Seit dem Überfall der Hamas auf Israel gewinnen antisemitische Geschichtsverdrehungen und Holocaust-Relativierungen im Westen an Popularität.
Jan Kapusnak
Israel behandle die Palästinenser so, wie Nazi-Deutschland die Juden behandelte, wird oftmals erklärt. Der Gazastreifen wird als Auschwitz des 21. Jahrhunderts bezeichnet und israelische Führungspersönlichkeiten werden mit Adolf Hitler verglichen. Der Davidstern wird als neues Hakenkreuz dargestellt und palästinensische »Flüchtlingslager« werden mit dem Warschauer Ghetto gleichgesetzt. Dem »rassistischen Regime« in Jerusalem wird vorgeworfen, eine »Endlösung der Palästinafrage« zu planen, einen »palästinensischen Holocaust«.
Diese absurden Behauptungen, Produkte des modernen Antisemitismus und der intellektuellen Ignoranz, gewinnen erschreckenderweise auch unter ansonsten rationalen Menschen an Popularität.
Holocaust-Inversion
Das NS-Regime stellt eine der tödlichsten totalitären Regierungen in der Geschichte der Menschheit dar. Der Nazismus wurde zum Synonym für das Böse und die Grausamkeit. Vergleiche anderer Staaten oder Politiker mit den Nationalsozialisten sind international so häufig geworden, dass sie oft ihre Bedeutung verlieren und in Banalität abgleiten.
Russlands Präsident Wladimir Putin rechtfertigt beispielsweise die Invasion in die Ukraine mit dem absurden Begriff der »Entnazifizierung«. Das Repertoire der russischen Propaganda ist endlos. Solche Analogien wirken wie ein politischer Fetisch: Sie schmälern nicht nur die monströse Natur der NS-Verbrechen, sondern greifen deren Opfer erneut an. In diesem Zusammenhang sind die zynischsten Ziele Israel und die Juden.
Josef Mengele, der sadistische Auschwitz-Arzt mit dem Spitznamen »Todesengel«, schrieb in seinem Tagebuch: »Wenn ein jüdisches Kind geboren wird oder eine Frau bereits mit Kind ins Lager kommt, weiß ich nicht, was ich mit dem Kind tun soll … es wäre nicht menschlich, das Kind ohne die Mutter als Zeugin seines Todes in den Ofen zu schicken, daher schicke ich sie zusammen in die Gaskammer.« Etwa 230.000 Kinder starben in Auschwitz. Die Nationalsozialisten führten brutale medizinische Experimente durch, folterten, vollzogen Massenexekutionen, ermordeten Menschen mit Gas und setzten Synagogen mitsamt den darin befindlichen Personen in Brand. Diese Gräueltaten forderten letztlich sechs Millionen jüdische Leben.
Und heute? Juden wird vorgeworfen, dasselbe Verbrechen an den Palästinensern zu begehen. Diese Anschuldigung ist umso schockierender, da sie einen Staat betrifft, dessen bloße Existenz gerade infolge des gegen Juden verübten Völkermords notwendig wurde.
In wissenschaftlichen Kreisen wird dieses Phänomen als »Holocaust-Inversion« bezeichnet. Es handelt sich um eine Verzerrung der Realität: Israelis werden als die neuen Nationalsozialisten dargestellt, Palästinenser als die neuen Juden. Gleichzeitig ist es eine Verzerrung der Moral: Der Holocaust wird als moralische Lektion für Juden präsentiert, aus der sie angeblich nichts gelernt hätten.
Diese Behauptungen beschränken sich nicht auf extremistische Stimmen; sie tauchten in Reden bei den Vereinten Nationen, in europäischen Parlamenten und auf Straßen westlicher Hauptstädte auf. Schilder bei anti-israelischen Demonstrationen weltweit zeigen häufig israelische Führungspersönlichkeiten mit Hakenkreuzen oder setzen den Davidstern mit dem Hakenkreuz und dem NS-Regime gleich. Solche empörenden Vergleiche übertreiben jedes israelische Vergehen und trivialisieren gleichzeitig die genozidale Natur der NS-Verbrechen. Sie schaffen eine falsche moralische Gleichwertigkeit zwischen einem Staat, der sich gegen Terroranschläge verteidigt, und einem Regime, das die Welt dominieren und ein ganzes Volk auslöschen wollte.
