Thomas von der Osten-Sacken spricht im Interview mit dem Demokratischen Salon über die Chancen einer syrischen Demokratie.
Norbert Reichel (NR): Die Besucher aus dem Westen wissen offensichtlich wenig über die Region.
Thomas von der Osten-Sacken (TO): Das ist die Tragödie des arabischen Frühlings von 2011, der jetzt seinen Fortgang findet. Junge Menschen gehen auf die Straße. Mit ihren Nationalfahnen. Sie sagen: Wir wollen Citizenship, wir wollen feste Grenzen, wir wollen Tunesier, Libyer, Syrer sein. Letztlich ist das das arabische 1848. Ein Friedrich Stolze, ein Heinrich Heine oder ein Victor Hugo würden sofort verstehen, was die Leute dort fordern.
Wir in Europa aber reden über Kultur und Religion. Die spielen natürlich auch eine Rolle, aber letztlich geht es im gesamten Nahen Osten um Würde, Verfassung, Citizenship. Wir haben keine deutsche Übersetzung für dieses Wort, denn Staatsbürgerschaft ist etwas anderes. Auch Citoyennité ist etwas anderes als Citizenship.
All diese grundsätzlichen politischen Fragen, die man auch aus der europäischen Geschichte kennt, stehen in diesen Ländern auf der Tagesordnung. Fahren Sie nach as-Suweida und stellen Sie sich auf den Revolutionsplatz. Sie können dort sofort über solche Themen diskutieren. Da leuchten die Augen. Aber das begreift man in Europa irgendwie zurzeit nicht. Wenn Menschen dort »ein Gesetz für alle fordern« meinen sie auch, dass aus den bestehenden Verfassungen jene Bezüge auf islamisches Recht gestrichen werden sollen, in denen Frauen anders als Männer behandelt werden und ein anderes Recht für Muslime gilt als für Christen.
Bürgerrechte oder Identitätspolitik?
NR: Durchweg?
TO: Mehr oder weniger. Ich war vier Tage in Tunesien, nachdem Ben Ali gestürzt war, und Citizenship tauchte überall als Forderung auf. Später haben wir mit Partnern in Syrien und im Irak Projekte auf den Weg gebracht, deren Motto war: »Vom Untertan zum Bürger«. Das begeistert Leute: Formen lokaler Demokratie und Partizipation. Bloß keine Untertanen mehr sein, Bürger werden. Mit dem Slogan können alle dort etwas anfangen.
Vor diesem Hintergrund müsste man auch über die Zukunft Kurdistans sprechen, nicht vor so einem völkischen, der Kurden als irgendwie in ihren Bergen verwurzelte Ethnie betrachtet. Das ist nichts Ethnisch-Kulturelles. Das föderale Modell im Irak fußt schließlich auch auf Territorialität, nicht auf Ethnizität. Man kann letztlich nicht einmal objektiv definieren, wer nun eigentlich ein Kurde ist – bei religiöser Zugehörigkeit ist das einfacher: Christ ist, wer eine Geburtsurkunde besitzt, auf der das steht, gleichviel ob römisch-katholisch, griechisch-orthodox, syrisch-orthodox, armenisch.
NR: In Deutschland scheint es mir doch schon so etwas zu geben wie eine kurdische Identität. Oder täusche ich mich? Und es sind vor allem türkische Kurden?
TO: Natürlich gibt es kurdische Identitäten. Aber was hierzulande als die kurdische Identität erscheint, hat viel mit der Kulturpolitik der PKK zu tun, deren Diskurs in Deutschland recht hegemonial ist. Die Stimmen irakischer Kurden oder solcher aus dem Iran kommen in Deutschland kaum zu Gehör. Die PKK hat es über ihre Medienmacht, ihre Frauenorganisationen, ihre deutschen Unterstützer geschafft, dass wir uns in Deutschland in der Regel auf diesen PKK-Diskurs beziehen, wenn wir über die Kurden reden. Dieser Diskurs repräsentiert aber weder die anderen kurdischen Stimmen aus der Türkei oder Syrien und schon gar nicht die Stimmen irakischer oder iranischer Kurden.
