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Die New York Times und die modernisierte Ritualmordlegende

Modernisierte Ritualmordlegende in der New York Times. (© imago images/Dean Pictures)
Modernisierte Ritualmordlegende in der New York Times. (© imago images/Dean Pictures)

In einem langen Gastbeitrag präsentierte die New York Times ihre Version der Behauptung vom »Kindermörder Israel«.

Wo immer Israelhasser aufmarschieren, dürfen zwei Parolen nicht fehlen, welche die Geisteshaltung dieser Menschen prägnant auf den Punkt bringen. Die eine lautet »From the river to the sea, Palestine will be free!«, womit klar zum Ausdruck gebracht wird, dass es den Demonstranten nicht um Frieden oder Koexistenz geht, sondern schlicht um die Beseitigung Israels – auch wenn viele derer, die diese Parole brüllen, auf Nachfrage nicht einmal angeben können, von welchem Fluss und welchem Meer hier eigentlich die Rede ist.

Die andere besonders beliebte Parole lautet kurz und knapp »Kindermörder Israel!« Sie verdeutlicht die antisemitische Unterfütterung des Israelhasses: Indem behauptet wird, Israel ermorde vorsätzlich und bevorzugt palästinensische Kinder, wird »der im kulturellen Habitus verankerte Vorwurf vom rituellen Kindsmord aktiviert, der Juden im Mittelalter angedichtet wurde« und die abgrundtief bösartige Absicht des Kindermordes dem jüdischen Staat unterstellt, dem »kollektiven Juden der Nationen«, wie der Historiker Jakob Talmon es treffend formulierte.

Nur ein Schuldiger

Die Legende vom kindermordenden Israel ist freilich nicht nur vom Israelhasser-Mob auf den Straßen zu hören, sondern wird auch in weitaus respektableren Kreisen propagiert, etwa bei akademischen Konferenzen, auf denen sie »enthusiastischen Beifall« erntet, oder auf den Seiten der renommierten US-Zeitung New York Times.

Diese veröffentlichte nämlich am 9. Oktober einen umfangreichen Gast-Essay, in dem 65 Ärzte, Krankenschwestern und Rettungssanitäter berichteten, »was wir in Gaza gesehen haben«. Der Autor des Beitrags, der Unfall- und Allgemeinchirurg Feroze Sidhwa, arbeitete im Frühjahr 2024 zwei Wochen lang im Gazastreifen. Was er dort gesehen hat, habe sich deutlich von seinen früheren freiwilligen Einsätzen in der Ukraine und in Haiti unterschieden: »Fast jeden Tag, den ich dort war, sah ich ein neues Kleinkind, dem in den Kopf oder in die Brust geschossen worden war, und fast alle starben.«

Die anschließenden Zitate dutzender Ärzte, die ebenfalls im Gazastreifen tätig waren, sollten den Befund untermauern, dass Israel offenbar gezielt Kinder ins Visier nehme. Unterstellt wurde dabei, dass das in den zitierten Aussagen zum Ausdruck kommende Grauen ausschließlich Israel anzulasten sei.

Die Hamas wurde in dem langen Text nur zwei Mal am Rande erwähnt; als kämpfende Gruppierung kam sie jedoch an keiner Stelle vor, wie sie auch nirgends für die Toten oder Verletzte verantwortlich gemacht wurde. Dass sich die Terrorgruppe hinter der Zivilbevölkerung des Küstenstreifens versteckt und diese zu menschlichen Schutzschilden gemacht hat, wird ebenso wenig erwähnt wie der Umstand, dass sie sich in Krankenhäusern verschanzt, diese für ihre terroristischen Zwecke missbraucht und sogar israelische Geiseln darin festgehalten hat. Verwunderlich sind diese Auslassungen nicht: Feroze Sidhwa, der Autor des Essays, der in der Vergangenheit Beiträge auf der Hardcore-Israelhasser-Webseite Electronic Intifada veröffentlicht hat, bestritt an anderer Stelle, dass die Hamas sich menschlicher Schutzschilde bedienen würde.

Ein beträchtlicher Teil der Realität wurde in dem NYT-Text also systematisch ausgeblendet, um nur eine Message zu transportieren. Wenn eine Ärztin darin also nicht mehr sagte, als dass sie »ein achtzehn Monate altes Mädchen mit einer Schusswunde am Kopf« gesehen habe, so ließ der Gesamtzusammenhang keine Zweifel aufkommen, wer als einzig möglicher Schuldiger dafür infrage käme.

