Heute vor 80 Jahren, am 7. November 1944, wurde Chana Szénes, die als Widerstandskämpferin aus dem Mandatsgebiet Palästina nach Ungarn ging, in Budapest von einem deutschen Erschießungskommando hingerichtet.
»Damals gab es kein Israel. Chana Szénes war quasi allein.«
IDF-Leutnant Ofir Adani
»Wir Fallschirmjäger waren keine Supermänner – noch Superfrauen. … Wir waren kleine, schwache, unerfahrene romantische Leute mit all den Unzulänglichkeiten des Durchschnittsmenschen. Keiner von uns war einzigartig, vielleicht mit der Ausnahme von Chana. Sie war anders … ein spirituelles Mädchen, geleitet beinahe von Mystizismus. … Ein Mädchen, das davon träumte, eine Heldin zu sein – und das eine Heldin war.«
Reuven Dafni, Teilnehmer der jüdischen Fallschirmspringermission in Ungarn 1944
»Chana Szénes arbeitete in einem Kibbuz in Eretz Israel in sicherer Entfernung vom Holocaust in Europa, doch ihr Gewissen und ihre Courage ließen ihr keine Ruhe. Sie meldete sich freiwillig für eine scheinbar aussichtslose Mission, jüdischen Widerstand gegen die Nazi-Maschinerie des Todes zu organisieren. Noch einmal, niemand drängte sie dazu, zu gehen; im Gegenteil versuchten alle ihre Freunde und Genossen, sie davon abzubringen. Chana ging, weil sie glaubte, dass eine einzige Frau einen Unterschied machen könnte.«
Simon Wiesenthal
»Ich glaube nicht, dass Chana sterben wollte, um in die Geschichte einzugehen oder um zu beweisen, dass sie einem romantischen Bild entspricht, das sie von sich selbst hat. Ihr Ziel war nicht der Tod. Sie starb für den Zweck ihres Lebens.«
US-Senator John McCain
Heute vor 80 Jahren, am 7. November 1944, wurde Chana Szénes im Alter von 23 Jahren im Hof eines Gefängnisses in Budapest von einem deutschen Erschießungskommando hingerichtet. Die in Ungarn geborene Zionistin, Kibbuzarbeiterin und Dichterin hatte sich im Mandatsgebiet Palästina freiwillig als Fallschirmspringerin zur britischen Armee gemeldet, um ungarische Juden vor dem Transport nach Auschwitz zu retten.
Furchtlos
Der Jischuw, die jüdische Gemeinde im Mandatsgebiet, hatte damals beschlossen, die britische Armee im Krieg gegen Hitler-Deutschland zu unterstützen. Chana Szénes wurde Teil der Jüdischen Brigade in den britischen Streitkräften.
Nach ihrer Einberufung in die Armee sollte sie mutmaßlich abgestürzten alliierten Piloten helfen, den Weg zurück in Sicherheit über die Front zu finden. »Ihre jüdische Mission war in Wirklichkeit eine Nebenmission, welcher der britische Geheimdienst zugestimmt hatte, nachdem die Fallschirmjäger ihre britische Mission beendet hatten«, so Judith Tydor Baumel, Professorin für zeitgenössisches Judentum an der Bar-Ilan-Universität Ramat Gan in Israel.
Szénes wurde gemeinsam mit dreiunddreißig anderen in Ägypten ausgebildet. Vom befreiten Italien aus wurde sie nächtens mit dem Flugzeug nach Jugoslawien gebracht, wo sie mit dem Fallschirm über dem heutigen Slowenien absprang. Dort schloss sie sich gemäß dem Plan jugoslawischen Partisanen an und bereitete sich darauf vor, die Grenze nach Ungarn zu überqueren.
Der damalige Haganah-Freiwillige Reuven Dafni, der mit Chana Szénes auf dieser Mission war, schrieb später:
»Ich hatte das Privileg, mit Chana zusammen während des Zweiten Weltkriegs zu dienen, als wir uns monatelang durch das Land der jugoslawischen Partisanen schleppten, bis sie an jenem schrecklichen Tag die ungarische Grenze überquerte und in die Hände der Nazis fiel.«
Sie sei furchtlos gewesen, und niemand aus der Gruppe war so überzeugt davon wie sie, dass die Mission erfolgreich sein würde.
»Kein einziges Mal dachte sie an die Möglichkeit des Scheiterns; nicht ein Mal ließ sie es zu, dass wir mutlos wurden. Sie würde uns mit eiserner Logik erklären, wie wir uns aus jeder misslichen Lage befreien könnten, und ihre innere Überzeugung würde uns beruhigen. Natürlich erlebte sie auch Momente der Entmutigung, aber aus der Tiefe ihres Wesens sprudelte immer wieder neue Kraft.