Höchstens kommt, wenn überhaupt, nur eine andere Stimme zu Wort, die neben der PKK noch über einigen internationalen Einfluss verfügt, und das ist die der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) und ihrer Führung unter den Barzanis. Dass es die kurdische Stimme nicht gibt, sieht man schon daran, dass die PKK und die KDP untereinander verfeindet sind und sich sogar jahrelang bewaffnet bekämpft haben. Nach dem Sturz Assads scheint sich da allerdings auch einiges zu bewegen. Erst jüngst besuchten hochrangige syrisch-kurdische Vertreter, die der PKK nahestehen, die Barzanis im Irak und hielten eine gemeinsame Pressekonferenz ab.
Derweil entwickeln die Barzanis und die KDP eine rege regionale Diplomatie. Sie unterhalten sehr gute Kontakte sowohl in die Türkei zu Erdoǧan als auch nach Saudi-Arabien und an den Golf. Sie suchen jetzt offenbar ihren Einfluss geltend zu machen, um für Syrisch-Kurdistan eine Lösung in ihrem Interesse zu finden, die die PKK zwar schwächen aber nicht völlig ausschalten würde und zugleich in Kooperation mit Damaskus stattfinden würde.
Auch der neue syrische Außenminister hat sich gerade in Davos mit Barzani getroffen und ihn nach Damaskus eingeladen. Während also auf der einen Seite kurdische Kräfte in Syrien gegen von der Türkei unterstützte Einheiten kämpfen, finden auf der anderen Seite diese diplomatischen Initiativen statt und man kann nur hoffen, dass es zu keinem großen bewaffneten Konflikt kommt.
Vor diesem Hintergrund ist es auch extrem interessant, was seit einiger Zeit in der Türkei passiert. Zum ersten Mal nach zehn Jahren hat die DEM-Partei, die kurdische Partei in der Türkei, in der viele eine Art legalen Arm der PKK sehen, Öcalan im Gefängnis besucht. Das fand eine sehr positive Resonanz, auch bei den Ultranationalisten in der Türkei und bei Erdoǧans AKP. Es sieht so aus, als gebe es gerade in der Türkei einen Versuch gibt, den vor über zehn Jahren unterbrochenen Friedensprozess zwischen der PKK und der Türkei wieder aufzunehmen. Dies hätte dann ganz grundlegendeAuswirkungen nicht nur auf die Entwicklungen in Türkisch-Kurdistan, sondern auch in Syrien.
Ein tektonisches Erdbeben
NR: Damit hätte der Sturz von Assad eine Reihe von Auswirkungen, die die Region in einem Maße befrieden könnten, wie wir uns das vor wenigen Wochen noch nicht vorstellen konnten.
TO: Ja, der Sturz von Assad ist ein tektonisches Erdbeben in der Region. Wobei wichtig ist festzuhalten, dass Damaskus ja nicht militärisch erobert worden ist. Das Assad-Regime war so fertig, dass es seinen Gegnern nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Nachdem die erste Verteidigungslinie der Hisbollah vor Aleppo zusammenbrach, war es vorbei. Damaskus ist ohne einen Schuss gefallen.
In Deutschland kann man sich kaum vorstellen, was da passiert ist. Syrien ist das zentrale Land in der Region. Damaskus ist seit etwa 1.000 Jahren die Hauptstadt des umayyadischen Kalifats, kontrolliert von sunnitischen Arabern. Aus deren Sicht bedeutet das: Wir sind wieder da. Wir sind wieder die Herrscher in Damaskus. Die alte umayyadischen Moschee gehörte lange Jahrhunderte nicht uns, jetzt ist sie wieder unser. Es ist eine Art Renaissance des alten sunnitisch-umayyadischen Empires, das als Goldene Zeit gilt. Bagdad ist eher persisch-schiitisch, es gab auch immer die Konkurrenz zwischen Damaskus und Bagdad.
NR: Das müsste dem Westen doch auch gefallen. Der Iran wird zurückgedrängt.
TO: Ja sicher. Die Hisbollah ist extrem geschwächt. Das freut viele Menschen in Syrien. Iraner haben heute Einreiseverbot in Syrien. Das sagt doch viel. Das gesamte Projekt der Islamischen Republik Iran, eine Ausdehnung bis an das Mittelmeer mit dem Ziel der Vernichtung Israels, ist wie ein Kartenhaus zusammengebrochen. Hassan Nasrallah ist tot, die Hisbollah ist geschwächt, im Libanon gibt es plötzlich eine neue Regierung und in Syrien ist der Iran erst einmal raus.
