Sehr geehrte Standard-Redaktion,
Farid Hafez meint in seinem Kommentar der Anderen („Demokratie und Islam – schon am Ende?“, Standard, 10. Juli 2013), auch für den politischen Islam sei die Demokratie „eine Staatsform mit Anziehungskraft“ und verweist als Beleg für diese These u. a. auf die ägyptische Muslimbruderschaft und deren Gründer Hasan al-Banna.
Lange Zeit, so schreibt Hafez, habe das Bonmot Winston Churchills auch für das „theoretische Denken des politischen Islam“ Gültigkeit gehabt, wonach die Demokratie die schlechteste aller Regierungsformen sei, mit Ausnahme aller anderen. Um dies behaupten zu können, muss Hafez allerdings über so gut wie alles hinwegsehen, wofür die Muslimbruderschaft ideologisch steht, seit sie von al-Banna im Jahre 1928 in Ismailia ins Leben gerufen wurde.
Der Lehrer und charismatische Prediger war überzeugt, dass die Unterlegenheit der arabischen und islamischen Welt gegenüber dem Westen auf die Abkehr der Muslime vom wahren Glauben und ihre Korrumpiertheit durch westliche Einflüsse zurückzuführen war. Den Ausweg aus dieser misslichen Lage sah er nicht etwa, wie Hafez suggeriert, in der Modernisierung und Demokratisierung der Gesellschaft, sondern ganz im Gegenteil in der Rückbesinnung auf den von Allah offenbarten Islam.
„Wir glauben“, so schrieb al-Banna, „dass der Islam ein umfassendes Konzept ist, das alle Bereiche des Lebens ordnet, Aufschluss zu jeder ihrer Angelegenheiten gibt und dafür eine feste und präzise Ordnung vorgibt.“ Der Islam war seinem Verständnis zufolge im wahrsten Sinne des Wortes totalitär. Von den intimsten privaten Angelegenheiten bis hin zu Fragen der Organisation von Gesellschaft und Staat lautete die stets gleiche Antwort: Der Islam ist die Lösung. Al-Bannas Grundüberzeugung ist bis heute das Motto der Muslimbruderschaft: „Gott ist unser Streben, der Prophet unser Führer, der Koran ist unsere Verfassung, der Djihad unser Weg und für Gott zu sterben unser höchstes Ziel.“
Wie mühelos zu sehen ist, stehen diese Grundsätze in fundamentalem Widerspruch zu einer demokratischen politischen Ordnung. Für al-Banna und alle ihm folgenden Muslimbrüder ist Gott der einzige Souverän. Niemand, und sei es eine durch demokratische Wahlen zustande gekommene Mehrheit, habe das Recht, an der von Gott vorgeschriebenen Ordnung etwas zu ändern. Für die Idee der Volkssouveränität, Grundlage jeglichen demokratischen Denkens, ist hier kein Platz: Wenn der Mensch glaube, nach seiner Willkür Regeln bestimmen zu können, setze er sich an die Stelle Gottes.
Deshalb gab es im Denken al-Bannas auch keinen Platz für Pluralismus. Als er sich im Jahre 1936 mit dem offenen Brief „Hin zum Licht“ an die Öffentlichkeit wandte, um zur Schaffung einer islamischen Gesellschaftsordnung aufzurufen, lautete sein erster Reformvorschlag an den ägyptischen König: Abschaffung des Parteienwesens und Zusammenfassung aller politischen Kräfte in einer starken, einheitlichen Führung. Die Muslimbrüder sind bis heute eine streng hierarchische, von oben nach unten nach dem Führerprinzip durchorganisierte Gruppierung, in der es keinerlei interne Demokratie gibt. Dass al-Banna den Nationalsozialismus mit einigem Wohlwollen betrachtete und ein vehementer Antisemit war, sollte an dieser Stelle nicht mehr verwundern.
Der Versuch, seinen Lesern ausgerechnet den Paten des modernen Islamismus als jemanden zu präsentieren, der wie einst Churchill die Demokratie für die beste aller möglichen Regierungsformen gehalten habe, ist schließlich auch deshalb ein Skandal, weil Hafez zu diesem Zwecke einen wesentlichen Punkt verschweigt: die systematische Diskriminierung der Frauen, die in einem islamischen Staat nach al-Bannas Vorstellung höchstens als Bürgerinnen zweiter Klasse existieren könnten.
Wie die grundsätzliche Schlechterstellung einer Hälfte der Gesellschaft mit Demokratie zu vereinbaren sein soll, bleibt das Geheimnis von Hafez und allen anderen, die der Meinung sind, Muslimbrüder und Demokratie seien kein Widerspruch.
Mit freundlichen Grüßen,
Mag. Florian Markl
Medienbeobachtungsstelle Naher Osten (MENA)