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Moria, die Caritas und eineinhalb Millionen Euro

Das nach dem Brand neu aufgebaute Lager in Moria
Das nach dem Brand neu aufgebaute Lager in Moria (Quelle: Moria White Helmets)

Die Caritas Österreich kann oder will seit über sechs Monaten nicht offenlegen, was mit den Geldern geschehen ist, die sie für die Flüchtlingshilfe in Moria gesammelt hat.

Natalie Gruber

Anfang September brachte der Brand im Flüchtlingslager Moria die Insel Lesbos abermals in die internationalen Schlagzeilen. Jahrelang schon war Moria, klares Abschreckungsprojekt der europäischen Asyl- und Migrationspolitik, in den Medien weitaus präsenter als andere vergleichbare „Hotspots”.

Eben solange und wohl auch aus diesem Grund hatten sich seit genauso langer Zeit etliche NGOs auf Lesbos angesiedelt. Viele davon leisten professionelle, lösungsorientierte Arbeit und genießen das Vertrauen der Menschen im Lager. Doch Moria war auch immer Schauplatz dafür, was im Bereich der internationalen humanitären Hilfe falsch läuft.

In Krisensituationen finden sich neben lösungsorientiert arbeitenden NGOs immer auch andere Akteure, die die Umstände für ihre eigenen Interessen missbrauchen. Manche nutzen das Chaos für kriminelle Aktivitäten und Korruption. Auch solche gab es in Moria.

Doch neben ihnen fanden und finden sich eine ganze Reihe anderer NGOs auf Lesbos, die zwar nicht kriminell, aber höchst unprofessionell handeln. Die – ob bewusst oder unbewusst – die Krise als Chance nutzen, sich zu profilieren. Die keinerlei Bezug zu, Erfahrung mit oder Partnerorganisation auf Lesbos haben und dennoch Millionen an Spendengeldern sammeln. Nicht, weil sie sinnvolle Projektideen haben. Sondern weil sich Moria und das politisch gewollte Leid der Menschen gut verkaufen lassen.

Immer dasselbe Schema

Das Schema ist immer dasselbe: Mit Mitleid erregenden Bildern werden Spendenkampagnen gestartet, samt großer Versprechungen zu deren Verwendung. Konkrete Pläne oder lokale Partnerorganisationen gibt es nicht, dafür Mitarbeiter die für ein paar Tage am Brennpunkt des Geschehens sind und bestürzt über die „Lage vor Ort” berichten. Schon am Inhalt dieser Kampagnen ist meist zu erkennen, dass von den Versprechungen am Ende nicht viel übrigbleiben wird.  

Bei weitem nicht das einzige aber ein Paradebeispiel für ebendieses Verhalten war dieses Jahr die Caritas Österreich. Anfang März sammelte sie in einer großen Spendenkampagne eineinhalb Millionen Euro für Lesbos. Angekommen ist auf der Insel davon aber auch sechs Monate später praktisch nichts. Dennoch startete die Organisation sofort nach dem Brand im September eine neue Fundraising- Kampagne und sammelte knapp 300.000 Euro zusätzlich.

In Österreich leistet die Caritas hochprofessionelle Arbeit, die wirklich ankommt. Dort hat sie Expertise, Kapazitäten, Strukturen, Erfahrung und wohl verdientes Vertrauen. Dass das auf Lesbos anders ist, war von Anfang an offensichtlich. 

Schleppende „Akuthilfe“

Anfang März startet die Caritas ihre Spendenkampagne. Kurz danach fliegt Klaus Schwertner, Geschäftsführer der Caritas Wien, mit einem zweiten Mitarbeiter nach Griechenland, „da die Türkei und Griechenland nicht mehr in der Lage“ wären, alle Schutzsuchenden zu versorgen. In Athen machen sich die beiden „ein Bild von der Lage“ und meinen: „Wir sind vor Ort und helfen.“ Wie diese Hilfe aussieht und warum man zuerst Spenden sammelt und sich dann erst ein Bild der Lage vor Ort macht, steht in den Sternen. 

Zwei Tage später melden sich die beiden per Live Stream aus Lesbos, laut eigener Aussage aus dem Camp Moria. Den Bildern nach zu urteilen stehen sie allerdings im Olivenhain davor, sie haben wohl keinen Zugang zum Camp selbst. Immerhin erkennen sie die Probleme: die Wasser- und Energieversorgung müsse in den Griff gebracht werden, es gebe zu wenige Toiletten und Sanitäranlagen. Dass dieser Missstand nicht an mangelndem Geld, sondern politischem Kalkül liegt, scheint den beiden jedoch nicht in den Sinn zu kommen. 