Die Kehrseite: In Syrien regiert eine Nachfolgeorganisation von al-Qaida. Was heißt das? Letztlich ist damit plötzlich der salafistische Islam, der auch von Saudi-Arabien und den Emiraten ausgeht, der große Sieger. Lange dachte man, das sind die großen Verlierer. Man darf aber auch nicht vergessen, dass nicht nur der Iran Verlierer ist, auch die Muslimbrüder sind Verlierer. Man darf die Spannungen zwischen den Muslimbrüdern und den arabischen Regierungen am Golf nicht übersehen.
Nun waren die Muslimbrüder für uns in Europa interessant, denn sie haben in den 1980er Jahren Demokratie bejaht. In der Türkei, in Ägypten. Sie traten zu Wahlen an, aber dahinter stand nicht die Idee, dass man sich nach der Wahl an die Demokratie halten würde. Die Emirate und die Saudis haben wahnsinnige Angst vor freien Wahlen und vor den Muslimbrüdern. Das sind innerislamische Spannungen. Das hat auch dazu geführt, dass die Saudis gegen die Wahlsiege der Muslimbrüder in Ägypten, im Sudan, in Libyen militärische Unterstützung geleistet haben.
Auf der anderen Seite treiben die Saudis und die Emirate die Annäherung an Israel voran, haben intern auch verschiedene Reformen durchgeführt. Aber sie wollen keine Wahlen, sie sagen: »Das islamische System des Konsenses, der Konsultation, ist im 21. Jahrhundert eigentlich viel erfolgreicher als das Modell der Demokratie. Wir sehen ja, wie im Westen Demokratie zusammenbricht. Wir sind also viel besser auf das 21. Jahrhundert vorbereitet als der Westen.«
Abstraktes vs. konkretes Recht
NR: Es wäre also denkbar, dass in Syrien keine Demokratisierung im westlichen Sinne herauskommt, sondern eher eine Entwicklung im saudischen Sinne?
TO: Das ist die Spannung. Die HTS redet über Toleranz, sie redet nicht über Demokratie. Sie redet nicht über eine demokratische Verfassung, sondern will eher so etwas nach dem Vorbild der Vereinigten Arabischen Emirate. Dort hat jeder Bürger das Recht, sich an den Emir zu wenden. Der Emir lässt sich beraten, aber es gibt keine Verfassung, in der Volkssouveränität festgeschrieben ist. Es gibt keine Gleichheit vor dem Gesetz, sondern die Scharia. Wer ist der Souverän? Gott oder das Volk?
NR: Wie eindeutig ist die Scharia?
TO: Das ist die Diskussion im Islam seit über 150 Jahren. Das sind die zentralen Fragen, um die es im Nahen Osten seit langem geht. Wenn Gott die Gesetze gegeben hat, haben wir Menschen kein Recht, diese zu ändern. Wir können sie nur interpretieren. Also muss – wie im Iran – dies so in der Verfassung stehen. Wenn Gott die Gesetze macht, kann kein Parlament Gesetze beschließen, denn es würde dann die Allmächtigkeit Gottes in Frage stellen.
Also ist die erste Frage an Islamisten immer die Frage, ob sie Volkssouveränität akzeptieren oder nicht. Kann ein Parlament ein Gesetz verabschieden oder kann es das nur, wenn ein Rat vorher festgestellt hat, dass das Gesetz nicht der Scharia widerspricht? Im Irak steht in der Verfassung, Gesetze dürfen weder den Menschenrechten noch der Scharia widersprechen. Das ist in sich schon völlig widersprüchlich.
Das verstehen viele in Europa nicht. Sie verstehen auch nicht, dass Scharia-Recht konkretes Recht ist. Frauen, Männer, Sunniten, Schiiten, Juden, Christen sind diesem Verständnis nach unterschiedlich, also müsse auf sie auch unterschiedliches Recht angewandt werden. Bürgerliches Recht geht vom abstrakten Staatsbürger und der abstrakten Gleichheit vor dem Gesetz aus. Also werden Verfassungen so entwickelt, dass es den abstrakten Staatsbürger gibt, oder geht man vom konkreten Bürger aus? Das ist die zentrale Frage.
Die maghrebinische Frauenbewegung hat vor zwanzig Jahren gefordert: »One Law for All!« Ein Gesetz, das für alle gilt. Das ist im Kontext des islamischen Rechts revolutionär, weil es den abstrakten Staatsbürger fordert. Wenn ich also von Minderheitenschutz spreche, reproduziere ich das Denken des islamischen Rechts. Die Minderheit hat einen Sonderstatus, sie kann sich auch selbst verwalten, aber sie hat ein anderes Recht.
