Chana Szénes schreibt ihrem Bruder einen Abschiedsbrief. Kurze Geschichte der jüdischen Einheiten in der britischen Armee.
Am 12. Juni 1943 genehmigt der Kibbuz Chana Szénes’ Einberufung in die britische Armee. Von einer Mission weiß niemand etwas. Den Sommer verbringt sie mit Fortbildungskursen, darunter ein vierwöchiges Seminar der Arbeiterjugend im Rutenberg-Haus in Haifa (das noch heute eine Bildungsstätte ist).
Im Dezember wird sie nach Tel Aviv beordert, um ihr Militärtraining zu beginnen. Vorher besucht sie ihre inzwischen enge Freundin Miryam und bittet sie, ihre Habseligkeiten aufzubewahren, zusammen mit einem Brief für ihren Bruder Gyuri. Da weiß sie noch nicht, dass sie Anfang Februar 1944 bei Gyuris Ankunft in Haifa immer noch in Palästina sein wird, sodass sie ihm den Brief selbst wird geben können. Sie schreibt:
»Gyuri, ich muss dir etwas erklären. Ich muss mich entlasten. Ich muss mich auf den Moment vorbereiten, wenn du die Grenzen von Eretz [Israel] erreichst, auf den Moment wartest, wenn wir uns nach sechs Jahren wiedersehen und du fragen wirst: ›Wo ist sie?‹ und sie abrupt antworten werden: ›Sie ist nicht hier.‹ Ich frage mich, wirst du das verstehen? Ich frage mich, wirst du glauben, dass es mehr als ein kindlicher Wunsch nach Abenteuer, mehr als jugendliche Romantik war, die mich angezogen hat? Ich frage mich, wirst du das Gefühl haben, dass ich nicht anders konnte, dass dies etwas war, das ich tun musste?«
Was »dies« ist, sagt der Brief – wohl aus Gründen der Geheimhaltung – nicht; das würde man ihrem Bruder beizeiten erklären, falls Chana nicht zurückkäme. Im zweiten Teil des Briefes bereitet sie ihn auf das Leben in Eretz Israel vor. Sie will ihn, wie sie schreibt, »nicht beeinflussen«, aber sagen, wie sie es sieht:
»Zuerst einmal – ich liebe es. Ich liebe seine hundert Gesichter, seine hundert Klimazonen, sein facettenreiches Leben. Ich liebe das Alte und das Neue an ihm; ich liebe es, weil es unseres ist. Nein, nicht unseres, aber weil wir uns selbst glauben machen können, es wäre unseres. Und ich respektiere es.
Nicht alles. Ich respektiere die Menschen, die an etwas glauben, respektiere ihren idealistischen Kampf mit der alltäglichen Realität. Ich respektiere diejenigen, die nicht nur für den Augenblick oder für Geld leben. Und ich glaube, es gibt hier mehr solche Menschen als irgendwo sonst auf der Erde. Und schließlich glaube ich, dass dies die einzige Lösung für uns ist, und aus diesem Grund zweifle ich nicht an seiner Zukunft, obwohl ich glaube, dass sie sehr schwierig und von Kampf geprägt sein wird.«
Was den Kibbuz betreffe, so sei er »nicht perfekt« und werde wahrscheinlich mehrere Phasen durchlaufen. »Aber unter den heutigen Bedingungen passt er am besten zu unseren Zielen und ist am nächsten an unserem Konzept eines Lebenswegs, daran habe ich gar keine Zweifel.« Was das Land brauche, seien »Menschen, die mutig und ohne Vorurteile« sind, die »für sich selbst denken und keine veralteten Ideen akzeptieren«.