Die Nazifizierung Israels nimmt mit jeder israelischen Antiterror-Operation im Gazastreifen zu und ist nichts Neues; ihre Wurzeln reichen bis zur sowjetischen Propaganda und zu Jassir Arafat in den 1970er Jahren zurück. Auf der UN-Konferenz gegen Rassismus in Durban 2001 wurde Israel »Apartheid« und »Genozid« vorgeworfen, während Flugblätter, die Israelis als Nazis darstellten, frei zirkulierten, die entmenschlichende Rhetorik legitimierten und Antisemitismus unter dem Deckmantel des Kampfs gegen Rassismus verbreiteten.
Der Holocaust wird mit dem israelisch-arabischen Territorialkonflikt gleichgesetzt – eine so extreme Absurdität, dass Debatten über eine flache Erde im Vergleich dazu intellektuell produktiv erscheinen. Es gibt keine faktische oder historische Parallele zwischen diesen Ereignissen, was jedem mit grundlegenden Geschichtskenntnissen klar sein sollte. Und doch verbreiten sich diese Unwahrheiten. Wenn jede Gewalttat als »Genozid« bezeichnet wird, verliert das Wort selbst seine reale Bedeutung und Schwere.
Asymmetrischer Konflikt
Nach internationalem Recht und der Konvention von 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords muss ein Genozid spezifische Kriterien erfüllen: Die Absicht, eine nationale, ethnische, »rassische« oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten; die gezielte Tötung ihrer Mitglieder; die Verursachung schwerer Schäden mit dem Ziel, ihre physische oder psychische Existenz zu zerstören, und Maßnahmen, die das Fortbestehen der Gruppe in künftigen Generationen verhindern.
Auf israelische Operationen im Gazastreifen angewendet, wird keines dieser Kriterien erfüllt. Israel richtet sich gegen Terrororganisationen wie die Hamas. Zivile Opfer, so tragisch sie auch sind, sind nicht das Ziel der Operationen, sondern eine Folge der Antiterror-Maßnahmen. Es gibt keine Absicht, das palästinensische Volk als solches zu vernichten, es umzusiedeln oder dessen Fortpflanzung zu verhindern (die palästinensische Bevölkerung wächst).
Israel befindet sich in einem Verteidigungskonflikt, dessen Ziele auf Sicherheit ausgerichtet sind, nicht auf systematische Vernichtung von Zivilisten. Der Konflikt im Gazastreifen ist militärisch, nicht genozidal, weshalb Behauptungen über »israelische Genozidpraktiken« historisch und rechtlich unbegründet sind. Der Gebrauch des Wortes »Genozid« wird vielmehr oft durch das Ziel motiviert, Israel international zu delegitimieren. Verschiedene Resolutionen und Erklärungen, die Israel »genozidale Handlungen« vorwerfen, ignorieren die komplexe Realität des Konflikts.
Der israelisch-palästinensische Konflikt ist ein Lehrbuchbeispiel für asymmetrische Kriegsführung – jedoch nicht so, wie sie oft vom westlichen Publikum verstanden wird, das »machtlose Palästinenser« gegen das »dominante Israel« sieht. Der jüdische Staat verfügt über moderne Waffen, Drohnen, Präzisionsraketen und das Raketenabwehrsystem Iron Dome. Nach konventionellen Maßstäben ist seine militärische Überlegenheit klar, doch technische Macht allein garantiert keine narrative Dominanz auf internationaler Ebene.
Die dschihadistische Hamas, militärisch schwächer, hat eine andere Form von Macht gefunden. Ihre Taktik ist brutal und zynisch: sich unter Zivilisten verstecken, Angriffe starten und dann die unvermeidlichen Opfer als Mittelpunkt globaler Verurteilung der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) nutzen. Zivile Opfer werden zu Propagandainstrumenten, die Israel als genozidalen Aggressor darstellen. Die Hamas gewinnt scheinbare moralische Überlegenheit durch die von ihr verursachte humanitäre Krise. Die oft in den Medien zitierten Daten zu Opfern und Schäden werden von der Hamas streng kontrolliert, da das Gesundheitsministerium unter ihrer Aufsicht steht, wodurch Statistiken manipuliert werden können, um die Narrative von »Genozid« und »Nazifizierung« zu verstärken.
Die IDF stehen vor dem komplexesten Konflikt der modernen Militärgeschichte. In Gaza kämpft sie gegen einen Gegner, der jeden Quadratmeter der Stadt als Waffe nutzt. Die Hamas hat Tunnel bis zu sechzig Meter Tiefe gebaut, die als Militärstützpunkte und Verstecke für Führer dienen, wobei Zivilisten vom Schutz der Tunnel ausgeschlossen bleiben. Der Konflikt wird zusätzlich durch die Geiselnahme israelischer Bürger verkompliziert, deren Sicherheit Israel bei jedem Einsatz berücksichtigen muss.
