Während die Hamas die Türkei als ihren neuen sicheren Hafen betrachtet, wäre die Aufnahme der Hamas für Ankara ein riskanter Schachzug in einem geopolitischen Spiel.
Shimon Sherman
Jüngste Berichte über den Umzug des Hamas-Politbüros von Katar in die Türkei bedeuten, dass mit Ankara möglicherweise ein neuer wichtiger Akteur in den geopolitischen Kampf eintritt, der bisher hauptsächlich zwischen den beiden Polen Teheran und Jerusalem ausgetragen wurde.
»Die Berichte sind nicht bestätigt, und solange sie nicht bestätigt sind, können wir nur spekulieren. Wenn sie jedoch wahr sind, wäre es das erste Mal in der türkischen Geschichte, dass Ankara eine Terrororganisation beherbergt, die ein anderes Land zerstören will. Dies steht im Widerspruch zur traditionellen türkischen Außenpolitik«, sagte Hay Eytan Cohen Yanarocak, Forscher am Moshe Dayan Center for Middle Eastern And African Studies an der Universität Tel Aviv und Experte für die moderne Türkei am Jerusalem Institute for Strategy and Security (JISS).
Laut dem öffentlich-rechtlichen Rundfunkunternehmen Kan in Israel sind hochrangige Mitglieder der Hamas-Führung nach ihrer jüngsten Ausweisung aus Doha in die Türkei umgezogen. Dieser Bericht wurde von einem hochrangigen arabischen Diplomaten bestätigt. Diese Berichte erfolgten, nachdem amerikanische Quellen bestätigten, dass Katar die Hamas-Führung ausgewiesen hatte, die seit 2012 im Land zu Gast war.
Vergangene Woche bestätigte der Sprecher des katarischen Außenministeriums, Majed al-Ansari, diese Berichte auf einer Pressekonferenz und erklärte: »Die Hamas-Führungskräfte, die Teil des Verhandlungsteams sind, befinden sich jetzt nicht in Doha. Ich kann Ihnen ganz klar sagen, dass das Büro der Hamas in Doha für den Verhandlungsprozess eingerichtet wurde. Wenn es keinen Vermittlungsprozess gibt, hat das Büro selbst keine Funktion.«
US-Quellen behaupteten weiters, dass diese Verlagerung, die wenige Tage nach der Wiederwahl des ehemaligen Präsidenten Donald Trump erfolgt war, auf amerikanischen Druck auf Doha zurückzuführen sei, nachdem die Hamas einen jüngsten Waffenstillstandsvorschlag abgelehnt hatte.
Ankara hingegen hat den Umzug der Hamas-Führung in die Türkei dementiert. Am Montag sagte ein hochrangiger Diplomat: »Mitglieder des Politbüros der Hamas besuchen gelegentlich die Türkei. Behauptungen, das Politbüro habe seinen Sitz in die Türkei verlegt, entsprechen jedoch nicht der Wahrheit.« Auch die Hamas selbst hat die Behauptungen zurückgewiesen. In einem kürzlich veröffentlichten Beitrag auf dem Social-Media-Dienst Telegram bestritt sie, »dass die Hamas-Führung Katar verlassen und in die Türkei umgezogen sei, wie einige israelische Medien berichtet hatten«.
Naheliegendste Option
Die leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Nationale Sicherheitsstudien (INSS) der Universität Tel Aviv, Gallia Lindenstrauss, erklärte, die türkische Weigerung, offen mit der gesamten Hamas-Organisation in Verbindung gebracht zu werden, sei nicht neu. »Die Türkei betont den Unterschied zwischen dem politischen und dem militärischen Flügel der Hamas und hat im Laufe der Jahre behauptet, sie habe versucht, die Hamas zu mäßigen und den politischen Dialog unter den Palästinensern zu fördern. Wenn die Türkei nun das Hauptquartier der Hamas beherbergt, wird es für Ankara schwieriger, zu behaupten, nur den politischen Flügel der Hamas zu unterstützen.
Laut Lindenstrauss treibt die Türkei mit ihrem Auftreten ein Doppelspiel: So habe Israel »bereits Beweise für die Beteiligung von Hamas-Aktivisten mit Wohnsitz in der Türkei an terroristischen Aktivitäten gefunden, die darauf abzielen, Israelis zu schaden«, sagte sie.
Für die Hamas scheint ein Umzug in die Türkei die naheliegendste Option zu sein. Viele Familien der im Exil lebenden Hamas-Führung leben bereits hier. Darüber hinaus ist die derzeitige türkische Führung unter Präsident Recep Tayyip Erdogan während des aktuellen Kriegs mit Israel eine beständige Stütze für die Organisation gewesen.
So hat Erdogan in der Vergangenheit gesagt, dass er »fest hinter der Hamas« stehe. »Niemand kann uns dazu bringen, die Hamas als terroristische Organisation einzustufen. Die Türkei ist ein Land, das offen mit den Hamas-Führern spricht und sie unterstützt«, erklärte der türkische Präsident. Die türkische Regierung hatte sich zuvor auch damit gebrüstet, dass in türkischen Krankenhäusern während des Kriegs mehr als tausend Hamas-Mitgliedern behandelt wurden.
