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Die Nazifizierung des Antizionismus

Antizionisten bei einer Demonstration beim Parteitag der US-Demokraten in Chicago. (© imago images/Sipa USA)
Antizionisten bei einer Demonstration beim Parteitag der US-Demokraten in Chicago. (© imago images/Sipa USA)

Antizionisten treten nicht mit Glatzen und Springerstiefeln auf, die Kernbotschaft des Judenhasses ist aber dieselbe.

Ben Cohen

In einem Interview mit der Jerusalem Post am 28. August beklagte Yonathan Arfi, der Vorsitzende des französischen jüdischen Dachverbands Crif, dass die meisten seiner Mitbürger ein Verständnis von Antisemitismus haben, das in der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg verwurzelt ist. Die unauslöschliche Assoziation des Nationalsozialismus mit Judenhass, so Arfi, hindere die heutigen Generationen daran, den Antisemitismus als eine lebendige und aktuelle Bedrohung für die jüdischen Gemeinden in ihrer Mitte wahrzunehmen.

In Anbetracht der Tatsache, dass Arfi eine Gemeinschaft vertritt, die seit dem 1. Januar einen 200-prozentigen Anstieg antisemitischer Straftaten hinnehmen musste, verdienen seine Ansichten in dieser Angelegenheit ernst genommen zu werden. Und in einem Punkt hat er Recht: Antisemitische Skinheads gibt es immer noch, aber im Moment stellen sie nicht die größte Bedrohung für jüdische Gemeinden dar. Da sie jedoch als die wahren Erben der Ideologie des Holocausts angesehen werden, ist es für Gelegenheitsbeobachter nicht ersichtlich, dass die Antisemiten von heute nicht mehr so sehr darauf bedacht sind, sich den Kopf zu rasieren; nein, sie tragen Keffiyehs statt Hakenkreuze und skandieren »Vom Fluss bis zum Meer« statt »Sieg Heil«.

Glatzen & Springerstiefel out

Wegen dieser Optik richtet sich die Pro-Hamas-Solidaritätsbewegung, die seit den Gräueltaten vom 7. Oktober 2023 in den westlichen Ländern wie Pilze aus dem Boden geschossen ist, in den Augen vieler nicht gegen Juden an sich, sondern gegen Ideen und Symbole – den Zionismus, den Staat Israel –, die in der Sprache des Antikolonialismus angeprangert werden können, und nicht wegen ihrer Verbindungen zum Judentum.

Wenn es hier eine Logik gibt, könnte man sie vielleicht folgendermaßen erklären: Genauso wie die Ablehnung des Vietnamkriegs in den 1970er Jahren nicht zwangsläufig eine Ablehnung der Existenz Amerikas und der Amerikaner bedeutete, bedeutet die Ablehnung des israelischen Verteidigungskriegs im Gazastreifen in den 2020er Jahren nicht, dass man ein Antisemit der eliminatorischen Nazi-Sorte ist. Diese Ansicht wird durch die Tatsache gestützt, dass sich die Pro-Hamas-Bewegung als eine Regenbogenkoalition verschiedener Ethnien, Religionen und Lebensstile präsentiert, die ihre Rhetorik in allgemeine Appelle zu Gleichheit und Menschenrechten einbettet.

Aufgrund dieser Wahrnehmung halte ich es für einen Fehler, diese Debatte ausschließlich auf die Frage der Darstellung zu konzentrieren. Tatsache bleibt, dass wir es mit einem Aufschwung des Antisemitismus zu tun haben, der in seinem Ausmaß und seiner Giftigkeit seit dem Holocaust beispiellos ist. Und vieles von dem, das wir erleben, erinnert an die Zeit des Nationalsozialismus, insbesondere an die Zeit vor der Durchführung der Massenvernichtungspolitik zu Beginn der 1940er Jahre. In der Tat sind diese Anklänge ein wesentlicher Grund dafür, dass es in den jüdischen Gemeinden so viele düstere Gedanken darüber gibt, wohin das alles führen wird.

Anders, aber gleich

Natürlich gibt es erhebliche Unterschiede zwischen damals und heute. Der offensichtlichste ist, dass der Antisemitismus in der Nazizeit eine staatlich gelenkte Politik war, während er heute in den westlichen Ländern ein zivilgesellschaftliches Phänomen ist. Dennoch gibt es zwei Überschneidungen, auf die man hinweisen sollte.

