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Neuanfang: Eine Geschichte der Wiener Kultusgemeinde

Das Gemeindeszentrum der Israelitischen Kultusgemeinde in der Wiener Innenstadt. (© imago images/Depositphotos)
Das Gemeindeszentrum der Israelitischen Kultusgemeinde in der Wiener Innenstadt. (© imago images/Depositphotos)

Das neue zweibändige Werk von Raimund Fastenbauer bietet einen umfassenden Überblick über die Geschichte der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.

Mit Ein Neuanfang: Geschichte der Israelitischen Kultusgemeinde Wien von 1945 bis 2012 hat Raimund Fastenbauer einen umfangreichen Überblick über die Geschichte der Wiener jüdischen Gemeinde nach dem Ende der Shoah vorgelegt, in deren Zentrum stets die Kultusgemeinde und deren zahlreiche Einrichtungen standen. Die fast sieben Jahrzehnte währende Geschichte, auf deren Spuren sich Fastenbauer in dem zweibändigen Werk mit seinen knapp über tausend Seiten begibt, ist auch eine Geschichte wichtiger Aspekte der Zweiten Republik.

Die Struktur von Band eins orientiert sich an der Chronologie der Gemeindegeschichte, die Fastenbauer in acht Perioden unterteilt. Am Beginn steht der titelgebende Neuanfang 1945, an dem von der einst rund 200.000 Mitglieder zählenden jüdischen Gemeinde Österreichs nichts mehr übrig war.

Rund 65.000 von ihnen waren der Vernichtungspolitik des Nazi-Regimes zum Opfer gefallen. Bei den Juden, die sich nach Kriegsende in Österreich befanden, handelte es um weniger als fünftausend jüdische Ehepartner aus sogenannten Mischehen, die laut den Plänen der Nationalsozialisten erst nach dem »Endsieg« deportiert werden hätten sollen; um rund tausend Juden, die als sogenannte U-Boote versteckt überlebt hatten, um zurückgekehrte Überlebende aus den Konzentrations- bzw. Vernichtungslagern der Nazis; um rund 100.000 Displaced Persons, jüdische Überlebende aus Osteuropa; und um die wenigen Juden, die aus dem Exil zurückgekehrt waren. Was all diese Gruppen vereinte, war einzig »die traumatische Erinnerung an die Shoah und die sorgenvolle Furcht vor der Zukunft«.

Als am 16. Juni 1945 der Arzt Heinrich Schnur, der in »Mischehe« überlebt hatte, und nach dessen baldigen Rücktritt der Kommunist David Brill vom Staatsamt für Kultusangelegenheiten zum provisorischen Leiter einer neu aufzubauenden Kultusgemeinde ernannt wurden, glaubte kaum jemand daran, dass eine jüdische Gemeinde im Land eine Zukunft haben könne, zumal der in Österreich weit verbreitete Antisemitismus mit dem Untergang des Nazi-Regimes ja nicht einfach verschwunden war.

Fastenbauer zeichnet die Geschichte der Kultusgemeinde, in der ursprünglich noch Kommunisten die dominierende Kraft waren, über die folgende jahrzehntelange Vorherrschaft von Sozialdemokraten und die Veränderungen in den 1980er Jahren zur von 1998 bis 2012 währenden Amtszeit von Ariel Muzikant als IKG-Präsident nach. Die von ihm präsentierte Chronologie beinhaltet eine detailreiche Fülle an informativen Geschichten und Konflikten (religiöser, politischer und immer wieder auch persönlicher Art) sowie biografische Miniaturen über etliche der involvierten Personen. Zwei eigene Kapitel sind dem orthodoxen Judentum in Österreich und der Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion gewidmet.

Unterbrochen wird die weitgehend chronologische Darstellung durch thematische Exkurse zu den Themen, welche die Entwicklung der jüdischen Gemeinde prägten: Vom Umgang mit dem Nationalsozialismus und dem Streit um die Restituierung geraubten jüdischen Eigentums über die Kreisky-Ära, den Streit um die NS-Vergangenheit Kurt Waldheims und die Haltung der IKG zu Jörg Haider und der schwarz-blauen Regierung unter Wolfgang Schüssel bis zu antisemitischen Diskursmotiven, mit denen die jüdische Gemeinde im 21. Jahrhundert konfrontiert ist.

So groß die Zahl dieser thematischen Exkurse auch ist, sie lassen sich auf drei immer wiederkehrende Schwerpunkte zusammenfassen: Erstens der Umgang des Landes mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, der lange vom sogenannten Opfer-Mythos und bis ins neue Jahrtausend vom Streit um noch immer nicht gelöste Restitutionsfragen begleitet wurde, zweitens die permanente Konfrontation mit dem Rechtsextremismus (von den übrig gebliebenen Nationalsozialisten der unmittelbaren Nachkriegszeit über die Burschenschaften bis zur FPÖ und deren Vorfeldorganisation), und drittens, wie könnte es anders sein, auf den Antisemitismus, der selbstverständlich auch in den ersten beiden Schwerpunkten eine große Rolle spielte, aber bis heute ein darüber hinausgehendes und gesellschaftlich weit umfassenderes Problem darstellt.