Die türkische Regierung hat Israel immer wieder scharf kritisiert, und Erdogan hat den jüdischen Staat bei vielen Gelegenheiten des Völkermords beschuldigt. Zuletzt verweigerte Ankara einem Flugzeug mit dem israelischen Präsidenten Isaac Herzog an Bord den Zugang zum türkischen Luftraum.
Während die Hamas einen Schritt in Richtung Türkei als sanfte Landung in einem sicheren Hafen betrachten könnte, wäre die Aufnahme der Hamas für Ankara allerdings ein riskanter und vielschichtiger Schritt in einem komplexen geopolitischen Spiel. Experten zufolge gibt es viele Faktoren, welche die Entscheidung der Türkei beeinflussen, wobei Ankara in erster Linie am Überleben der Hamas als potenzieller Verbündeter interessiert sei. »Die Türkei will nicht, dass der am 7. Oktober 2023 begonnene Krieg mit der Beseitigung der Hamas endet und ist daher bereit, ihr jetzt zu helfen«, sagte Lindenstrauss.
Imagepolitik Erdogans
Der Türkeiexperte am Moshe Dayan Center for Middle Eastern and African Studies der Tel Aviv Universität Eytan Cohen Yanarocak fügte hinzu, dass ein solcher Schritt obendrein wahrscheinlich ein Segen für Erdogans Zustimmungsraten wäre: »Das Hauptziel der Türkei bei der Aufnahme der Hamas besteht darin, ihre Öffentlichkeitsarbeit zu verbessern und Erdogans öffentliche Zustimmung im Inland zu erhöhen.« Der Druck der islamistischen Opposition in der Türkei könnte Erdogan dazu drängen, einen radikaleren Ton in seiner Politik anzuschlagen.
Yanarocak wies auch darauf hin, dass die Einladung der Hamas ein Schritt in einem noch komplizierteren Spiel sein könnte, das die türkischen Interessen in Nordsyrien betrifft. Seit vielen Jahren führt die Türkei einen Schattenkrieg gegen militante kurdische Gruppen in Syrien. Auch wenn Ankara viele dieser Milizen als Terrorgruppen eingestuft hat, konnte es die westlichen Länder nicht davon überzeugen, diesem Beispiel zu folgen.
Die Türkei könnte also daran interessiert sein, »sich in einem anderen Gebiet, nämlich Nordsyrien, einen Vorteil zu verschaffen, und die Hamas in diesem Bereich als Trumpfkarte einsetzen«, meinte Yanarocak. »Aus türkischer Sicht sind PYD und YPG [die Partei der Demokratischen Union mit ihren Volksverteidigungseinheiten, eine linksgerichtete kurdische politische Partei samt kurdischer Miliz] in Nordsyrien eine terroristische Vereinigung. Die Vereinigten Staaten betrachten diese Gruppierung jedoch nicht als Terrororganisation«, erklärte er. Seiner Meinung nach könnte Ankara versuchen, die Hamas als eine Art »Spiegel für den Westen« zu nutzen, um seine Agenda in Syrien voranzutreiben.
Neben den realpolitischen Überlegungen, die hinter der Annäherung der Türkei an die Hamas stehen, gibt es auch ideologische Strömungen. Seitdem die Muslimbruderschaft in Ägypten geschwächt, der Islamische Staat zerschlagen wurde und die Golfstaaten sich in Richtung Modernisierung bewegen, ist der radikale sunnitische Islam heimatlos geworden. Infolge dieser Entwicklungen hat sich die Türkei zu einem der Epizentren des Islamismus der Muslimbruderschaft entwickelt.
Yanarocak beschrieb die jüngste außenpolitische Agenda der Türkei als »von der Muslimbruderschaft geführt«. »Gemeinsam mit Katar ist die Türkei nun am ehesten in der Lage, die Bewegung der Muslimbruderschaft zu führen. Katar unterstützt die Bewegung finanziell und die Türkei logistisch, politisch und infrastrukturell.« Es sei unklar, ob die Unterstützung der Türkei ausschließlich politischer Natur sein wird oder auch militärische Aspekte umfassen werde. »Angesichts der Position der Türkei im Westen halte ich es jedoch für wahrscheinlich, dass sie sich zumindest in der ersten Phase auf politische Unterstützung beschränken wird. Die treibende Kraft ist hier eine Mischung aus islamistischer, neo-osmanischer und muslimischer Bruderschaft in der türkischen Politik.«
Geiselverhandlungen
Die neue Rolle der Türkei als Gastgeber für das Politbüro der Hamas hat Ankara auch in den Mittelpunkt der Vermittlungsbemühungen bei den Geiselverhandlungen mit Israel gerückt. Der Chef des israelischen Sicherheitsdienstes Shin Bet, Ronen Bar, besuchte kürzlich Ankara und traf sich mit Ibrahim Kalin, dem Chef des türkischen Geheimdienstes (MIT), was die Gerüchte weiter anheizte. Israel hat seinerseits allerdings vehement bestritten, dass die Türkei bei den Geiselverhandlungen eine Rolle spielt. So haben israelische Beamte offen erklärt, dass die Türkei »keine Rolle bei den Vermittlungsbemühungen spielen« werde, nachdem Katar von dieser Position zurückgetreten ist. Ein aufstrebender alternativer Kandidat für diese Position ist Ägypten.
