorname Ferenc war. 1941 gehörten beide zu den Gründungsmitgliedern des Kibbuz Maagan am See Genezareth, wie auch der ebenfalls aus Siebenbürgen stammende Yonah Rosen, geborener Gyula Rosenberg.

Im selben Jahr war Palgi einer von 11.000 Juden aus Palästina, die sich der britischen Armee anschlossen. Eine eigene Einheit für sie gab es damals noch nicht; die Jüdische Brigade der britischen Armee, die unter zionistischer Flagge kämpfte, wurde erst im September 1944 gegründet. Sie umfasste mehr als 5.000 jüdische Freiwillige aus Palästina, die in drei Infanteriebataillonen und mehreren Unterstützungseinheiten organisiert waren. Bis Kriegsende würden 30.000 palästinensische Juden aufseiten der Alliierten gegen die Nationalsozialisten kämpfen.

Juden aus Palästina gegen Hitler

Yoel Palgi war ausgewählt, gemeinsam mit anderen Juden als Fallschirmspringer über dem von den Deutschen besetzten Europa abzuspringen. Ende 1942 hatte der Jischuw Kenntnisse von der organisierten Massenvernichtung der Juden in Europa. Am 19. April 1943 begann im Warschauer Ghetto, aus dem bereits 300.000 Juden deportiert worden waren, ein bewaffneter Aufstand unter der Leitung von Mordechaj Anielewicz, der 24 Jahre alt und damit zwei Jahre älter als Chana Szénes war. Dieser größte Akt des Widerstands von Juden im besetzten Europa dauerte bis zum 16. Mai 1943. Fast alle Aufständischen wurden getötet.

Innerhalb der Jewish Agency in Palästina wurde damals der Vorschlag diskutiert, die gesamte, 1941 gegründete Eliteeinheit Palmach nach Europa zu schicken, um den jüdischen Widerstand zu organisieren. Yoel Palgi schreibt in seinen Memoiren:

»Die Idee, jüdische Agenten hinter die feindlichen Linien zu schicken, wurde in der politischen Abteilung der Jewish Agency und in der Haganah entwickelt. Die Idee war, Kontakt zu den Juden Europas aufzunehmen, ermutigende Nachrichten über das kämpfende jüdische Palästina zu überbringen und eine Widerstandsbewegung zu gründen oder anzuführen.«

Dies schien möglich, so Palgi, da die jüdische Gemeinschaft in Palästina damals über eine große Zahl junger Männer und Frauen verfügte, die in jenem Teil Europas geboren und aufgewachsen waren, der nun von der Wehrmacht besetzt war: »Sie kannten die Sprachen und Bräuche, waren mit den geografischen und politischen Bedingungen des besetzten Europas vertraut und konnten sich möglicherweise unauffällig hinter die Linien begeben.«

Dieser Plan konnte jedoch nur mit der Zusammenarbeit der Briten umgesetzt werden: »Die Haganah konnte unmöglich allein Agenten ausbilden, ausrüsten und in feindliches Gebiet schicken oder mit ihnen in Kontakt bleiben, wenn sie dort ankamen. Wir mussten die Alliierten davon überzeugen, dass wir zur Kriegsanstrengung in Europa beitragen konnten und wir ihre Sache unterstützen würden, erlaubten sie uns, unsere eigene zu unterstützen.«

Rettung alliierter Piloten

Lange Zeit hatten sich die Briten dem Gedanken, mit der von ihnen im Mandatsgebiet Palästina bekämpften Haganah zusammenzuarbeiten, verweigert. Durch die Niederlagen der deutschen Wehrmacht in El-Alamein (1942) und Stalingrad (1942/1943) sowie die alliierte Landung in Italien (1943) hatte sich die strategische Lage grundlegend geändert. Nun war eine groß angelegte Invasion des europäischen Festlands im Bereich des Möglichen. Dafür brauchte es auch Saboteure hinter den feindlichen Linien, Spione sowie Routen, um abgeschossene Piloten aus dem Feindesland zurückzuholen. Letzteres war besonders wichtig, da durch die Landung in Italien die strategisch bedeutsamen rumänischen Raffinerien in Reichweite der alliierten Bomber gerückt waren. Zudem überstieg die Produktion von Flugzeugen bei den Alliierten die Zahl der verfügbaren Piloten.

Im Februar 1943 hatte Yonah Rosen den Kibbuz Sdot Jam besucht und Chana Szénes gefragt, ob sie bei einer Mission zur Rettung der europäischen Juden mitmachen würde.