Die drei Röntgenbilder

Dass Israel gezielt Kinder ermorde, sollte auch durch drei Röntgenbilder belegt werden, die den gesammelten Zitaten vorangestellt wurden. Sie sollen von drei Kindern stammen, von denen zwei Maschinengewehrkugeln im Nacken und eines ein Projektil mitten im Kopf stecken haben sollen. Auch hier lautet die seitdem in sozialen Medien hunderttausendfach weiterverbreitete Botschaft: Israel habe absichtlich auf die Köpfe der Kinder gezielt.

Das Problem dabei: Selbst, wären die Bilder echt, würden sie nicht belegen, was sie belegen sollen, höchstwahrscheinlich sind sie aber ohnehin Fälschungen.

Nimmt man an, die Röntgenaufnahmen wären echt und zeigten tatsächlich Projektile im Kopf- bzw. Nacken, wäre damit weder gesagt, wer die Schüsse abgefeuert hat, noch, ob es sich dabei überhaupt um gezielte Schüsse und nicht etwa Fehlschüsse oder Querschläger gehandelt hat.

Aus den Aufnahmen ist darüber hinaus nicht ersichtlich, ob sich die angeblichen Projektile überhaupt in den gezeigten Körpern befanden. Zwei Ärzte führten dazu aus:

»Wenn auf einem Röntgenbild ein Objekt zu sehen ist, das keine natürlich vorkommende Struktur im Körper ist, kann man mit einem einzigen Bild nicht feststellen, ob sich dieses Objekt auf dem Körper, im Körper oder hinter dem Körper befindet. Wir benötigen mindestens zwei separate, um 90 Grad versetzte Röntgenbilder, um die Position des Objekts zu bestimmen. Der Bericht der New York Times enthielt nur einzelne Bilder, und als man um weitere bat, lautete die Antwort, die Bilder seien zu grausam, um sie anzusehen.«

Das viel größere Problem mit den Aufnahmen ist allerdings, dass Maschinengewehrkugeln nicht einfach in einen Kopf eindringen und darin (wie durch ein Wunder unverformt) steckenbleiben, sondern massive Verletzungen hervorrufen, von denen auf den Bildern aber nichts zu sehen ist:

»Wenn ein Geschoss den Schädel durchschlägt, bricht der Schädelknochen und erzeugt eine hydrostatische Druckwelle, die eine auf Röntgenbildern gut sichtbare Gewebeschädigung verursacht. Auf den vorgelegten Bildern ist weder eine Fraktur noch eine andere Verletzung zu erkennen.«

Dass hier nicht die Verletzungen zu sehen sind, die mit den Bildern belegt werden sollen, bestätigten nach der Veröffentlichung des NYT-Essays auch zahlreiche Soldaten, die selbst gesehen hatten, was Maschinengewehrkugeln mit einem menschlichen Körper anrichten. Wer sich ein Bild davon machen will, wird auf YouTube binnen weniger Sekunden recht drastische Demonstrationen davon finden. Kurz zusammengefasst: Wird der Schuss aus überschaubarer Distanz abgegeben, wird der Kopf zerfetzt und es bleibt nur wenig von ihm übrig. Damit das nicht geschieht, müsste der Schuss aus sehr großer Distanz abgegeben werden, aber dann kann es sich kaum noch um einen gezielten Schuss auf ein so kleines Ziel wie den Kopf eines nicht einmal zweijährigen Kindes handeln.

Fragwürdige Zeugen

Trotz der rasch laut gewordenen Kritik hält das renommierte Blatt an der Echtheit des Artikels und der Fotos fest. Doch je mehr Zeit seit der Veröffentlichung vergeht, umso mehr Hinweise gibt es, dass zumindest einige der im Text zitierten Aussagen nicht ohne Weiteres für bare Münze genommen werden können.

In einem Fall schilderte ein Arzt aus Dallas einen Israel inkriminierenden Vorfall, bei dem ein israelischer Scharfschütze zwei Kindern in den Kopf geschossen haben soll. Wie sich herausstellte, hatte er praktisch dieselbe Geschichte Monate zuvor schon einmal erzählt, doch handelte es sich damals nicht um zwei, sondern nur um ein Kind. Konnte er das zweite Kind damals »vergessen« haben, oder hat er jetzt ein zweites Opfer dazuerfunden? Hat es den Vorfall überhaupt gegeben? Vor Gericht hätte ein solcher Zeuge jedenfalls keinen Bestand.