Trotz dieser extremen Bedingungen bemüht sich Israels Militär, zivile Opfer zu minimieren. Massenhafte Warnungen an Zivilisten per SMS oder Flugblätter, Evakuierungskorridore und die Taktik des »Roof Knockings« (»Anklopfens«) vor Luftangriffen sind beispiellos in der Geschichte militärischer Konflikte und gehen über das vom Völkerrecht Geforderte weit hinaus.
Das Paradoxon asymmetrischer Konflikte ist evident: Militärische Macht allein garantiert keine narrative Dominanz. Israel kämpft präzise und hoch entwickelt, während die Hamas vorsätzlich Zahlen manipuliert und eine humanitäre Krise schafft, die von globalen Medien und westlichen Politikern emotional interpretiert wird, wodurch die Terrorgruppe moralische Überlegenheit vortäuschen kann, die sie in Wirklichkeit nicht besitzt. Die schwächere Seite gewinnt somit unverhältnismäßig großen Einfluss auf die internationale öffentliche Meinung.
Doppelt wirksam
In diesem Kontext ist es entscheidend, zwischen moralischer Autorität und ihrer propagandistischen Projektion zu unterscheiden. Israels militärische Überlegenheit ermöglicht es der Hamas, das Narrativ zu manipulieren, sodass Israel oft »im Nachteil« ist, weil sich das Publikum auf die Seite des vermeintlichen David in seinem Kampf gegen den vermeintlichen Goliath schlägt.
Behauptungen, die israelische Armee verhalte sich wie die Nationalsozialisten, sind antisemitisch. Die Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) besagt klar, dass die Bezeichnung Israels als Nazistaat antisemitisch ist, da solche Vergleiche keine Argumente, sondern Instrumente der Dämonisierung sind. Je stärker der Konsens ist, dass der Holocaust das absolute Böse war, desto verlockender ist es, ihn als Etikett gegen einen politischen Gegner zu verwenden, um diesen zu diffamieren.
Kritik an der israelischen Politik, wie sie an jedem anderen Land auch geübt wird, ist, wie die IHRA-Definition festhält, legitim. Aber wenn der jüdische Staat dämonisiert, delegitimiert oder nach doppelten Standards beurteilt wird, ist die Grenze zum Antisemitismus überschritten; Holocaust-Inversion ist eine seiner deutlichsten Formen.
Das Narrativ, dass »Opfer zu Unterdrückern wurden«, ist eine zynische Umkehrung der Realität. Sein Zweck ist nicht der Schutz der Palästinenser, sondern die Delegitimierung Israels. Vergleiche mit Nazis sind eine klare Form des Antisemitismus: Sie verzerren die Geschichte, dämonisieren Juden wegen ihrer bloßen Existenz (der Vorwurf des inhärenten, genetisch verankerten Bösen ist seit dem Mittelalter ein klassisches antisemitisches Motiv in Europa), vertauschen die Opfer- und Täterrolle und trivialisieren den Genozid an sechs Millionen Menschen.
Der Antisemitismus hat sich immer angepasst. Im Mittelalter wurden Juden als »Christenmörder« bezeichnet und des Ritualmords beschuldigt. Im 19. Jahrhundert machten Nationalisten sie für gesellschaftliche und wirtschaftliche Krisen verantwortlich. Im 20. Jahrhundert wurden sie das Ziel der rassistischen Pseudowissenschaft der Nationalsozialisten, die ihre physische Vernichtung legitimierte. Nach 1945 wurde eine offen antisemitische Sprache in Europa inakzeptabel; der Hass jedoch verschwand nicht, er änderte nur seine Form: Israel wurde zum neuen Ziel, zum »Juden unter den Staaten«. Für den Antisemiten ist der Vergleich Israels mit den Nationalsozialisten doppelt wirksam: Er delegitimiert den jüdischen Staat und leugnet die Einzigartigkeit jüdischen Leids.
Solche Parallelen basieren auf einer pseudopsychologischen Theorie, Opfer würden zu Tyrannen, die anderen das antun, was sie zuvor zu erleiden gehabt haben. Dieser Mythos ignoriert den historischen Kontext und reduziert Konflikte auf primitive Schemata. Die Vorstellung, dass das Überleben von Traumata zu Aggressionen gegen andere führt, ist in solch plumper Verallgemeinerung unbegründet und gefährlich, da sie die Dämonisierung von Juden legitimiert und deren Menschlichkeit infrage stellt.