Laut den Aussagen der Caritas-Mitarbeiter im Video brauche es also viel Geld, außerdem bestehe höchste Dringlichkeit: es gehe darum, „Spenden aufzustellen, Hilfe zu ermöglichen, und zwar rasch – das ist das Gebot der Stunde.“ Immer und immer wieder wird um weitere Spenden gebeten: „Für Lesbos“. 

Die Spendenaufrufe wirken, das Spendenziel wird laufend erhöht, am Ende sind es eineinhalb Millionen Euro. Doch bis zum Brand in Moria, bis auf einen Tag exakt sechs Monate nach dem Video „aus Moria“, hat die Caritas keines ihrer angekündigten Vorhaben umgesetzt. Was ist passiert?

Nachdem Schwertner zurück in Österreich ist, wird es auf der Caritas-Seite still um Lesbos und Griechenland. Nach einem Monat beginnen einige Leute damit, nachzufragen, was mit dem Geld passiert ist – per Facebook, E-Mail und Telefon. Es werde bald Informationen dazu geben, ist die Antwort der Caritas. Vom „Gebot der Stunde“ und der „raschen Hilfe“ scheint nichts mehr übrig zu sein.

Knapp zwei Monate nach dem Start der Spendenkampagne veröffentlicht die Caritas ein erstes Update: Sie ist stolz auf die größte Facebook- Spendenkampagne jemals in Österreich. Mit dem Geld habe die Caritas Hellas in den Lagern Moria auf Lesbos und Vial auf Chios diverse Hilfsgüter besorgt, verteilt wurden diese allerdings bislang nicht, da die Organisation keinen Zugang zu den Lagern habe.

Auf Chios, so heißt es im selben Post, sei die erste „Akuthilfe“ möglich gewesen: ein Krankenwagen könne dort wieder zum Einsatz kommen. Wie akut die Hilfe ist, wenn es zwei Monate dauert, bis sie ankommt, sei dahingestellt. 100.000 € wurden an Ärzte ohne Grenzen übergeben, für Samos. 

Auf Lesbos ist also bisher noch nichts von den Spendengeldern angekommen. Ganz besonders interessant ist allerdings, dass laut dem Update angeblich auch Projekte am Balkan, speziell in Bosnien & Herzegowina sowie Serbien, durchgeführt werden. Nähere Informationen zur Art der Projekte, über Beträge oder Partnerorganisationen fehlen auch hier. Fest steht nur: Plötzlich wird das Geld nicht nur an anderen Orten als Lesbos ausgegeben, sondern in anderen Ländern.

Professionell sieht anders aus

Mitte Mai folgt ein weiteres Update. Als gute Nachricht tituliert, illustriert dieser Post unfreiwillig zwei große Probleme. Dazu reicht es, sich folgenden Abschnitt anzusehen. Schwertner beschreibt darin den Moment, in dem er eine Nachricht aus Griechenland erhält: 

„Wir können verteilen“, stand darin. Ich kann es kaum glauben. Habe Tränen der Freude in den Augen, greife sofort zum Handy und rufe Thomas (Mitarbeiter der Caritas, Anm.) an. „Stimmt das wirklich?“, frage ich. „Ja, Klaus endlich geht die Hilfe im großen Stil los“, antwortet auch er spürbar erleichtert.” 

Die Caritas offenbart mit diesem Text, dass bisher keinerlei Hilfe dort angekommen ist, wo sie ankommen hätte sollen. Er zeigt, dass die Caritas bis zu diesem Zeitpunkt, zweieinhalb Monate nach ihrem Ausflug nach Moria, immer noch keinen Projektplan hat.

Entgegen diverser später folgender Rechtfertigungen seitens der Caritas entspricht dies ganz und gar nicht professionellen Standards. Zwar gehen auch einige andere große internationale Organisationen ähnlich vor. Es ist jedoch unumstritten, dass professionelle Arbeit anders aussieht: zuerst ein Bild der Lage vor Ort machen, Partnerorganisationen identifizieren, Projektplan aufstellen, dann die Spendenkampagne zu dessen Finanzierung durchführen. 