»Ein mieses Volk«

Die wichtigste Persönlichkeit außerhalb der Gemeinde war ohne Zweifel Bruno Kreisky, der als Bundeskanzler von 1970 an dreizehn Jahre nicht nur die Politik Österreichs dominierte, sondern für die IKG auch immer wieder zum Kontrahenten erbitterter Auseinandersetzungen wurde. Zentraler Streitpunkt war zunächst die Haltung Kreiskys zu ehemaligen Nationalsozialisten, die er zu Ministern in seinen Regierungen machte, was ihm deutliche Kritik des Holocaust-Überlebenden und Nazi-Jägers Simon Wiesenthal einbrachte.

Kreiskys Reaktionen darauf befeuerten einen in mehreren Etappen und über mehrere Jahre ausgetragenen öffentlichen Streit, in dem der Kanzler sein Gegenüber nicht nur teils infam diffamierte, indem er ihn beispielsweise als »jüdischen Faschisten« und als Nazi-Kollaborateur und Gestapo-Informanten bezeichnete; er und führende SPÖ-Politiker griffen auch auf regelrecht antisemitische Motive zurück, um aus der Affäre um Kreisky Bestellung von Ex-Nazis zu Ministern eine »Affäre Wiesenthal« zu machen.

Die Kultusgemeinde reagierte auf die abfälligen Äußerungen Kreiskys mit großer Zurückhaltung – wohl auch aus Gründen der Parteiloyalität gegenüber der SPÖ und, wie Fastenbauer bemerkt, weil der bürgerliche Wiesenthal auch mit seiner Kritik an der sozialdemokratischen Führung der Gemeinde nicht hinter dem Berg hielt.

Doch schon im Streit mit Wiesenthal zeigte sich, was über die Jahre zu einer immer ausgeprägteren Obsession Kreiskys werden sollte: maßlose Anprangerungen Israels, in dem er den wahren Drahtzieher hinter der Affäre sah. Der Tiefpunkt seiner antisemitisch aufgeladenen Beschimpfungen des jüdischen Staates wurde in einem Interview mit dem deutschen Wochenmagazin Spiegel Ende 1975 erreicht, als Kreisky dem Journalisten zum Abschied erklärte: »Wenn die Juden ein Volk sind, so ist es ein mieses Volk.«

Kreiskys Haltung zu Israel war es denn auch, die im Laufe der Jahre einen nicht mehr zu kittenden Riss zwischen dem Kanzler und der jüdischen Gemeinde erzeugte. Als Österreich ab 1973 etliche Male zum Schauplatz blutiger palästinensischer Terroranschläge wurde, reagierte Kreisky auf jedes neue Blutbad mit immer wütenderen Attacken auf Israel, während er gleichzeitig den Paten des palästinensischen Terrors, Jassir Arafat, umwarb und ihm internationale Anerkennung zu verschaffen versuchte. »Die überbordende antizionistische Israelkritik [Kreiskys] ließ sehr bald die ambivalenten Gefühle, einen jüdischen Bundeskanzler zu haben, in der jüdischen Gemeinde erkalten«, schreibt Fastenbauer, »im Gegenteil: Mehrmals kam es zu Auseinandersetzungen auch mit der sozialdemokratischen IKG-Führung, der intern vorgeworfen wurde, nicht bestimmt genug aufzutreten.«

»Dem Normalen so entfremdet«

Immer wieder sahen sich Vertreter der Gemeinde und nicht zuletzt auch sozialdemokratische jüdische Vereinigungen gezwungen, Kreiskys Bemerkungen zurückzuweisen. Im September 1978 gab äußerte sich der Kanzler in einem Interview mit einer holländischen Zeitung folgendermaßen über den damaligen israelischen Premier:

»Aber er (Sadat) hat es mit Krämern, kleinen politischen Krämern wie Begin zu tun, einem kleinen polnischen Advokaten oder was er auch ist. Sie sind dem Normalen so entfremdet, sie denken so verdreht, diese Ostjuden. (…) Der Aberglaube, dass Juden intelligent sind, ist falsch. Sie sind genauso blöde wie die anderen, nur manchmal mit mehr Vorurteilen behaftet.«

Die IKG veröffentlichte daraufhin in ihrem Publikationsorgan Die Gemeinde eine »Resolution des österreichischen Judentums«, in der es hieß:

»Bundeskanzler Kreisky hat sich mit seinen unqualifizierten Äußerungen gegen das jüdische Volk, den Staat Israel und die Regierung Israels jeder Legitimation zu staatsmännischer Tätigkeit für ein demokratisches und neutrales Land begeben. Zur Wahrung der Ehre und des Ansehens Österreichs fordern wir alle demokratischen Mitbürger auf, sich von dieser Haltung des Bundeskanzlers zu distanzieren und aktiv ihrem Protest Ausdruck zu verleihen.«