NR: Damit sind wir wieder beim Dhimmi-Status.
TO: Genau, der Dhimmi-Status. Die ganze Debatte in Europa, in der wir permanent über Minderheiten und Identität(en) reden, passt viel besser zum islamischen Denken als zum bürgerlichen Rechtsdenken. Das gesamte Gerede über Diversität, Hautfarbe, sexuelle Orientierung etc. passt viel besser zum islamischen Denken als zu einem bürgerlich liberalen Denken.
NR: Wir reden über Quotierungen und landen dann dort, wo die USA gerade landen, wenn Trump die Affirmative Action abschafft oder Südafrika mit Sanktionen belegt, weil dort die weiße Minderheit benachteiligt würde. Identitätspolitik statt Bürgerrechte. Das ist eigentlich absurd.
TO: Jetzt noch einmal zurück zu den Kurden. Man kann die Kurden als Minderheit definieren, als Menschen, die in den Bergen leben, irgendwelche besonderen Tänze haben, dann sind wir im Minderheitendiskurs.
NR: Folklore. Deshalb finden die Deutschen Stadtteilfeste mit fremdem Essen auch so schön.
TO: Das ist völkisches Denken, das mit deutschen Traditionen hervorragend korrespondiert. Wenn Kurden so ganz »authentisch« sind, werden sie bei uns auch bewundert und geliebt. Da sind wir schnell bei Julius Langbehn oder Arthur de Gobineau oder beim Ethnopluralismus.
Das Interessante im Irak ist, dass das Problem dort in der Verfassung gelöst wurde. In der Verfassung sind die Kurden ein »Staatsvolk«, und das ist etwas anderes als eine folkloristische Gruppe. Der Irak besteht aus zwei Staatsvölkern, den Arabern und den Kurden. Deshalb ist alles zweisprachig, auch die Pässe sind zweisprachig. Als Kurde habe ich überall im Irak das Recht, meine Angelegenheiten in kurdischer Sprache zu regeln.
NR: Wie in der Schweiz? Oder in Belgien?
TO: Wie in Kanada. Bürgerliche Individualrechte sind immer stärker als Minderheitenrechte. Meinungsfreiheit, Schutz vor dem Staat usw.: all das gilt für mich als Individuum, das sind Individualrechte und nicht Kollektivrechte. Es gibt dabei natürlich auch die Rechte, die ich als Angehöriger eines der Staatsvölker habe, mit meiner eigenen Sprache, meiner Kultur, die nicht unterdrückt werden dürfen.
Im Nahen Osten ist das Problem jedoch etwas anderes: die Angst vor Majorisierung. Wenn wir sagen: Da, wo die Mehrheit arabisch ist, ist Arabistan, und da, wo sie kurdisch ist, ist Kurdistan, dann entwickelt sich daraus sofort der Wunsch, dass die einen die anderen vertreiben wollen, um sich da selbst anzusiedeln. Das ist die Geschichte des Nahen Ostens seit etwa 75 Jahren.
NR: Vielleicht schon länger? Ich denke an den Vertrag von Lausanne 1923 und die folgenden Vertreibungen von Griechen aus der Türkei und Türken aus Griechenland.
TO: Bleiben wir mal bei der Zeit nach 1945, in der sämtliche Widersprüche, die einem Nationalstaat inhärent sind, im Nahen Osten explodierten. Der Libanon ist ein gutes Beispiel. Wenn wir darüber nachdenken, wer die Mehrheit hat, geschieht etwas wie in Syrien, wo in den 1960er Jahren 300.000 Kurden die Staatsbürgerschaft entzogen wurde, damit sie keine syrischen Staatsbürger mehr sind. Man hat Araber angesiedelt, um sagen zu können, jetzt haben wir hier arabisches Gebiet.
Dem steht die kanadische Verfassung entgegen. In Kanada ist ein Gebiet immer noch französisches Gebiet, auch wenn da nur noch wenige Franzosen wohnen. In Kanada lassen sich Gebiete so gut wie nicht majorisieren. Es ist so gut wie unmöglich, in Kanada den Status komplett zu ändern. Ähnlich verhält es sich in Irakisch-Kurdistan. Die Gouvernements Dahuk, Erbil, Sulaimaniyya sind Kurdistan. Dort leben heute mehr Araber als noch zu Saddams Zeiten. Trotzdem ist das nach wie vor Kurdistan. Es besteht nicht die Gefahr, dass Araber irgendwann sagen, wir sind jetzt die Mehrheit. Damit ist akzeptiert: Das ist Kurdistan.