Dann wurde klar, dass der Gaza-Aufenthalt der Ärztin Mimi Syed – die fragwürdigen Röntgenaufnahmen gehen auf sie zurück – von einer Organisation namens Palestinian American Medical Association (PAMA) organisiert und von der Organisation Islamic Relief unterstützt wurde. Letztere ist in Israel wegen ihrer Verbindungen zur Hamas verboten und wird von westlichen Sicherheitsdiensten im Umfeld der Muslimbruderschaft verortet. Im Januar hat das US-Außenministerium seine Zusammenarbeit mit Islamic Relief wegen deren antisemitischer Hetze eingestellt.

PAMA ist Kooperationspartner des Council on American-Islamic Relations (CAIR), einer Organisation, die wegen ihrer Verbindungen zur Muslimbruderschaft in den Vereinigten Arabischen Emiraten verboten ist und der immer wieder Extremismus und eine Verharmlosung des Islamismus vorgeworfen wird. Nihad Awad, Gründer von CAIR, war eingestandenermaßen in den 1990er Jahren ein Unterstützer der Hamas. Letztes Jahr verbreitete PAMA die Hamas-Propaganda über einen angeblichen israelischen Angriff auf das al-Ahli-Krankenhaus im Gazastreifen, bei dem es sich in Wahrheit um eine fehlgeleitete Rakete des Palästinensischen Islamischen Dschihads handelte und dabei weit weniger als jene fünfhundert Palästinenser getötet wurden, von denen auch PAMA sprach.

Laut eigenen Angaben von PAMA war auch der Autor des NYT-Artikels, Feroze Sidhwa, als PAMA-Freiwilliger im Gazastreifen. Es käme nicht gerade überraschend, würde sich herausstellen, dass noch weitere der zitierten Ärzte mit Organisationen in Verbindung stehen, die nicht aus rein humanitären Gründen im Gazastreifen aktiv waren.

Politik mit Kinderleichen

Autor Sidhwa machte kein Geheimnis daraus, was er mit seinem Essay in der New York Times bezweckte: Er will die USA dazu bringen, die militärische Unterstützung Israels einzustellen. Gemeinsam, so schrieb er, hätten »Israel und die Vereinigten Staaten den Gazastreifen in eine heulende Wildnis« verwandelt (die Hamas blieb auch an dieser Stelle konsequent außen vor). Doch es sei »nie zu spät, den Kurs zu ändern: Wir könnten Israels Einsatz von Waffen, Munition, Kerosin, Geheimdienstinformationen und logistischer Unterstützung stoppen, indem wir sie zurückhalten.«

»Wer mit toten Kindern argumentiert, möchte die Diskussion absichtlich auf einer emotionalen Ebene führen, nicht auf einer rationalen«, schreibt eine Informationsseite über Antisemitismus. »Niemand kann sich der Kraft der Gefühle entziehen, die durch Bilder oder Erzählungen von Kinderleichen ausgelöst werden.« Genau das wollte Sidhwa sich zunutze machen. Er gehört vielleicht nicht zu denen, die »Kindermörder Israel« brüllend durch die Straßen laufen, aber er strickte mit seinem Gastbeitrag auch an der Legende vom kindermordenden jüdischen Staat.

Und das, obwohl Untersuchungen anhand der Opferzahlen und deren Altersverteilung gezeigt haben, dass bei früheren kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen Kinder unter den getöteten palästinensischen Zivilpersonen deutlich unterrepräsentiert waren – Belege dafür, dass sie eben nicht absichtlich und erst recht nicht bevorzugt ins Visier genommen wurden.

Dass die Times Sidhwas Text abdruckte und aller Kritik zum Trotz weiter an ihm festhält, ist leider nicht verwunderlich. Was Israel betrifft, lautet das Motto des Blattes nicht »All the News That’s Fit to Print«, wie es jeden Tag auf der Titelseite zu lesen ist, sondern vielmehr umgekehrt: »All the News That’s Print to Fit«. Zu diesem Zweck darf man sich auch falscher Röntgenaufnahmen bedienen, die Verantwortung der Hamas für das Blutvergießen im Gazastreifen komplett ausblenden und mit einem Konglomerat suggestiver Aussagen haltlose Schuldzuweisungen an Israel zum Besten geben.

»Die Vereinigten Staaten«, schrieb Sidhwa, »müssen aufhören, Israel zu bewaffnen«. Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, will man um die Wahrheit und die journalistische Sorgfaltspflicht bei der Times offenbar nicht so viel Aufheben machen.

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