Als man uns in der Nacht des 13. März 1944 sagte, wir sollten uns zur Abreise bereit machen, war sie überglücklich. Sie sang den ganzen Weg zurück in das Dorf, in dem wir einquartiert waren, und brachte uns dazu, mitzusingen. Dieses Lied wurde im Laufe unserer Mission zum Lied unserer Gruppe.«
Chana Szénes war nicht naiv. Sie wird nicht geglaubt haben, eine kleine Gruppe würde in der Lage sein, eine Million ungarische Juden zu retten, die damals, nach dem deutschen Einmarsch, vom Tod bedroht waren. Ein Gedicht, das sie auf Hebräisch schrieb, ehe sie die ungarische Grenze überquerte, deutet auf ihre Hoffnung hin, ihr persönlicher Einsatz würde der Beginn von etwas Größerem sein:
»Gesegnet ist das Streichholz, verzehrt durch das Entzünden der Flamme.
Gesegnet ist die Flamme, die an den geheimen Orten des Herzens brennt.
Gesegnet ist das Herz, das um der Ehre willen weiß, dass es aufhören muss zu schlagen.
Gesegnet ist das Streichholz, verzehrt durch das Entzünden der Flamme.«
In der Schule zu Hause
Chana Szénes wurde am 17. Juli 1921 als Anna, genannt Anikó, Szénes in Budapest geboren. Den Namen Chana, die hebräische Version ihres Vornamens, nahm sie 1939 nach ihrer Auswanderung nach Palästina an. Im Englischen wird ihr Name meist »Hannah Senesh« geschrieben.
Ihre Familie war assimiliert, wohlhabend und genoss gesellschaftliche Anerkennung. Ihr Vater Béla Szénes, geboren unter dem Namen Schlesinger, war Feuilletonist, Autor von Kinderbüchern und Theaterkomödien und Redakteur verschiedener Zeitungen. Er starb an einem Herzinfarkt, als seine Tochter sechs Jahre alt war. Um ihren Schmerz auszudrücken, schuf Chana damals Gedichte, die sie, weil sie noch nicht schreiben konnte, von »Fini Mama«, ihrer Großmutter mütterlicherseits, aufschrieben ließ.
Chana wuchs mit ihrer Mutter Katharina und ihrem ein Jahr älteren Bruder György auf. Laut dem Zeugnis ihrer Mutter lernte sie als Kind wenig über Religion und Judentum:
»Obwohl wir uns als gute und standhafte Juden betrachteten, hielten wir es nicht für wichtig, die äußeren Formalitäten der Religion einzuhalten. Das Glaubensbekenntnis meines Mannes, sein Leitmotiv, war der Humanismus, und er betete an dessen Altar mit Taten, im geschriebenen Wort und in der Rede. So wurden die Kinder [erst] in der Schule mit den Grundlagen der Religion und des religiösen Lebens vertraut gemacht.«
Chana beteiligte sich von Anfang an in allen jüdischen Organisationen und zahlreichen freiwilligen schulischen Aktivitäten. Ihre Mutter erinnerte sich:
»Von Anfang an fühlte sie sich in der Schule zu Hause. Ihre Lehrerin in der ersten Klasse erzählte mir einmal, dass sie, musste sie die Kinder eine Weile allein lassen, Chana nur zu sagen brauchte, sie solle sich an das Pult setzen. Sie erzählte den Kindern Geschichten und fesselte ihre Aufmerksamkeit so sehr, dass sie ganz still zuhörten.«
Ab dem Alter von zehn Jahren ging Anikó in eine protestantische Mädchenschule, die kurz zuvor begonnen hatte, Nichtprotestantinnen aufzunehmen. Allerdings mussten katholische Eltern das doppelte und jüdische das dreifache Schulgeld bezahlen.