Diese Fragen spielen in Syrien eine zentrale Rolle. Wie lässt sich verhindern, dass es in den kurdischen Gebieten, die unter der Arabisierungspolitik Assads sehr gelitten haben, wieder zu einer arabischen Majorisierung kommt? Daran anschließend spielen Fragen eine Rolle wie: Wie ist das in Belgien gelöst, in Indien, in Ländern, in denen es keine einheitliche Nationalsprache gibt? Oder in Nigeria, das eine tolle Verfassung hat, die aber leider nicht umgesetzt wird?
Wie ist es möglich, die Ängste derjenigen, die lange Zeit als Minderheit behandelt wurden, so ernst zu nehmen, dass sie in Zukunft vor solchen Schritten geschützt sind? Wie kann man beispielsweise bewaffnete Sicherheitskräfte in einer Region belassen, die auch in der Lage sind einzugreifen? In Irakisch-Kurdistan gibt es eigene kurdische Sicherheitskräfte.
So kommen wir in einen unglaublich spannenden Prozess. Wir können mit jungen Menschen im Nahen Osten, die gerade ihr 1848 erleben, über hochpolitische Fragen sprechen, die wir hier längst vergessen haben, weil sie so selbstverständlich sind, dass niemand mehr weiß, welche Prozesse es gab, um das zu erreichen, was wir heute haben. Oder weil manche die Demokratie über Bord werfen wollen, weil sie Demokratie als die Tyrannei der Mehrheit verstehen.
Fragen über Fragen
NR: Ihr Fazit? Eher eine positive Prognose?
TO: Nein, keine positive Prognose. Das ist angesichts des desolaten Zustands des Landes zurzeit nicht möglich. Das Ausmaß, in dem Syrien zerstört wurde, ist kaum fassbar. Schon ein wenig außerhalb von Damaskus fährt man kilometerweit durch Ruinenfelder. Die Hälfte der Bevölkerung sind Binnenflüchtlinge. Was geschieht, wenn sie zurückkehren? Es gibt eine riesige Wohnungsnot. Überall leben Menschen, die da vorher nicht gelebt haben. Das Ganze wird konfessionalisiert werden. Aus christlichen oder alawitischen Gebieten wurden Sunniten vertrieben und umgekehrt. Das wird bei der Wohnungsfrage und vielen anderen Fragen dann sofort eine Rolle spielen.
Viele Konflikte werden jetzt erst aufbrechen, wo die totale Kontrolle, die das Assad-Regime ausübte, zusammengebrochen ist. Es sind auch unzählige Rechnungen noch offen angesichts all der Toten, Verletzten, Verschwundenen und Vertrieben. Man muss einmal durch das Seidnaya-Gefängnis oder eine der anderen Haftanstalten gehen. Das ist ein Höllenloch. Das war sozusagen dasd Herzstück des Terrors des Regimes. Jeder wusste, dass es diese Gefängnisse gibt. Sie thronen oben auf den Hügeln und es konnten gleichzeitig 40.000 Menschen in ihnen inhaftiert werden. In den Dunkelzellen zu dreißig Personen auf achtzehn Quadratmetern.
Jeder wusste: das kann mir jederzeit wegen irgendetwas auch passieren. Jeder kannte jemanden, der da drin war und heimlich davon erzählte. Jetzt tauchen in irgendwelchen Massengräbern diejenigen auf, die das nicht überlebt haben. Bislang wurden schon etwa 100.000 Menschen in Massengräbern gefunden – und das ist erst der Anfang.
NR: Was müssten die Deutschen tun? Die Sanktionen aufheben?
TO: Nein. Jenseits von diesem merkwürdigen Auftritt von Annalena Baerbock agierte das Auswärtige Amt im Vergleich in Europa verhältnismäßig gut. Bei all den Versuchen, das Assad-Regime wieder zu normalisieren, hat das Auswärtige Amt in der Vergangenheit die Initiativen anderer EU-Staaten meist sogar blockiert.
Als erstes müsste aber dieses Geschwätz über Flüchtlinge aufhören. Jetzt darüber zu reden, wann man wen abschieben könnte, ist inhuman und kontraproduktiv. Viele Syrer fahren zurück, um zum ersten Mal ihre Familie wiederzusehen. Viele wollen zurückkehren, aber sie sagen auch: in ein oder in zwei Jahren, wenn es wieder Wohnungen gibt und Arbeitsplätze.