Das andere Problem zeigt sich, wenn man im weiteren Text erfährt, was verteilt werden kann. Die „Hilfe im großen Stil“?  40.000 Rollen Klopapier.

Wenn man das Klopapier den Geflüchteten auf Lesbos gegenüber erwähnt, bringt sie das bis heute noch zum Lachen. Zugleich hat es ihnen abermals bestätigt, was sie schon so oft erlebt haben: Es geht nicht um sie und ihre Bedürfnisse, sondern ums Spendensammeln und -ausgeben. Um die PR. Sonst wäre das niemals passiert.

Die Reaktion des Moria Corona Awareness Team (MCAT), einer von Geflüchteten selbstorganisierte NGO in Moria, sagt alles aus. Die Gruppe beschreibt ihre Verwunderung darüber, wie jemand auf die Idee kommen könne, es gäbe bezüglich Klopapier eine Lücke zu Füllen – wenn doch die Campbewohner statt Klopapier nur Wasser verwenden. Sie weist auch darauf hin, wie schädlich es wäre, würde Klopapier verwendet werden: Das so auch schon vollkommen unzureichende Abwassersystem würde sofort verstopft sein.

Das Team bedankte sich zwar für die Solidarität und den Willen, zu helfen, bat aber wiederholt um eine simple Sache: mit den Menschen selbst zu sprechen, denn die wissen am besten, was gebraucht wird. 

Das hat die Caritas mit Sicherheit nicht getan. Ihre Reaktion auf dieses Posting des MCATs war enttäuschend und bestand hauptsächlich aus hohlen PR-Phrasen über die Wichtigkeit von Transparenz – ohne ebendiese sicherzustellen. Sie erwähnt außerdem wieder „lokale Partner“ – auf Nachfrage gibt es aber auch hierzu keine Antwort, um wen es sich dabei handle. Danach wurde das Klopapier von der Caritas nie wieder erwähnt. Es ist nicht klar, ob es überhaupt jemals ausgeteilt wurde.

Spannende Strategie

Über den Sommer geschieht: nichts. Also gilt auch für Ende August, sechs Monate nach dem Start der Spendenkampagne, dass von den 1,5 Millionen Euro in Moria nur Klopapier angekommen ist, an anderen Orten in Griechenland ein Krankenwagen und 100.000€. 

Am 8. September beginnt der Brand, der das Lager Moria schließlich zerstört. Während das Feuer am nächsten Tag noch wütet und vollkommen unklar ist, wie es auf Lesbos weitergehen wird, startet die Caritas Österreich einen neuen Spendenaufruf. Schnell bringt dieser zusätzliche 250.000€ ein.

Als Reaktion darauf fragten erneut einige Menschen (die Autorin eingeschlossen) bei der Caritas nach, was mit den ursprüngliche eineinhalb Millionen geschehen sei. Anfänglich gab es von der Caritas dieselben leeren Phrasen als Antwort, mit denen Transparenz zum höchsten Gut erklärt wird, während keinerlei Informationen folgen.

Eine Woche später folgt dann eine etwas detailliertere Auflistung, in der abermals Projekte entlang der Balkanroute erwähnt werden. Auch wird plötzlich erstmals ein Projekt zur Unterstützung der griechischen Bevölkerung erwähnt. Nach über einem halben Jahr wird aber – mit Ausnahme der Caritas Hellas – immer noch keine Partnerorganisation mit Namen genannt, konkrete Projektinhalte und Beträge fehlen vollkommen. 

Am 18. September steht in einem Posting, die „Nothilfe“ komme an. Ob damit die aus dem März oder die aus dem September gemeint ist, ist nicht klar. Jedenfalls werde Essen ausgeteilt. Auf Nachfrage einer Österreicherin auf Lesbos, an welchem Ort genau dies stattfinden soll, gibt es keine Antwort. 

Kurz danach heißt es in einem Posting, es wären „wilde Gerüchte, Verleumdungen im Umlauf, Fakenews (=Lügen)“. Damit scheinen all jene gemeint zu sein, die seit Monaten nachgefragt hatten, was mit dem Geld geschehen sei. Dabei wurden, zumindest in allen öffentlichen Postings zum Thema, nie irgendwelche Behauptungen aufgestellt. Die Nachfragen waren nichts anderes als das: Nachfragen. Wo die Spendengelder verblieben sind, mit welchen Partnerorganisationen Projekte durchgeführt werden, und an welchen Orten. Die Caritas ist nicht verpflichtet, das alles öffentlich bekannt zu geben. Dann kann sie aber nicht behaupten, sich dem Prinzip der Transparenz verschrieben zu haben. 