Erstens diskriminieren westliche Regierungen ihre jüdische Bevölkerung zwar nicht aktiv, aber viele von ihnen nähren antisemitische Gefühle. Dies gilt sicherlich für Länder der Europäischen Union wie Spanien und die Republik Irland, die sich für die einseitige Anerkennung eines palästinensischen Staates eingesetzt und Sanktionen gegen Mitglieder der derzeitigen israelischen Regierung befürwortet haben. Diese Politiker haben im Wesentlichen die Vorstellung abgesegnet, dass Israel ein Schurkenstaat ist, der Kriegsverbrechen begeht und daher Wut verdient – Wut, die sich nur allzu oft gegen jüdische Gemeinden richtet. Wie Arfi betonte: »Wir alle leben mit dem Gedanken, dass manche Menschen Juden als legitime Ziele für einen Kampf betrachten, der viertausend Kilometer entfernt stattfindet.«

Zweitens spiegeln viele der von den Gefolgsleuten der Hamas unterstützten Taktiken und Methoden die vom Naziregime eingeführten antijüdischen Maßnahmen wider. Ein besonders schockierendes Beispiel wurde letzte Woche bekannt, als die ultralinke Neue Kommunistische Partei in Italien eine schwarze Liste von Institutionen und Personen veröffentlichte, die »den zionistischen Staat in Italien unterstützen oder fördern«. Im Grunde handelt es sich dabei um eine elektronische Version der Boykottkampagne der Nationalsozialisten gegen Geschäfte und Unternehmen in jüdischem Besitz in Deutschland während der 1930er Jahre, die einige Jahre später zum Holocaust beitrug.

Parallel dazu wird die jüdische Geschichte umgeschrieben und die jüdische Theologie karikiert. Social-Media-Plattformen wie X und Instagram werden mit Inhalten überschwemmt, welche die Verbindung zwischen dem Land Israel und dem jüdischen Volk verhöhnen und Israelis als aschkenasische Kolonisten darstellen, die vorsätzlich arabische Gebiete gestohlen haben.

Der Feed von Richard Medhurst, einem anglo-syrischen Propagandisten, dessen wirres Geschwätz von Irans Press TV und Russlands RT veröffentlicht wird, ist voll von abfälligen Verweisen auf aschkenasische Juden, um nur ein Beispiel zu nennen. Medhursts Mitdenker wie Scott Ritter, ein amerikanischer ehemaliger UNO-Waffeninspektor und verurteilter Pädophiler, und Mary Kostakidis, eine australische Reporterin, die Medhursts Hass auf den Zionismus begeistert aufgenommen hat, bilden eine zuverlässige Echokammer für dieses und andere Themen wie etwa die Verleumdung, dass die jüdische »Auserwähltheit« – eine rein religiöse Vorstellung über die jüdische Beziehung zu Gott – in Wirklichkeit eine Ideologie der rassischen und nationalen Überlegenheit ist.

All diese Ergüsse zielen darauf ab, ihr Publikum dazu zu bringen, alle Juden überall zu verachten: In Israel, wo sie die »einheimischen« palästinensischen Araber besetzen und verfolgen, und außerhalb, wo die große Mehrheit der Juden, die Israel unterstützen und dort Familie und Freunde haben, als von Natur aus verdächtig dargestellt werden.

Vom Anti-Zionismus zum Antizionismus

Wie ich schon früher argumentiert habe – und hier ist die Verbindung zwischen dem Antisemitismus des letzten Jahrhunderts und jenem dieses Jahrhunderts –, hat sich der Anti-Zionismus in »Antizionismus« verwandelt. Von seinem Bindestrich befreit, bleibt eine verschnörkelte, vielschichtige Verschwörungstheorie übrig, die den Anspruch erhebt, eine aufschlussreiche, befreiende und zwingende Erklärung dafür zu sein, warum die Welt in einem verrotteten Zustand ist.

Aus diesem Grund glaube ich, dass wir heute mit Fug und Recht von der »Nazifizierung« des Antizionismus sprechen können. Wie die nationalsozialistische Zeitung Der Stürmer unter Berufung auf den deutschen Historiker Heinrich von Treitschke auf ihrem Titelblatt »Die Juden sind unser Unglück« erklärte, sind es heute für deren Erben die »Zionisten«, welche dieselbe ruchlose Rolle spielen; doch im Grunde genommen gibt es keinen praktischen Unterschied zwischen diesen beiden Kategorien.

Wenn wir Nicht-Juden über die Übel des Antisemitismus aufklären wollen, müssen wir aufzeigen, dass der Antisemitismus über verschiedene historische Epochen hinweg einheitlich ist. Denn die Kernbotschaft entwickelt sich genauso wie die des Antisemitismus im Laufe der Jahrhunderte – von »Ihr habt kein Recht, als Zionisten unter uns zu leben« über »Ihr habt kein Recht, unter uns zu leben« zu »Ihr habt kein Recht zu leben«.

(Der Artikel ist auf Englisch vom Jewish News Syndicate veröffentlicht worden. Übersetzung von Florian Markl.)

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