Ihren ersten Tagebucheintrag schrieb Anikó am 7. September 1934 im Alter von dreizehn Jahren:
»Heute morgen haben wir Papas Grab besucht. Wie traurig, dass wir so früh im Leben mit dem Friedhof Bekanntschaft machen. Doch ich fühle, dass Papa uns sogar von jenseits des Grabes hilft, wenn nicht auf andere Weise, so mit seinem Namen. Ich glaube nicht, dass er uns ein größeres Erbe hätte hinterlassen können.«
Unterschiedliche Interessen
Die junge Anikó hatte vielfältige Interessen, vor allem Literatur – sowohl Drama als auch Prosa und Lyrik – interessierte sie. In der Schule arbeitete sie unter anderem in der Literatur-, Bibel-, Foto- und Stenografiegruppe mit und übernahm dort Aufgaben, was ihr große Freude bereitete, auch wenn es viel Arbeit war. Daneben interessierte sie sich für Filme, über die sie in ihren Tagebucheinträgen reflektierte, und schrieb über Konzerte, die sie besucht hatte, nennt Schumann, Beethoven, Mozart, Brahms und Wagner. Obwohl sie eine intensive Zuneigung zur Musik fühlte, hielt sie sich selbst nur für mäßig begabt. Als ihre Mutter ihr mit vierzehn vorschlug, Klavierstunden zu nehmen, sagte sie dennoch ja. Am 16. September 1935 schrieb sie über ihren ersten Unterricht:
»Obwohl ich weiß, dass ich kein sehr gutes Ohr habe und niemals Musik als Beruf in Erwägung ziehen könnte, mag ich die Klaviermusik sehr und habe wirklich viel Freude an Musik. Manchmal, wenn Mama Chopin spielt, ist mir zum Weinen zumute. Es ist so unerklärlich schön und angenehm.«
Im Allgemeinen erfreue sie sich »an allen schönen Dingen«. In Budapests Museum der Schönen Künste gefiel ihr nach eigenem Bekunden alles, »vor allem aber die Gemälde von (Mihály von) Munkácsy«. Unter den bildhauerischen Werken beeindruckte sie die Statue »Unsere Mutter« von Alajos Stróbl. Gerne wäre sie mit ihrem Bruder György gemeinsam ins Museum gegangen, doch dieser interessierte der sich mehr für Sport.
Auch das politische Weltgeschehen beobachtete sie als Vierzehnjährige, wie ein Tagebucheintrag vom 4. Oktober 1935 zeigt:
»Schrecklich! Gestern ist zwischen Italien und Abessinien Krieg ausgebrochen. Fast jeder hat Angst, dass die Briten intervenieren und es in der Folge einen Krieg in Europa gibt. Schon der Gedanke daran ist furchtbar. Die Zeitungen führen schon die Toten auf. Wissen sie nicht, dass die ganze Welt immer noch unter dem Fluch des letzten Weltkriegs ächzt? Warum dieses Töten? Warum muss die Jugend auf einem blutigen Schafott geopfert werden, wenn sie der Welt so viel geben könnte, das gut und schön ist, wenn man ihr nur erlaubte, auf friedlichen Straßen zu wandeln?«
Was ihre berufliche Laufbahn angeht, erwähnte sie mit vierzehn und fünfzehn die Pädagogik und schrieb darüber, gerne eine britische Internatsschule leiten zu wollen. Ein Onkel schlug ihr vor, eine Hotelfachschule in der Schweiz zu besuchen, ein Gedanke, dem sie auch nicht völlig abgeneigt war, da sie Freude daran hatte, organisatorisch tätig zu sein.
Als Fünfzehnjährige entwickelte Anikó Interesse an der Vegetarier-Bewegung. Im August 1936 stellte sie dem Schweizer Ernährungsreformer Max Bircher-Benner in einem Brief Fragen zur vegetarischen Ernährungsweise, aber »… ich erhielt eine nichtssagende Antwort von seinem Sekretariat. Ich denke also, dass ich diesen Winter doch ein paar Mal pro Woche Fleisch essen werde; Mutter würde mir ohnehin nicht erlauben, die ganze Zeit Vegetarier zu sein.«
Die Auseinandersetzung mit ihrem jüdischen Glauben zeigt der Tagebucheintrag vom 18. September 1936:
»Es ist der zweite Tag des jüdischen Neujahrs. Gestern und heute sind wir zur Synagoge gegangen. Ich bin mir nicht ganz im Klaren, wo ich stehe. Synagoge, Religion, die Frage nach Gott. Die letzte und schwierigste Frage beunruhigt mich am wenigsten. Ich glaube an Gott, auch wenn ich nicht genau sagen kann, wie. Eigentlich bin ich mir auch über die Religion relativ im Klaren, denn der Judaismus passt am besten zu meiner Denkweise. Aber das Problem mit der Synagoge ist, dass ich sie überhaupt nicht wichtig finde und sie nicht als spirituelle Notwendigkeit empfinde; beten kann ich genauso gut zu Hause.«
Immer wieder reflektierte Anna darüber, welchen Weg im Leben sie gehen sollte. Einmal, im Frühjahr 1936, erwähnte sie einen Essay mit der Fragestellung »Kenne ich mich?«, den sie und ihre Mitschülerinnen zu schreiben hatten. Im Großen und Ganzen kenne sie sich, hielt sie fest, »so, wie das einem Mädchen meines Alters möglich ist. Aber trotzdem finde ich, dass dies eine schwierige Aufgabe ist. Ich kann mein Hauptproblem nicht genau benennen und möchte dennoch einen aufrichtigen, ehrlichen Aufsatz schreiben. Es ist wirklich ein schwieriges Thema.«