Es sei leicht, Gesetze zu erlassen; schwieriger, danach zu leben. »Am schwierigsten ist es jedoch, sich selbst Gesetze aufzuerlegen und dabei ständig selbstkritisch und wachsam zu sein. Ich denke, das ist die höchste Form der Durchsetzung von Gesetzen und zugleich die einzig gerechte. Und nur diese Form von Gesetzen kann ein neues, zufriedenes Leben aufbauen.«
Sie stelle sich oft die Frage, was das Schicksal des Kibbuz sein wird, »wenn die Magie und die Neuheit des Aufbaus und des Schöpferischen« sich abgenutzt hätten, »wenn der Kampf ums Dasein Wirklichkeit wird und – nach Plan – zu einem organisierten, von Überfluss geprägten Gemeinschaftsleben wird. Was wird der Antrieb der Menschen sein, was wird ihr Leben erfüllen? Ich kenne die Antwort nicht. Aber dieser Tag liegt so weit in der Zukunft, dass es am besten ist, an bestehende Dinge zu denken.«
Ihr Bruder solle nicht glauben, dass sie »alles durch eine rosa Brille« sehe, so Chana weiter. »Mein Vertrauen ist eine subjektive Sache und nicht das Ergebnis äußerer Bedingungen. Ich sehe die Schwierigkeiten deutlich, sowohl im Innern als auch im Äußern. Aber ich sehe die gute Seite und vor allem, wie gesagt, denke ich, dass es der einzige Weg ist.«
Als Chana Szénes den Brief am 25. Dezember 1943 schreibt, weiß sie weder, wann ihr Bruder ankommen noch, wann sie Eretz Israel verlassen wird. Über ihre Mission sagt sie nichts – außer dem Postskriptum: »Ich habe diesen Brief zu Beginn des Fallschirmspringerkurses geschrieben.«
Jüdische Einheiten in der britischen Armee
Die Geschichte jüdischer Einheiten in der britischen Armee begann 1915 an den Dardanellen mit der Schlacht von Gallipoli, einem der größten Gemetzel des Ersten Weltkriegs. Bei dem gescheiterten britischen Versuch einer Invasion des türkischen Festlands an der Halbinsel Gallipoli starben in weniger als einem Jahr mehr als 100.000 Soldaten auf beiden Seiten. Die Zahl der Verwundeten lag bei mehr als 250.000. Mittendrin: das Zion Mule Corps, eine jüdische Transporteinheit mit Maultieren, die Wasser, Proviant und Munition vom Strand zur Front brachte und auf dem Rückweg Verwundete beförderte.
Es erhielt Lob und Auszeichnungen von den britischen Behörden. Nach dem Ende der Dardanellen-Kampagne wurde das Korps aufgelöst, aber viele derjenigen, die maßgeblich an seiner Gründung beteiligt waren, wünschten, dass es in irgendeiner Form weitergeführt würde, insbesondere die jüdischen zionistischen Mitgründer Wladimir Jabotinsky und Joseph Trumpeldor. In London stießen sie jedoch auf Desinteresse und wütenden Widerstand, insbesondere vonseiten antizionistischer Juden.
Die Stimmung drehte, als Ende 1916 hundertzwanzig ehemalige Soldaten des Zion-Maultier-Corps, die sich erneut freiwillig zur britischen Armee gemeldet hatten, in London eintrafen. Als Einheit dem 20. Londoner Bataillon zugeteilt, bildeten sie den Kern der späteren jüdischen Legion. Jabotinsky meldete sich als einfacher Soldat in diesem Bataillon und reichte gemeinsam mit Trumpeldor bei der britischen Regierung eine Petition ein, in der die Gründung einer jüdischen Legion für Palästina vorgeschlagen wurde.
Aus Sicht der Regierung sprach dafür, dass es in Großbritannien eine feindliche Stimmung gegenüber den im Lande befindlichen russischen Juden gab, die, wie es hieß, nichts zu den Kriegsanstrengungen beitrügen. Im Juli 1917 wurde John Henry Patterson, ein protestantischer Ire, der schon Kommandant des Zion-Maultier-Corps gewesen war, vom Kriegsministerium angewiesen, mit der Organisation des jüdischen Regiments zu beginnen, und Jabotinsky wurde mit der Rekrutierung beauftragt. Am 23. August wurde die Gründung eines jüdischen Regiments offiziell in der London Gazette angekündigt.
Von den Plänen, dass es sichtbar jüdisch sein sollte, wurde aufgrund der Einwürfe antizionistischer Juden zunächst abgerückt. Die Einheit erhielt die Bezeichnung 38. Bataillon der Royal Fusiliers. Die eine Hälfte seiner Soldaten bestand aus Briten, die andere aus ehemaligen Mitgliedern des Zion-Maultier-Corps, russischen Juden und anderen Ausländern.
Am 2. Februar 1918 marschierte das Bataillon mit aufgepflanzten Bajonetten durch die City von London, ein Sonderprivileg, das der Lord Mayor gewährt hatte und zeigte, dass es sich um eine echte Kampfeinheit handelte. Am folgenden Tag wurde es nach Ägypten verschifft, wo es seine Ausbildung fortsetzte. Ende April schloss sich ihm das 39. Bataillon der Royal Fusiliers an, das zum großen Teil aus amerikanischen Freiwilligen bestand und von Oberstleutnant Eliezer Margolin kommandiert wurde.
