Der Historiker und Publizist Michael Wolffsohn hat eine scharfe Abrechnung mit der Volkskrankheit Judenhass verfasst. Eine Leseempfehlung.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber meine Lesegewohnheiten haben sich völlig verändert. Bevor es das Internet gab, habe ich alles Gedruckte wahllos und ohne System verschlungen. An Orten, an die es sich nicht geziemt, schöne Bücher mitzunehmen, habe ich sogar die Kronen Zeitung als Lesestoff akzeptiert. Es kam nie dazu, dass es mir zu viel wurde, mir ein Artikel zu lang oder ein Buch zu dick gewesen wäre.
Mittlerweile suche ich Abkürzungen. Kurze, prägnante Texte, die schnell auf den Punkt kommen, ganz besonders, wenn es um eines jener Themen geht, die mir am meisten am Herzen liegen. Ich bin gewissermaßen auf meine alten Tage ein Anhänger von Marcel Reich-Ranicki geworden, der einmal in etwa gesagt hat: »Ein Roman mit mehr als fünfhundert Seiten ist um circa zweihundert Seiten zu lang.« Ich habe diese Weisheit in mühsamer Kleinarbeit über die Jahre weiterentwickelt: Jeder Text, der mir mehr als hundert Seiten lang Lebenszeit stiehlt, kommt bei mir nur noch nach äußerstem Widerstand zum Zug.
Im Jahr 1962 hielt Theodor W. Adorno einen Vortrag mit dem Titel Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute. Ein guter Freund schenkte mir neulich das Buch, das Anfang des Jahres beim renommierten Suhrkamp Verlag wiedererschienen ist. Obwohl es nur sechsundachtzig Seiten hat, habe ich es nicht viel mehr als durchgeblättert. Denn bereits der Titel sagt mir: Was schon vor über sechzig Jahren ganz offensichtlich keinen Erfolg hatte, wird mich heute auch nicht wirklich weiterbringen.
Der »neue Antisemitismus«, von dem heute manchmal gesprochen wird, die Verkleidung von Antisemitismus als »Israel-Kritik«, war übrigens ebenfalls schon in den 1960er Jahren, jedenfalls für Jean Améry, nicht mehr neu. Améry schrieb auch damals schon von etwas, das erst seit sehr kurzer Zeit überhaupt seinen Weg in die Medien findet, weil es viel zu lange als Tabuthema behandelt wurde: dass es nicht nur einen rechtsextremen, sondern auch einen linken Antisemitismus gibt.
Für mich hatte schon vor achtzig Jahren Jean-Paul Sartre in seinem kurzen Essay Überlegungen zur Judenfrage alles über den Antisemitismus geschrieben, was immer noch gültig ist.
Scharfe Abrechnung
Ich hätte nicht gedacht, dass noch jemand etwas zu dem Thema schreiben würde, das mich aufs Neue fesselt. Dann hat der bekannte Historiker und Publizist Michael Wolffsohn, den Sie vielleicht nicht zuletzt auch aus unserem Mena-Watch-Talk kennen, ein neues – kurzes – Buch namens Nie wieder? Schon wieder! Alter und neuer Antisemitismus geschrieben, das mich vollkommen überzeugt hat.
Das Buch ist beinahe eine Wutrede, mit der ich mich völlig identifizieren kann. Wolffsohn liefert eine scharfe Abrechnung mit der Volkskrankheit Judenhass, gegen die offensichtlich noch immer keine Gegenmittel gefunden wurden, und kommt zu dem Schluss, dass dies auch so bleiben wird. Alle Versuche, das Richtige zu tun, scheitern letztlich an der Unheilbarkeit der Antisemiten aus allen Lagern, egal, ob sie rechtsextreme, linke oder islamistische »Gesinnungsgemeinschaften« beflügeln. Der Effekt ist immer derselbe.
Dennoch verallgemeinert und vereinfacht er nicht. Er spricht nie von allen, aber von »sehr vielen, zu vielen und einer leider wachsenden Zahl. Und wenn nicht Zahl, so doch einer anschwellenden antijüdischen Militanz in Wort und Tat.«
Ich kann mich ihm nur anschließen, wenn er leidenschaftlich appelliert: »Wacht auf, schaut auf unsere Wirklichkeit. Judenpolitisch ist sie ein Albtraum. Nicht ›wie einst‹, aber schlimm genug. Wacht auf aus euren Wunschträumen, schaut auf eure vielen, selbst verschuldeten Defizite. Dann erkennt ihr auch eure Defizite uns Juden gegenüber. Hierzulande und in Israel. Selbsterkenntnis ist der Anfang jeder Besserung.«
Dem ist nichts hinzuzufügen.