Zwar hat die Caritas bis jetzt noch keine weiteren Details oder Partner genannt. Ende September wurde sie jedoch von der NGO Movement on the Ground auf Lesbos als Partner erwähnt. Abgesehen davon, dass auch hier die Rolle der Caritas unklar bleibt, ist diese NGO ein mehr als fragwürdiger Partner, da die niederländische Organisation in einen Skandal rund um heimliche Vergaben von Projektaufträgen mit Zahlungen in Millionenhöhe verwickelt ist. Außerdem steht sie in einem Naheverhältnis zur griechischen Armee und dem griechischen Premierminister Mitsotakis, sodass es immer mehr so wirkt, als agiere die NGO auf Lesbos als verlängerter Arm der niederländischen und griechischen Regierungen. Ob sich die Caritas, die kaum Planung in ihre Projekte in Griechenland zu stecken scheint, dessen bewusst ist, ist zweifelhaft. 

Auch viele andere NGOs, zum Beispiel Drop in the Ocean, müssen sich dieselben Fragen gefallen lassen. Sich selbst – als Reaktion auf legitime Fragen nach dem Verbleib einer enormen Summe von Spendengeldern, über deren Verwendung nach sechs Monaten immer noch nichts bekannt ist – als Opfer einer Verleumdungskampagne zu inszenieren, ist auf jeden Fall eine spannende Strategie der Caritas.

Pars pro toto

Immerhin könnte man, nach etlichen Beteuerungen über den eigenen Willen zur Transparenz, auch einfach die Informationen veröffentlichen. Oder zumindest erklären, weshalb das nicht möglich ist. Ganz besonders fragwürdig wird das Ganze dann, wenn zeitgleich eine neue Spendenkampagne gestartet wird.

Die Caritas ist, wie erwähnt, kein Einzelfall. Sie dient nur als ein Beispiel von vielen, um das zugrundeliegende Problem der Arbeit vieler großer internationaler NGOs zu verdeutlichen: die Praxis des Spendensammelns als reiner Selbstzweck – auf dem Rücken derer, denen damit geholfen werden soll, die aber nur mehr als Motiv für erfolgreiche Kampagnen-Videos dienen.

Natalie Gruber, geb. 1989, studierte Internationale Entwicklung in Wien. Parallel zu einem Forschungsaufenthalt in Nepal gründete sie 2015 gemeinsam mit einem syrischen Flüchtling den Verein Josoor um Flüchtlinge und Unterstützungsinitiativen zu vernetzen. Seit März 2020 unterstützt der Verein Flüchtlinge in der Türkei, die von Griechenland und Bulgarien in illegalen Pushbacks zurückgeschoben werden. Als Teil des Border Violence Monitoring Networks dokumentiert Josoor Menschenrechtsverletzungen an der europäischen Außengrenze. 

Update

Herr Martin Gantner, Pressesprecher der Caritas der Erzdiözese Wien, teilt uns dazu mit:

Als Caritas Österreich legen wir Wert auf die Feststellung, dass wir die Inhalte dieses Gastbeitrags in keiner Weise nachvollziehen können. Eine Übersicht über unsere Hilfe vor Ort auf Lesbos und auf anderen Ägäisinseln sowie am griechischen Festland und in den unterschiedlichen Ländern des Balkan findet sich auf der Webseite der Caritas Österreich und wird dort laufend aktualisiert. Ebendort wird nicht nur auf die Hilfe hingewiesen, die auf Lesbos und an anderen Hotspots bereits vor dem verheerenden Brand des Flüchtlingslagers Moria geleistet wurde, sondern es sind auch jene Hilfsmaßnahmen angeführt, die gemeinsam mit unseren Partnern seit dem Brand zusätzlich umgesetzt werden konnten. Wir bleiben weiter dran, um die Situation für die Betroffenen zu verbessern und wir werden auch weiter für eine Sofortevakuierung der Lager auf den griechischen Inseln werben. Denn klar ist: Die Hilfe, die wir und die viele andere Hilfsorganisationen und auch kleinere Initiativen vor Ort leisten, kann eine politische Lösung nicht ersetzen.

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