Oft wird argumentiert, Juden sollten strenger beurteilt werden, weil sie einst so gelitten haben. Das ist absurd. Der Holocaust war kein »moralischer Lehrplan« für Juden, Auschwitz keine Erziehungsanstalt. Der Nationalsozialismus war keine dramatische Geschichte mit moralischer Lektion am Ende, sondern der systematische Versuch, ein ganzes Volk auszurotten. Niemand sollte aus dem Holocaust »lernen« – sein einziges Ziel war die Vernichtung der Juden. Von jemandem, der einen Genozid überlebte, zu erwarten, dass er ewig in moralischer Askese lebt, ist zynisch und entmenschlichend. Kein anderes Volk, das Massenmord erlebt hat, wird heute dafür getadelt, dass es seine Existenz verteidigt.
Politische Waffe
Die Anschuldigung, Israel täte den Palästinensern »dasselbe« an, was den Juden von den Nazis angetan wurde, ist grotesk. Der Holocaust war der geplante Genozid durch den NS-Staat, während Israel eine Demokratie ist, die um ihr Überleben gegen Organisationen kämpft, die offen seine Zerstörung fordern. Kontrollpunkte zur Terrorbekämpfung mit der Selektion auf der Rampe von Auschwitz zu vergleichen, ist eine obszöne Lüge, die das Andenken der Opfer verletzt.
Die Palästinenser haben mit Restriktionen und Einschränkungen zu kämpfen, doch ein Großteil ihres Leids resultiert aus Entscheidungen ihrer eigenen Führung, die Raketen statt Schulen – und wenn doch Schulen, dann solche, in denen Hass und Gewalt gelehrt werden –, und endlosen Krieg statt Kompromiss wählt. Jeder israelische Rückzug wurde mit mehr Gewalt und nicht mit Frieden beantwortet.
Holocaust-Inversion und die Nazifizierung Israels dienen nicht der Analyse der Realität vor Ort. Ihr Ziel ist es, Juden ihrer moralischen Legitimität zu berauben, ihnen das Recht auf einen Staat abzusprechen – und sie als größte Schurken der Geschichte darzustellen, die in vollem Bewusstsein der Nazi-Verbrechen zu Wiederholungstätern werden. Das ist keine Kritik an Politik, sondern eine politische Waffe. Wenn Israel das »neue Nazi-Deutschland« sein soll, kann es auch kein Existenzrecht haben, so der Tenor der Vorwürfe.
Die Inversion dient dazu, die NS-Verbrechen und die Handlungen anderer europäischer Staaten zu »säubern«, indem Israel ähnliches Verhalten vorgeworfen wird. Europäische Staaten entlasten sich von Schuld. Der auf Demonstrationen gern gerufene Slogan »Free Gaza from German guilt« entbindet Deutschland und Europa von der Last des Holocausts. Wenn Israelis Nazis sind, erscheint die Tatsache, dass europäische Regierungen den Juden nicht geholfen haben, nicht so schwerwiegend. Die Behauptung, Israelis verhielten sich wie Nationalsozialisten, soll die Sünden der (Ur-)Großeltern für lässlich erklären. Europa relativiert seine Schuld am Holocaust und verlagert die historische Last auf Israel.
Die Behauptung, »Juden haben einst gelitten und verursachen nun selbst Leid«, schreibt einer ganzen Nation kollektive Schuld zu. Kontrollpunkte, Militäroperationen oder Territorialstreitigkeiten mit Ghettos und Konzentrationslagern und Vernichtungseinrichtungen zu vergleichen, ist nicht nur historisch absurd, sondern auch moralisch beleidigend. Israel wird als Staat nur deshalb kritisiert, weil es jüdisch ist. Dies ist keine Kritik an konkreter Politik, sondern das antisemitische Stereotyp, Juden seien als Nation schuldig und moralisch fehlbar. Es ist keine realitätsgerechte Kritik, sondern gezielte Verzerrung, um das Existenzrecht der Juden und ihres Staates infrage zu stellen.
Die Erinnerung an den Holocaust darf nicht als politische Waffe verwendet werden. Holocaust-Inversion ist moderner Antisemitismus und muss ebenso entschieden abgelehnt werden, wie die Welt nach der Kulmination des Antisemitismus in der NS-Vernichtungspolitik einst sagte: »Nie wieder!« Der aktuelle, immer stärker zunehmende Prozess der Nazifizierung Israels durch die Antisemiten macht daraus ein: »Nie wieder ist jetzt!«
Jan Kapusnak ist freier Autor mit Sitz in Tel Aviv und schreibt regelmäßig über den Nahen Osten, Israel und geopolitische Fragen.






