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Eine neue Welle des Islamismus?

Wird Ahmed al-Sharaa zum Vorbild für eine neue Welle des Islamismus im Nahen Osten? (© imago images/UPI Photo)
Wird Ahmed al-Sharaa zum Vorbild für eine neue Welle des Islamismus im Nahen Osten? (© imago images/UPI Photo)

Gelingt es Ahmed al-Sharaa, in Syrien ein islamistisches Regime aufzubauen, wird das den Islamismus in der gesamten Region beflügeln.

Die Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS), die aus dem syrischen al-Qaida-Ableger Al-Nusra-Front hervorgegangen ist, und mit ihr verbündete islamistische Fraktionen haben in einem schnellen militärischen Vorstoß das Regime von Baschar al-Assad gestürzt und die Kontrolle über Teile Syriens übernommen.

Das Bild, das sich seitdem entwickelt, ist uneinheitlich. Auf der einen Seite zeigen sich HTS und ihr Anführer Ahmed Al-Sharaa (besser bekannt unter seinem mittlerweile abgelegten Kampfnamen Mohammed al-Julani) sehr pragmatisch, für ein Syrien einzutreten, in dem alle verschiedenen Bevölkerungsgruppen einen Platz haben sollen, und empfangen Delegationen aus westlichen und arabischen Ländern.

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Auf der anderen Seite geben Schritte wie die Bildung einer Regierung, in der es keine weltliche Vertretung gibt, und die Besetzung von Schlüsselpositionen wie der des Geheimdienstchefs und des Verteidigungsministers mit Islamisten Anlass zu großer Sorge. Die anfängliche Freude über den Sturz des Assad-Regimes wird von der Sorge vor der Herausbildung eines islamistischen Regimes überschattet, das der Vorbote einer neuen Welle des politischen Islams im Nahen Osten sein könnte, und das mehr als zehn Jahre nach dem Sturz der Herrschaft der Muslimbruderschaft in Ägypten.

HTS-Führer Ahmed al-Sharaa versucht, diesbezügliche Befürchtungen zu zerstreuen. Syrien werde sich nicht in ein Abbild der Taliban-Herrschaft in Afghanistan verwandeln; die beiden Länder seien sehr unterschiedlich und hätten völlig verschiedene Traditionen, da Afghanistan ein Land mit einer sehr starken Stammestradition ist. Syrien habe im Gegensatz dazu eine ganz andere Mentalität. So sei es undenkbar, Frauen Bildung zu versagen, wie die Taliban es den Frauen in Afghanistan antun.

Unterschiedliche Befunde

Beobachter in der Region sind sich uneinig darüber, wie sehr man al-Sharaas Beteuerungen Glauben schenken könne. Muhammad Abu Rumman, Professor für Politikwissenschaft an der Universität von Jordanien, ist etwa der Meinung, dass die Warnungen vor einem neuen Islamisten-Regime übertrieben sein dürften. Die »Errichtung eines fundamentalistischen islamischen Staates« gleich jenem der Taliban-Diktatur sei »aus vielen Gründen unwahrscheinlich, unter anderem wegen der Offenheit und des Pragmatismus, die al-Sharaa in den letzten Tagen gezeigt hat, und der Natur der syrischen Gesellschaft selbst, die zu Offenheit und Mäßigung und weg von religiösem Extremismus tendiert.«

Im Gegensatz dazu geht Jonathan Spyer in einem Text auf der Webseite des Arab Center for Countering Extremism (FCE) davon aus, dass Hayat Tahrir al-Sham die Erfahrungen, die sie in den vergangenen Jahren bei der Verwaltung der syrischen Provinz Idlib gemacht hat, nun als Modell für die zukünftige Regierungsführung in Syrien dienen könnte.

»Der in Idlib errichtete Staat war ein repressiver, autoritärer Staat, der nach islamischem Recht regiert wurde. Frauen mussten den Hidschab tragen; Alkohol, Musik und andere normale Freizeitaktivitäten waren verboten. Es war nicht erlaubt, sich den Anordnungen der Anführer von Hayat Tahrir al-Sham zu widersetzen. Nichtmuslime und Frauen durften in den [offiziellen] Vertretungsorganen nicht anwesend sein«, gibt Spyer zu bedenken. »Ahmad Al-Sharaa war de facto der Diktator der Provinz. In seinen Gefängnissen waren Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren und Folter an der Tagesordnung.«

Angesichts des Erbes von Hayat Tahrir al-Sham in Idlib und der Zusammensetzung der derzeitigen Übergangsregierung, in der keine säkularen Kräfte vertreten sind, sei die Bildung einer islamistischen Herrschaft, die aber einen pragmatischen Ansatz in der Innen- und Außenpolitik verfolgt, das wahrscheinlichste Szenario – und eines, das eine Vorbildwirkung und damit Auswirkungen haben könnte, die in der gesamten Region spürbar würden.

Neue Welle des Islamismus

In einem Bericht, der von den Analysten Manal Mahmoud und Mohamed Hazem für den Thinktank True Studies erstellt wurde, heißt es: »Wegen der Konflikte in einigen arabischen Ländern ist zu erwarten, dass die Rolle politisch-islamistischer Gruppen zunehmen wird, die versuchen werden, chaotische Zustände auszunutzen und von der Unzufriedenheit der Bürger mit etablierten Kräften zu profitieren, die ihre Rechte jahrelang vernachlässigt haben.«

Die Machtergreifung der islamistischen HTS-Miliz in Syrien werde es islamistischen Gruppen in anderen Ländern erleichtern, »mehr junge Menschen anzuziehen und sie für die Teilnahme an bewaffneten Aktionen zu mobilisieren, die sie in komplexen Konfliktsituationen in der arabischen Region voraussichtlich initiieren wollen«.

Auch Hussein al-Rawashdeh, Kolumnist mehrerer arabischer Zeitungen und Chefredakteur der jordanischen Zeitung Al-Dustour, ist überzeugt, der politische Islam werde in der Region erheblich an Bedeutung gewinnen, sollte es der Miliz gelingen, einen islamischen Staat zu errichten. »Vielleicht wird das, was Ahmed Al-Sharaa getan hat, zur Blaupause für das nächste Kapitel in der gesamten Region: Mit einem Federstrich wurde der Vorwurf des Terrorismus beiseite gewischt, bewaffnete Organisationen wurden in den Nukleus eines zivilen Staates verwandelt, und der politische Islam in all seinen türkischen, arabischen und asiatischen Versionen könnte die Bühne betreten.«

Der Aufstieg islamistischer Rebellen als neue Machthaber in Syrien dürfte, davon sind viele Beobachter überzeugt, nach Jahren der Stagnation einen neuen Ausgangspunkt für den politischen Islam darstellen. Wie stark diese Welle ausfallen wird, hängt davon ab, welche Ordnung sich unter Ahmed al-Sharaas Führung in Syrien durchsetzen und wie stark dieses Modell auf ähnliche Bewegungen und andere Staaten des Nahen Ostens ausstrahlen wird.

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