Trotz dieser Erklärungen würde die Türkei durch die Aufnahme der Hamas-Führung einen für sie wertvollen Einfluss auf die Terrororganisation ausüben. Katar hatte zuvor behauptet, dass seine Rolle als Gastgeber der Hamas der Grund für seinen Einfluss auf die palästinensische Organisation sei.
Und der türkische Präsident Erdogan hat sich auch schon früher als Vermittler bei den Geiselverhandlungen angeboten. »Auf den ersten Blick ist eine solche Entscheidung ein Schlag für die türkisch-israelischen Beziehungen, aber es scheint, dass dies auch die Möglichkeit für türkische Vermittlungsversuche schaffen könnte«, sagte Lindenstrauss diesbezüglich. »Wie offen Israel für solche Vermittlungsversuche sein wird, ist fraglich, aber wenn die Türkei tatsächlich das Hauptquartier der Hamas beherbergt, wird sie dadurch einen Einfluss auf die Organisation haben, den sie bisher nicht hatte. Wie man am jüngsten Besuch von Ronen Bar in der Türkei sehen kann, kann sich Israel in der Frage der Freilassung der Geiseln nicht den Luxus leisten, angebotene Vermittlungen komplett abzulehnen.«
Yanarocak stimmte dieser Einschätzung zu und sagte, angesichts dessen könne man nachvollziehen, »warum Shin-Bet-Chef Ronen Bar der Türkei einen Besuch abgestattet hat. Soweit ich weiß, wird die Türkei immer stärker in die Angelegenheit der entführten israelischen Geiseln verwickelt. Die Türkei spielt zunehmend eine große Rolle, eine sehr ehrgeizige Rolle, aber es ist fraglich, ob die Türkei ihre Ziele erreichen und ob sie liefern kann.«
Handlungsspielraum Ankaras
Washington hat seinerseits erheblichen Druck auf Ankara ausgeübt, damit es sich von seinem Bündnis mit der Hamas distanziert. »Im Namen der Vereinigten Staaten möchte ich sagen, dass wir nicht glauben, dass die Anführer einer bösartigen Terrororganisation irgendwo ein angenehmes Leben führen sollten, und dazu gehört sicherlich auch eine Großstadt eines unserer wichtigsten Verbündeten und Partner«, sagte der Sprecher des US-Außenministeriums Matthew Miller.
Eine Reihe der Hamas-Politbüromitglieder stehe »in den USA unter Anklage, und das schon seit einiger Zeit. Wir sind der Meinung, dass sie an die Vereinigten Staaten ausgeliefert werden sollten«, fügte er in Richtung Ankara hinzu. Möglicherweise als Reaktion auf die jüngsten Entwicklungen hat das US-Finanzministerium auch Sanktionen gegen sechs Hamas-Funktionäre verhängt, darunter drei mit Sitz in der Türkei.
Von allen Faktoren, welche die Türkei von einem offenen Bündnis mit der Hamas abhalten, scheint denn auch die zentrale Position Ankaras in der NATO der wichtigste zu sein. »Als Mitglied der NATO und des westlichen Bündnisses wäre es ein großer Schaden für die Außenpolitik der Türkei, die Hamas zu beherbergen«, erklärte Yanarocak. Die Kontrolle der Türkei über die Bosporus-Straße und das Schwarze Meer sowie ihre potenziell einflussreiche Position in Bezug auf den russisch-ukrainischen Krieg werden Ankara jedoch wahrscheinlich eine gewisse Hartnäckigkeit ermöglichen, fügte er einschränkend hinzu.
Was Europa betreffe, so könnte die Trump-Regierung versuchen, die guten Beziehungen der Türkei zur Ukraine und zu Russland zu nutzen, um die von ihm angekündigten Verhandlungen voranzutreiben. »In diesem Sinne ist die Türkei ein unverzichtbarer Akteur in der NATO, unabhängig von ihrer Rolle im Nahen Osten«, was ihr einen größeren Handlungsspielraum verschaffe.
Lindenstrauss fügte hinzu, dass die Position der Türkei in der NATO nicht ausschließlich von den Amerikanern abhängt, auch wenn Washington unzufrieden ist. »Die Vereinigten Staaten haben scharfe Einwände gegen die Möglichkeit geäußert, dass die Türkei das Hauptquartier der Hamas beherbergt. Dies wird wahrscheinlich zu den Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Türkei beitragen, kann aber an sich die NATO-Mitgliedschaft der Türkei nicht untergraben, da es in der Charta des Bündnisses keine Klausel gibt, die den Ausschluss eines NATO-Mitglieds vorsieht«, erklärte die Expertin abschließend.
Der Text erschien auf Englisch zuerst beim Jewish News Syndicate. (Übersetzung von Alexander Gruber.)