Man muss die Diskussionen über Demokratisierung sehr ernst nehmen. Das ist nicht etwas das wir wollen, sondern etwas, das die Bevölkerung in Syrien will. Wir müssen ernst nehmen, dass die Menschen, die sich schikanieren, verfolgen, verhaften lassen mussten, von denen viele auch getötet wurden, kein Kalifat wollen. Also sollten wir alles unterstützen, was diese Transformation voranbringt, und alles bekämpfen, das dem im Weg steht. Falsch wäre es, nur auf Stabilität zu setzen und sich dann mit einem Regime einzurichten, das das Gegenteil betreibt. Das kennen wir aus Tunesien: Wer redet heute noch über Demokratie in Tunesien, Hauptsache wir haben einen Flüchtlingsdeal?
Noch Mitte November 2024 war eine EU-Delegation in Damaskus, um mit Assad zu reden; e habe doch jetzt den Krieg gewonnen, man wolle Stabilität. Dreizehn Tage später ging die Offensive in Aleppo los, durch die Assad schließlich stürzte. Man müsste die Lektion lernen: Starke Männer mit starken Geheimdiensten, die sich aus der Staatskasse bereichern und dann auch noch zu den größten Drogendealern der Welt gehören, sind keine Garanten für Stabilität. Also muss man fragen, welche Mittel gibt es, dass sich Staaten in Demokratien, in Rechtsstaaten transformieren? Das ist die eigentliche Stabilität.
Natürlich muss man jetzt massiv in den Wiederaufbau Syriens investieren, auch mit einem Blick darauf, dass die kurdische Selbstverwaltung bestehen bleibt, dass man Druck auf die Türkei ausübt, aber auch türkische Sicherheitsinteressen nicht einfach nur abtut. Sonst kommen pampige und keine konstruktiven Reaktionen aus Ankara. Dann heißt es: Was würdet ihr sagen, wenn ihr vierhundert Kilometer Grenze mit der Roten Armee Fraktion gehabt hätte? Ihr seid gegen Terroristen vorgegangen, auch wir gehen gegen Terroristen vor. Was erzählt ihr uns jetzt, dass wir Völkermörder seien?
Extrem wichtig wäre Folgendes: Es kommt im Nahen Osten sehr gut an, dass Deutschland es geschafft hat, sich nach zwei Diktaturen in ein parlamentarisch demokratisch-föderales, System zu verwandeln, in dem es relativ viele Checks and Balances gibt. Diese Erfahrung könnte Deutschland zur Verfügung stellen und vor der jeweiligen historischen Realität zu diskutieren, was man übertragen könnte. Zum Beispiel eben ein starkes parlamentarisches System.
Irak ist heute eines der stabilsten Länder in der Region, gerade weil es ein starkes Parlament hat. Das war eine der Lehren der Weimarer Republik: keine Präsidialverfassung. Jede Präsidialverfassung ist das Rezept zur nächsten Diktatur. Das sieht man jetzt aktuell in Tunesien. Ein starker Mann an der Spitze ist immer ganz schlecht. Vor allem wenn der dann auch noch Chef des Militärs ist und sagen kann: Mit dem Volk gegen die »Quasselbude« Parlament!
Auch ein Zweikammersystem wäre gut. Das wurde im Irak leider nicht geschaffen. Ein starkes Verfassungsgericht, das nicht in der Scharia, sondern in der Verfassung festgeschrieben ist. Und die Frage des Verhältnisses von Religion und Staat. Wie sieht das französische Modell aus, wie das amerikanische, wie das deutsche? Wie kann man die Trennung von Gesellschaft und Religion, von Staat und Kirche gestalten? Wie könnte das in einer islamisch dominierten Gesellschaft funktionieren? Warum ist vielleicht das Wort säkular wenig hilfreich? Weil es ein sehr westeuropäisches, katholisches Phänomen ist.
Mit all diesen Fragen könnte man viel erreichen. Aber das geschieht leider nicht, weil alles immer durch die Kultur- beziehungsweise die Religionsbrille gesehen wird. Ich würde sagen: Weg mit der Kultur- und Religionsbrille. Lassen Sie uns von Bürgern zu Bürgern reden.
Das Gespräch mit Thomas von der Osten-Sacken wurde zuerst beim Demokratischen Salon publiziert. (Teil 1 des Interviews erschien hier.)