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Wie eine Polizistin ein Massaker in einer jüdischen Schule verhinderte – und dafür mit ihrem Leben bezahlte

Von Florian Markl

„Voilà! Dann wissen Sie ja, warum ich hier bin. Allahu Akbar!“ Mit diesen Worten eröffnete Amedy Coulibaly am 9. Januar 2015 das Feuer auf die Kunden eines koscheren Supermarktes in Paris. Die vier Opfer Coulibalys starben nicht „als Angehörige verschiedener Religionen, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren“, wie die österreichische Bundesregierung in einer skandalösen Erklärung behauptete: Bevor er zu schießen begann, hatte Coulibaly sich versichert, dass die Anwesenden auch wirklich Juden waren; während die Geiselnahme noch andauerte, erklärte er in einem Telefoninterview unmissverständlich, das Ziel seines Anschlags seien „die Juden“ gewesen.

Wie es scheint, hatte Coulibaly bereits am Tag zuvor ein Massaker unter „den Juden“ anrichten wollen, wurde bei seinem Vorhaben aber von einer zufällig anwesenden Polizistin gestört: Dass sie zu einer Kreuzung in Montrouge kam, um einen kleineren Autounfall aufzunehmen, kostete Clarissa Jean-Philippe das Leben – verhinderte aber vermutlich ein Blutbad in einer in unmittelbarer Nähe gelegenen jüdischen Schule.

Dass auch die Ermordung Jean-Philippes einen antisemitischen Hintergrund gehabt haben dürfte, wurde in deutschsprachigen Medien in den Tagen unmittelbar danach noch gelegentlich erwähnt, geriet mittlerweile aber fast völlig in Vergessenheit. In den Wikipedia-Einträgen über den Attentäter Coulibaly und über die Geiselnahme in Paris etwa wird der Mord an Jean-Philippe ohne Hinweise auf seinen wahrscheinlichen Kontext bloß nebenbei erwähnt.

 

Vorbild Mohammed Merah

Wie John Rosenthal in World Affairs hervorhob, versuchte Coulibaly offenbar bis ins Detail, die Bluttat Mohammed Merahs zu wiederholen, der am 19. März 2012 vor einer jüdischen Schule in Toulouse vier Juden ermordet hatte.

Im Sommer 2014 wurden Coulibaly und seine Ehefrau Hayat Boumedienne von Sicherheitskameras aufgenommen, als sie eine jüdische Schule in Paris auskundschafteten – ein früher Beleg dafür, dass Coulibaly es seinem Vorbild gleichtun und gezielt jüdische Kinder attackieren wollte.

 

Coulibaly
Quelle: Le Monde Juif.info


Wie Merah näherte sich Coulibaly am Tag des versuchten Anschlags von Montrouge seinem wahrscheinlichen Ziel, der Yaguel Yaacov Schule, mit einem Motorrad. Wie Merah war er mit einer Maschinenpistole und einer Pistole bewaffnet. Wie Merah wäre er um ca. 8 Uhr früh eingetroffen, zu einer Zeit, in der viele Kinder gerade zur Schule gekommen wären.

Wie Merah hätte er aller Wahrscheinlichkeit nach das Feuer auf die jüdischen Schulkinder eröffnet – wenn ihm nicht im entscheidenden Moment die auszubildende Polizistin Jean-Philippe über den Weg gelaufen wäre.

Und wie Merah filmte Coulibaly seinen Anschlag tags darauf mit einer GoPro-Kamera. (Drei der vier Morde im jüdischen Supermarkt sind auf Video dokumentiert.) Die Erschießung Jean-Philippes scheint nicht aufgenommen worden zu sein. Ihr Auftauchen hatte ihren Mörder überrascht, der mit den Vorbereitungen auf seine geplante Tat, zu denen auch das Anbringen bzw. Anschalten der Kamera gehört hätte, noch nicht fertig gewesen sein durfte. Nach der Ermordung der Polizistin brach Coulibaly sein Vorhaben ab und verfolgte stattdessen Plan B – den am nächsten Tag erfolgten Angriff in Paris. Erst mittels DNA-Proben konnte Coulibaly mit dem zunächst rätselhaft erscheinenden Mord in Montrouge in Verbindung gebracht werden.

Anders als die Kunden des koscheren Supermarktes war die 26-jährige Jean-Philippe aus Sicht des Attentäters tatsächlich „zur falschen Zeit am falschen Ort“ – und rettete damit einer unbekannten Zahl der eigentlich ins Visier genommenen jüdischen Kinder das Leben.

 

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