Für die Rekrutierung wurde die berühmte britische Werbekampagne mit dem Porträt des Kriegsministers Lord Kitchener und dem unvollständigen Satz »Wants you (die es in den USA in sehr ähnlicher Form mit dem ausgestreckten Zeigefinger der allegorischen Figur des Uncle Sam gab) auf Juden zugeschnitten. Nun war es die Allegorie Tochter Zion (Bat Zion), die den Zeigefinger ausstreckte und dem Leser zurief: »Euer Altneuland [der Judenstaat in Theodor Herzls gleichnamigem utopischen Roman; Anm. Mena-Watch] braucht euch! Schließ dich dem Jüdischen Regiment an.«
Verteidigung Jerusalems
Von Juni bis zur Kapitulation des Osmanischen Reichs Ende Oktober war das Bataillon zur Verteidigung Jerusalems eingesetzt, um zu verhindern, dass die Türken Versuche einer Rückeroberung der im Dezember 1917 von den Briten unter General Edmund Allenby eroberten Stadt unternahmen.
Mit dem 40. Bataillon wurde Anfang 1918 auch eines gegründet, das nur aus palästinensischen Juden bestand. Darüber gab es im Jischuw, der jüdischen Gemeinde Palästinas, Kontroversen. Die Gegner propagierten den Zionismus als ein pazifistisches Projekt sozialistischer Landwirtschaft, das nicht mit imperialistischen Kriegen vereinbar sei. Zudem fürchtete man, dass dies jenen Juden schaden könne, die noch unter Herrschaft des Osmanischen Reichs standen.
Im Frühjahr 1920 wurden die ersten beiden jüdischen Bataillone bereits aufgelöst und die Überreste ihrer Soldaten schlossen sich dem palästinensischen Bataillon an. Es stand nun unter Margolins Kommando und wurde in Erstes Judäisches Bataillon umbenannt, sein Symbol war die Menora, sein Motto »Kadima« (»Vorwärts«). Es durfte aber die Juden Palästinas nicht vor arabischer Gewalt beschützen; weder bei den Nabi-Musa-Unruhen im April 1920 noch bei dem Pogrom von Jaffa im Mai 1921. Daraufhin trat Margolin im Mai 1921 zurück und das Bataillon wurde aufgelöst.
Im Zweiten Weltkrieg
Im Zweiten Weltkrieg kam die Idee einer jüdischen Einheit in der britischen Armee erneut auf, ungeachtet des Konflikts zwischen dem Jischuw und Großbritannien infolge der britischen Weißbuchpolitik, welche die jüdische Einwanderung nach Palästina auf 50.000 in fünf Jahren beschränkte. Im Juli 1940 – nach der raschen Niederlage Frankreichs und der britischen Evakuierung Dünkirchens – bekundeten in Tel Aviv Tausende jüdische Männer in einem Demonstrationszug ihre Bereitschaft, in den britischen Streitkräften gegen Hitler zu kämpfen.
Nachdem im Frühjahr und Frühsommer 1942 die ersten Berichte über die Nazi-Gräueltaten des Holocaust durch die Alliierten an die Öffentlichkeit gelangt waren, sandte der britische Premierminister Winston Churchill ein Telegramm an den US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, in dem er vorschlug, dass »die Juden … aller Rassen das Recht haben, die Deutschen als erkennbare Gruppe anzugreifen«. Roosevelt antwortete fünf Tage später mit den Worten: »Ich nehme keine Einwände wahr.« Bis zur Bildung der Jüdischen Brigade Ende 1944 vergingen jedoch noch zwei Jahre.
Chana Szénes wurde zwar Teil einer de facto jüdischen Spezialeinheit, die zu einer Mission in Ungarn aufbrach; offiziell aber war sie und die anderen Juden Soldaten der britischen Armee wie andere auch.
In der Serie »Nur die Sterne waren nah« ist bisher erschienen:
- Teil 1: Die jüdische Widerstandskämpferin Chana Szénes
- Teil 2: Hinwendung zum Zionismus
- Teil 3: Sehnsucht nach Eretz Israel
- Teil 4: Das Zertifikat
- Teil 5: Ankunft und Eretz Israel
- Teil 6: Bomben auf Haifa und Tel Aviv
- Teil 7: Im Kibbuz Sdot Jam
- Teil 8: Palmach
- Teil 9: Gyuris Flucht
- Teil 10: Union Jack und Menora