Die New York Times wollte sensationelle Enthüllungen über Israels Kriegsführung im Gazastreifen machen. Das Ergebnis ist bemerkenswert dürftig.
Wenn die New York Times gleich mehrere Reporter auf eine Geschichte ansetzt, für die mit großem Aufwand zahlreiche Personen befragt werden, muss sie einem Knüller auf der Spur sein. Man erwartet sensationelle Enthüllungen und bahnbrechende Einblicke, die geeignet sind, die Sicht der Leser auf die Welt, oder zumindest das behandelte Thema, zu verändern.
Der am 26. Dezember veröffentlichte Text »Israel Loosened Its Rules to Bomb Hamas Fighters, Killing Many More Civilians« ist von der Aufmachung her genau so ein Knaller: Nicht weniger als sieben ihrer Journalisten hat die NYT für die Story abgestellt, über hundert Personen wurden befragt. Herausgekommen ist dabei ein fast viereinhalbtausend Wörter langer Text, der ein »beispielloses Verständnis« dessen ermöglichen soll, »wie Israel einen der tödlichsten Luftkriege dieses Jahrhunderts führte«.
Nach der langen Lektüre stellt sich freilich eine Mischung aus Erstaunen und Ernüchterung ein –allerdings nicht über verstörende Einblicke in die israelische Kriegspraxis im Gazastreifen seit dem Hamas-Massaker in Israel am 7. Oktober 2023, sondern über den Aufwand, den die New York Times betrieben hat, um als sensationelle Reportage zu verkaufen, was inhaltlich in Wahrheit äußerst mager ist.
Anderer Krieg, andere Regeln
Der Artikel beginnt mit einer vermeintlich brisanten Enthüllung: Am Tag des Hamas-Massakers »um genau 13:00 Uhr«, so viel Genauigkeit muss schon sein, soll die israelische Militärführung eine folgenschwere Anordnung ausgegeben haben:
»Mit sofortiger Wirkung erhielten israelische Offiziere der mittleren Führungsebene die Befugnis, Tausende von Militanten und militärische Einrichtungen anzugreifen, die in früheren Kriegen in Gaza nie eine Priorität darstellten. Offiziere konnten nun nicht nur die hochrangigen Hamas-Kommandeure, Waffenlager und Raketenwerfer verfolgen, die im Mittelpunkt früherer Kampagnen standen, sondern auch die Kämpfer mit dem niedrigsten Rang.«
Bis zu zwanzig zivile Opfer seien bei einem Angriff nunmehr akzeptabel gewesen. Die israelischen Streitkräfte sollen also ihr »System von Schutzmaßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung stark geschwächt« und »fehlerhafte Methoden zur Zielerfassung und zur Bewertung des Risikos von zivilen Opfern eingeführt« haben.
Die weiteren Ausführungen sind zwar wortreich, aber kaum mehr als Variationen der Wiederholung eines kaum als sensationell zu erachtenden Umstands: Wie die New York Times selbst an mehreren Stellen schreibt, unterscheidet sich der Krieg, den Israel seit dem 7. Oktober 2023 gegen die Hamas führt, deutlich von früheren Runden militärischer Auseinandersetzungen im Gazastreifen – weswegen die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) auch anderen Einsatzregeln folgten als damals.
Man muss wahrlich kein Militärexperte sein und auch keine aufwendigen Recherchen durchführen, um zu verstehen, dass begrenzte Gegenschläge gegen Stellungen der Hamas, wie sie in der Vergangenheit mehrfach unternommen wurden, etwas völlig anderes sind als der Versuch, umfassend gegen die Terrorgruppe vorzugehen, die sich hinter – und in hunderte Kilometer langen Tunnels vor allem buchstäblich auch unter – der Zivilbevölkerung des Gazastreifens verschanzt hat.
Um eine Raketenabschussrampe der Hamas zu zerstören, mag ein gezielter Luftangriff ausreichen, bei dem große Vorsichtsmaßnahmen weitgehend sicherstellen können, dass keine Zivilpersonen zu Schaden kommen. Selbstverständlich sind die Zerstörung zahlreicher Tunnels, die direkt unter zivilen Häuserblöcken gegraben wurden, und die Ausschaltung mehrerer zehntausend Hamas-Terroristen nicht auf dieselbe Weise möglich, sondern erfordern ein anderes Vorgehen, bei dem andere Rücksichtsmaßnahmen gelten müssen.