Noch schärfere Worte fand der sozialdemokratische »Bund werktätiger Juden«, der sich in einem offenen Brief an den SPÖ-Parteivorstand wandte:

»Bruno Kreisky urteilt über Israel, dessen Regierung, Armee und Bevölkerung in einer Weise, die eines Idi Amin würdig ist und nicht eines Vorsitzenden unserer Partei und des Regierungschefs eines demokratischen Österreichs. (…) Seit dem Fall des Dritten Reichs wurde das Judentum von keinem Regierungschef eines demokratischen Landes mit solchen Worten bedacht.«

An Kreisky und der SPÖ prallten solche Proteste nicht nur ab, das Verhältnis des Kanzlers zu Israel wurde sogar immer schlimmer. Unter Kreisky wurde Österreich das erste Land, das die PLO, den Dachverband palästinensischer Terrorgruppen unter der Führung Arafats, offiziell als Vertreterin der Palästinenser anerkannte. Das hielt die Terrorgruppen aber nicht davon ab, weiterhin blutige israelfeindliche und antisemitische Anschläge in Österreich zu begehen, von der Ermordung des Wiener Stadtrats und Vorsitzenden der Österreichisch-israelischen Gesellschaft Heinz Nittel über den tödlichen Angriff auf das jüdische Gemeindeszentrum in der Wiener Innenstadt (beide 1981) bis zum Blutbad beim El-Al-Schalter am Flughafen Schwechat im Dezember 1985.

Während palästinensische Terroristen eine blutige Spur der Gewalt durch Österreich zogen, ließ der Kanzler der Fatah von Arafat in einem Schreiben ausrichten, dass er »auf der Seite der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker, und eben im Besonderen auf der Seite des palästinensischen Volkes« stünde. Und wie eine in Faksimile abgedruckte »Liste der palästinensischen Gesprächspartner in Damaskus« zeigt, parlierten österreichische Diplomaten im Nahen Osten mit Vertretern genau jener Gruppen, die in Österreich Juden und Israelis ermordeten.

Wandel

Für Fastenbauer stellt sich im Rückblick die Frage, »wieso die Periode einer eindeutigen Anlehnung der IKG an eine österreichische Partei [die SPÖ] nahezu dreißig Jahre dauern konnte«. Letztlich habe es der vielen Auseinandersetzungen mit Kreisky über den Umgang der SPÖ mit Nationalsozialisten und über das Verhältnis zu Israel gebraucht, »um zu zeigen, dass bei allen Verdiensten, die sich die Sozialdemokratie (und auch die Kommunisten) im Kampf gegen den Nationalsozialismus erworben hatten, jüdische Politik in Österreich unabhängig von österreichischen Parteien sein sollte«. Die Vorherrschaft der Sozialdemokratie innerhalb der IKG ging 1981 zu Ende, recht parallel zum relativen Niedergang, in den die Partei nach dem Abgang Kreiskys 1983 durchmachte.

Ab den 1970er Jahren setzte ein Wandel ein, der zum Aufbau einer breiten jüdischen Infrastruktur und zur Entstehung einer erneuerten Gemeinde führte, die, endlich aus dem parteipolitischen Schatten getreten, mit größerem Selbstbewusstsein aufzutreten begann. »Die jüdische Gemeinde kann seit damals auf die Entwicklung des jüdischen Lebens stolz sein«, lautet das Resümee Fastenbauers. »Letztendlich erwarb sich die jüdische Gemeinde den Respekt der Republik, die begann, ihr eine zumindest gleiche Bedeutung mit zahlenmäßig weit bedeutenderen Religionsgemeinschaften zuzumessen.«

Die oben zitierte Liste über Gespräche mit palästinensischen Terroristen in Damaskus ist nur eine von mehreren hundert Abbildungen, welche die Lektüre von Ein Neuanfang so spannend machen: Fotos, Faksimiles historischer Dokumente, Briefe, Zeitungsartikel und andere Quellen hat Fastenbauer in einer Reihe von Archiven und Sammlungen aufgespürt.

Orientiert sich Band 1 an der Chronologie, so stellt Band 2 eine Art Nachschlagewerk dar. Dargestellt werden die verschiedenen Parteien der jüdischen Gemeinde und ihre jeweiligen Zeitungen, jüdische Publikation außerhalb des institutionellen Rahmens der IKG, andere jüdische Vereine und Institutionen, Einrichtungen der jüdischen Infrastruktur und vieles mehr, ergänzt noch einmal durch eine umfassende Dokumentensammlung.

Dass der Autor selbst als Mandatar im Kultusrat und als langjähriger Generalsekretär der IKG selbst Teil der von ihm präsentierten Institutionen und ihrer Geschichte war, tut den beiden Bänden keinen Abbruch. Ein Neuanfang wird ohne Zweifel zu einem der Standardwerke zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Wiens werden.

Fastenbauer, Raimund: Ein Neuanfang. Geschichte der Israelitischen Kultusgemeinde Wien von 1945 bis 2012, Vienna University Press, Göttingen 2024.

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