Im Dezember 1943 erhält Chana ihre militärische Grundausbildung beim Palmach (eine kuriose Situation, denn die britische Armee im Mandatsgebiet Palästina betrachtet die Palmach weiterhin als Feind, beschlagnahmt bei Razzien Waffen und verhaftet ihre Mitglieder). Yigal Alon, einer der Gründer des Palmach, beschrieb das Training 1946 einmal so:

»Der Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung der Fähigkeit, schnell zu reagieren, klar und logisch zu denken, die Waffen optimal einzusetzen, die natürlichen Bedingungen (Gelände, Dunkelheit usw.) voll auszunutzen und sowohl als Einzelperson als auch als Mitglied der Gruppe zu agieren. All dies erforderte natürlich maximale körperliche Fitness und geistige Bereitschaft und wird durch direkte Unterweisung um den Wert bestimmter moralischer Eigenschaften ergänzt – insbesondere bewusste Disziplin, Verantwortung, Kameradschaft und Sinn für Sache und Zweck.«

Die Grundausbildung dauert 37 Tage und zwanzig Nächte und umfasst fünfzehn Tage Märsche sowie das Erlernen und Einüben von Hinterhalt und Infiltration, Durchsuchungen von Personen, Sichern eines Gebiets, Guerillatechniken und einiges mehr.

Vor der Auswahlkommission

Chana Szénes wird von einer gemeinsamen Kommission aus britischen Offizieren und (inoffiziellen) Vertretern der Haganah interviewt. Beschrieben ist dies in der wichtigen Chana-Szénes-Biografie von Anthony Masters, The Summer that Bled, die 1972, noch zu Lebzeiten ihrer Mutter Katharina und ihres Bruders Gyuri erschien. Die britische Armee wird durch Oberstleutnant Hunloke, Staffelführer Taylor und Oberstleutnant Simonds vertreten; die Haganah durch den Vorsitzenden der Jewish Agency David Ben-Gurion und Saul Avigur, den Kommandeur des Mossad le-Alija Bet, der die illegale Einwanderung von Juden nach Palästina organisierte. Chana Szénes weiß nicht, welche Art von Fragen sie zu erwarten hat.

Hunloke weist zunächst darauf hin, dass sie sich freiwillig für ein besonders gefährliches Unternehmen gemeldet habe. Dann bittet er sie, ihm zu erzählen, was sie darüber wisse. Chana antwortet, dass ihres Wissens nach eine Hilfsmission geplant sei, bei der eine Anzahl Juden hinter den deutschen Linien in Europa abgesetzt werden sollten. »Taktvoll«, so Masters,

»fuhr sie fort, dass die oberste Priorität der Mission darin bestehe, Kontakt zu Gruppen lokaler Partisanen aufzunehmen und mit ihnen abgeschossene alliierte Flieger zurück in den Westen zu bringen und gleichzeitig so viele Informationen wie möglich über den Verlauf des Krieges einzuholen. Nach Abschluss dieser Mission – und erst dann – seien die Gruppen frei, einige Fluchtrouten für jüdische Flüchtlinge einzurichten. Hunloke lächelte, während Ben-Gurion und Avigur ihr Bestes taten, um ihre Frustration zu verbergen.«

Dann übernimmt Colonel Simonds das Gespräch und fragt Chana gelassen, wie sie, sofern ihr Antrag erfolgreich sei, nach Europa zurückkehren wolle. Sie antwortet, die einzigen beiden möglichen Transportmittel seien entweder das U-Boot oder das Flugzeug, und da die Royal Air Force durch Geschwaderführer Taylor sichtbar vertreten, die Marine hingegen nicht anwesend sei, sei es nicht schwierig, das Transportmittel zu erraten. »Diese Schlussfolgerung«, schreibt Masters, »verärgerte die Briten, amüsierte die Juden und veranlasste Hunloke möglicherweise dazu, die gewaltigste Frage des Treffens zu stellen«. Hunloke sagt, er habe gehört, dass Chanas Mutter in Budapest lebe. Chana bejaht. Wie sie sich entscheiden würde, fragt Hunloke, hätte sie die Wahl, das Leben ihrer Mutter oder das von zwanzig britischen Soldaten zu retten? Chana antwortet, sie wisse, dass ihre Mutter ihr die Entscheidung verzeihen würde, die sie treffen müsse.

»In Wirklichkeit«, so Masters,

»war es schwierig zu sagen, was Katharina gedacht oder was Chana getan hätte, aber bei diesem Gespräch kam die Bemerkung sehr gut an. Hunloke, Taylor und Simonds gegenüber zeigte sie eine Mischung aus kompromissloser Loyalität gegenüber dem Mandat, die sie bei einem Juden sowohl überraschend als auch anrührend fanden. Aus Sicht von Ben-Gurion und Avigur, die bereits erfahrene Staatsmänner waren, zeigte sie die erschütternde Naivität eines Menschen, der gerade sein eigenes Todesurteil unterschrieben hatte.«

In der Serie »Nur die Sterne waren nah« ist bisher erschienen:

Bleiben Sie informiert!
Mit unserem wöchentlichen Newsletter erhalten Sie alle aktuellen Analysen und Kommentare unserer Experten und Autoren.

Zeigen Sie bitte Ihre Wertschätzung. Spenden Sie jetzt mit Bank oder Kreditkarte oder direkt über Ihren PayPal Account. 

Mehr zu den Themen

Das könnte Sie auch interessieren

Wir reden Tachles!

Abonnieren Sie unseren Newsletter und erhalten Sie alle aktuellen Analysen und Kommentare unserer Experten und Autoren!

Nur einmal wöchentlich. Versprochen!