Genau das antworteten die israelischen Streitkräfte auch den NYT-Journalisten in einer ausführlichen Stellungnahme, von der in dem Artikel aber nur kurze Auszüge wiedergegeben werden. Die Änderung der Einsatzregeln sei demnach im Rahmen eines Konflikts erfolgt, der »beispiellos und kaum mit anderen Kriegsschauplätzen weltweit vergleichbar« sei. Faktoren wie das Ausmaß des Hamas-Massakers am 7. Oktober und die gezielte Verwendung menschlicher Schutzschilde durch die Terroristen »haben Auswirkungen auf die Anwendung der Regeln, wie zum Beispiel die Wahl der militärischen Ziele und die operativen Einschränkungen, welche die Durchführung von Feindseligkeiten bestimmen, einschließlich der Fähigkeit, bei Angriffen durchführbare Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen.«
Nur Insinuationen
Aber, so betonten die IDF in ihren Ausführungen, die israelischen Truppen hätten »stets Mittel und Methoden eingesetzt, die den Regeln des Rechts entsprechen«. Das mag man als Schutzbehauptung abtun, doch bei genauer Lektüre des Artikels zeigt sich, dass die New York Times im Grunde nichts vorbringt, was dieser Behauptung widersprechen würde.
Ausdrücklich hervorgehoben wird, dass Israels Streitkräfte, im Gegensatz zur Hamas,
»unter einem mehrschichtigen Aufsichtssystem arbeiten, das die Rechtmäßigkeit geplanter Operationen bewertet. Jeder Angriffsplan soll in der Regel von einer Gruppe von Offizieren analysiert werden, zu denen häufig auch ein Militäranwalt gehört, der dazu Stellung nehmen kann, ob Angriffe unnötig oder rechtswidrig sein könnten.«
Das hat sich auch im gegenwärtigen Krieg nicht geändert; selbst, wenn die große Zahl der Operationen, die zur Verfügung stehenden Ressourcen und der ohne Zweifel vorhandene Zeitdruck zur Folge hatten, dass über Operationen schneller entschieden wurde als das in »Friedenszeiten« der Fall ist.
Der gesamte Text suggeriert zwar, dass Israel irgendetwas, wenn schon nicht komplett Illegales, so doch zumindest höchst Verwerfliches getan habe, führt aber keine konkreten Fakten an, um diese Suggestion zu untermauern. Weder wird behauptet, die IDF hätten andere als militärische Ziele angegriffen, noch, dass die Streitkräfte ohne Rücksicht auf zivile Opfer vorgegangen wären.
Ja, Israel hat bei militärisch legitimen Angriffen eine höhere Zahl an solchen Opfern akzeptiert als bei früheren Runden der Auseinandersetzung mit der Hamas, aber das lag einerseits an der Natur des von der Hamas angezettelten Kriegs und zeigt andererseits nur, welche außerordentlich hohen Standards Israel früher an seine Einsätze angelegt hat – Standards, die deutlich über jenen anderer Armeen lagen und weit über das hinausgingen, was das humanitäre Völkerrecht fordert. Das zeigen auch die von der New York Times angeführten Beispiele für frühere Operationen, wenn man sie sozusagen gegen den Strich liest.
Aber nichts in dem NYT-Artikel belegt, dass Israel, von Fehlern abgesehen, die bei Operationen dieses Ausmaßes unvermeidbar sind und mit Sicherheit gemacht wurden, bei seinen Einsatzplanungen die Regeln des humanitären Völkerrechts gebrochen hätte. Stattdessen wird eher nebenbei bemerkt, dass »die Gesetze für bewaffnete Konflikte vage im Hinblick darauf sind, was als durchführbare Vorsichtsmaßnahme oder als übermäßiger Tribut unter der Zivilbevölkerung gilt«.
Unerwähnt bleibt dabei, dass Gerichte in Fällen, in denen es angesichts ziviler Opfer um vermutete Verletzungen der Verhältnismäßigkeit geht, den operierenden Streitkräften meist einen recht großen Spielraum einräumen – erinnert sei nur an den sogenannten Fall Kunduz, bei dem ein von einem deutschen Offizier angeforderter Luftschlag Dutzende Zivilisten tötet, der verantwortliche Oberst Georg Klein aber in allen Instanzen von jedem schuldhaften Verhalten freigesprochen wurde.
Mageres Ergebnis
Und noch ein Punkt wirft die Frage auf, was genau den Rechercheaufwand und einen so langen Text eigentlich rechtfertigt: Die von der NYT implizit angeprangerten lockereren Einsatzregeln der IDF waren anscheinend nur zu Beginn des Kriegs gültig, bevor sie wenige Wochen später wieder teilweise verschärft wurden.
Macht man sich nicht mit der vorgefassten Überzeugung an die Lektüre des Artikels, dass Israel im Gazastreifen auf jeden Fall etwas besonders Verwerfliches und unvergleichbar Rücksichtsloses tut, bleiben nur zwei die substanziell mageren Erkenntnisse über: Erstens, dass in einem Krieg, den eine sich hinter der Zivilbevölkerung versteckende Terrorgruppe auslöst, unweigerlich viele Zivilisten zu Schaden kommen. Und zweitens, dass ein Krieg, der darauf abzielt, eine solche Terrorgruppe auszuschalten, nach anderen Maßstäben erfolgt als vereinzelte, quasi-polizeiliche Luftschläge es tun. Aber braucht es für diese wenig bemerkenswerte Einsichten wirklich die Arbeit von sieben Journalisten und viereinhalbtausend Worte?