Während sich die Welt an Syriens neuen Führer Ahmed al-Sharaa zu gewöhnen beginnt, sind nicht alle von der pragmatischen Fassade des islamistischen Milizführers überzeugt.
Shachar Kleiman
Seit der Eroberung von Damaskus versucht Ahmed al-Sharaa (besser bekann unter seinem Kampfnamen Abu Mohammed al-Julani) sich von seiner pragmatischen Seite zu zeigen. In Interviews mit der arabischen Presse und bei Treffen mit hochrangigen Diplomaten hat er stets eine beruhigende Botschaft vermittelt: Syrien hat seine Kriege hinter sich gelassen und hegt keinerlei Absicht, seine Revolution zu exportieren. Dennoch herrscht in der Region große Skepsis.
Unberechenbare Bedrohung
»Die aktuelle Lage in Syrien verdeutlicht die regionale Instabilität«, sagte der Analyst und strategische Berater in den Vereinigten Arabischen Emiraten Amjad Taha gegenüber Israel Hayom. »Die Türkei hat sich in Nordsyrien als Besatzungsmacht etabliert und gleichzeitig die Dominanz radikaler islamistischer Fraktionen unter ihrer Herrschaft orchestriert.«
Während der abgesetzte syrische Präsident Baschar al-Assad »der bekannte Teufel war, stellen die islamistischen Kräfte, welche die Zukunft Syriens gestalten, jetzt eine unberechenbare Bedrohung dar, deren nächste Schritte unvorhersehbar sind. Diese Gruppen, ähnlich wie die Hamas, mögen sich im Moment auf innenpolitische Themen konzentrieren, könnten aber katastrophale Eskalationen planen, die an die Anschläge vom 7. Oktober 2023 erinnern.«
Der regionale Fokus »hat sich von iranischen Stellvertretern zu einer türkischen Hegemonie verlagert. Die Türkei mag zwar pragmatischer erscheinen als der Iran, doch ihre als Teil einer langfristigen Siedlungsstrategie verübte ethnische Säuberung der kurdischen Bevölkerung in Nordsyrien stellt eine eklatante Verletzung der Menschenrechte und des Völkerrechts dar. Diese Handlungen erfordern eine einheitliche globale Verurteilung und ein entschlossenes Eingreifen.«
Laut Taha verleiht die von der türkischen PR-Maschinerie unterstützte Allianz zwischen der Muslimbruderschaft und Al-Qaida diesen Gruppen im Westen einen Anschein von Legitimität und untergräbt gleichzeitig die regionale Stabilität. »Der Nahe Osten hat keine andere Wahl, als diesen Herausforderungen durch diplomatische Lösungen zu begegnen und die dringende Notwendigkeit anzuerkennen, die türkischen Ambitionen einzudämmen und Gerechtigkeit für vertriebene und verfolgte Gemeinschaften zu gewährleisten.«
Wolf im Schafspelz?
Michael Barak von der Reichman-Universität in Herzliya teilt Tahas Bedenken. In einem Gespräch mit Israel Hayom merkte er an, dass Ahmed al-Sharaa seine wahren Absichten zu verschleiern scheine: »In den Vereinigten Arabischen Emiraten scherzen die Leute darüber, wie Islamisten die Doktrin des Talawun (Flexibilität) nutzen: Sie verhalten sich wie Chamäleons, indem sie vorübergehend Verhaltensweisen oder politische Maßnahmen annehmen, die ihren Grundsätzen widersprechen, um ihr Endziel zu erreichen«, sagte Barak. »Im Fall von al-Sharaa könnte diese Taktik die Stärkung des syrischen Nationalstaats in allen Bereichen – Sicherheit, Wirtschaft und Militär – beinhalten, um in fernerer Zukunft dann möglicherweise Israel zu bedrohen.«
Der libanesische drusische Politiker Wiam Wahhab kritisierte indirekt seinen Rivalen Walid Jumblatt, ebenfalls Druse, für dessen Treffen mit al-Sharaa in Damaskus. »Wer glaubt, dass al-Sharaa dem Libanon nützen kann, irrt sich. Er darf sich nicht in der Nähe der libanesischen Grenze aufhalten«, sagte Wahhab. Jumblatt hingegen scheint mit al-Sharaas Zusage, die Rechte der Minderheit zu schützen, zufrieden zu sein, obwohl drusische Gemeinschaften in Syrien ihre Besorgnis über den Aufstieg islamistischer Fraktionen zum Ausdruck gebracht haben.
Frustration im Iran
Der Oberste Führer des Irans, Ali Khamenei, äußerte kürzlich ebenfalls offen seine Unzufriedenheit mit den Entwicklungen in Syrien. Er räumte zwar ein, dass »eine Gruppe starker und respektabler Menschen entstanden ist, die sich Israel widersetzt«, bezeichnete die zentrale Rebellenkoalition Hayat Tahrir al-Sham (THS) jedoch auch als eine »Gruppe von Unruhestiftern, welche die Schwächen Syriens ausnutzen, um das Land ins Chaos zu stürzen«. Die Frustration des Irans rührt daher, dass er den wichtigen Waffenkorridor an die Hisbollah verloren hat und al-Sharaa behauptet, einen vom Iran geplanten »dritten Weltkrieg« vereitelt zu haben.
Katarischer Brückenbau
Die Niederlage der schiitischen Achse hat die islamistischen Staaten Katar und Türkei gestärkt. Der katarische Emir Tamim bin Hamad Al Thani und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan streben eine Dreierallianz mit Syrien an, um den von Saudi-Arabien geführten konservativ-islamischen Staaten entgegenzuwirken. »Katars Ziel ist es, sich als zentraler Vermittler zu positionieren und den Dialog mit allen Fraktionen aufrechtzuerhalten«, sagte der Katar-Experte an der Bar-Ilan-Universität in Ramat Gan, Ariel Admoni, gegenüber Israel Hayom. Dieser Ansatz nützt Katars frühere Verbindungen zu verschiedenen Rebellengruppen, einschließlich seiner derzeitigen Beziehungen zur Führung um al-Sharaa.
Doha benutzt die humanitäre Hilfe – wie die Anordnung des Emirs für eine Luftbrücke – als Deckung, um in Syrien an Einfluss zu gewinnen, insbesondere im Energiesektor. »Katar hat bereits mobile Kraftwerke nach Syrien geschickt und strebt wahrscheinlich Regierungsverträge mit dem aufstrebenden Regime an«, vermutet Admoni. Zugleich wies er Verschwörungstheorien über eine von Katar geplante Gaspipeline durch Syrien zurück und verwies stattdessen auf Investitionen in Flüssiggastanker durch Verträge, die mit China und Japan unterzeichnet wurden.
Bedenken bei den Nachbarn
Jordanien und der Irak, die beide an Syrien grenzen, beobachten die aktuellen Entwicklungen ebenfalls genau. Der jordanische Außenminister Ayman Safadi traf sich kürzlich mit al-Sharaa und vereinbarte gemeinsame Anstrengungen gegen Terrorismus sowie Waffen- und Drogenhandel.
Unter dem gestürzten Präsidenten Baschar al-Assad wurde die Grenze zwischen Syrien und Jordanien zu einem Zentrum des Drogenschmuggels, der das Assad-Regime durch den Verkauf des Amphetamins Captagon finanzierte.
Im Irak wiederum wächst der Druck auf die mit dem Iran verbündeten schiitischen Milizen, sich nicht öffentlich zu Syrien zu äußern, da sich Bagdad von den aufkommenden Bedrohungen und der neuen Führung Syriens distanziert.
Auch Ägypten mit seinen bedeutenden islamistisch orientierten Bevölkerungsteil überdenkt seine Haltung. »Ägypten versucht, die Normalität aufrechtzuerhalten, betont die Achtung der syrischen Souveränität und äußert gleichzeitig Unbehagen über die neue Führung Syriens«, erklärte Michael Barak.
Ägyptens Präsident Abdel Fattah el-Sisi hat versucht, die landeseigene Stabilität hervorzuheben und sie mit den Unruhen in Syrien zu kontrastieren. Kritiker, darunter die Muslimbruderschaft, werfen ihm jedoch eine ähnliche Unterdrückung der Bevölkerung vor wie jenes des Assad-Regimes. In den sozialen Medien wurde el-Sisi bereits vor möglichen Volksaufständen ähnlich wie in Syrien gewarnt.
Die Regierung von Noch-US-Präsident Joe Biden scheint vorsichtig optimistisch über al-Sharaas gemäßigtes Auftreten zu sein und hat das auf ihn ausgesetzte Kopfgeld von zehn Millionen Dollar ausgesetzt. Europa sieht in der Stabilität Syriens einen Schlüssel zur Rückführung von Millionen von Flüchtlingen, während Russland, das als großer Verlierer gilt, seine Truppen abzieht und möglicherweise sogar seine Stellung im Mittelmeerhafen Tartus aufgeben muss.
Der Text erschien auf Englisch zuerst beim Jewish News Syndicate. (Übersetzung von Alexander Gruber.)