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Warum Angela Merkel die Grenzen nicht schließen ließ

Dieser Tage erscheint ein Buch des Hauptstadtkorrespondenten der Welt am Sonntag, Robin Alexander. Der Inhalt, vorab in Auszügen unter anderem hier zu lesen, wird entweder zum Rücktritt Angela Merkels führen oder – was viel wahrscheinlicher ist – zeigen, dass politische Verantwortung in Merkels Deutschland nur als hohles Schlagwort existiert. Alexander beschreibt minutiös, dass die Entscheidung, die Grenzen zu öffnen und Dublin außer Kraft zu setzen, weder spontan war noch aus Not und schon gar nicht aus humanitären Motiven getroffen wurde.

Aber der Reihe nach: 2015 wusste man in deutschen Regierungskreisen spätestens seit Juni sowohl um die sich anbahnende Katastrophe in den Flüchtlingslagern, deren Mittel aufgrund der Kürzung der UN-Hilfsgelder nicht mehr ausreichten, um die Menschen zu versorgen, als auch von Strömen syrischer Flüchtlinge, die sich auf den Weg nach Deutschland machten. Am 4. September wurden die Grenzen für die in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge geöffnet. Alexander beschreibt, dass diese Entscheidung keineswegs – wie immer behauptet – spontan getroffen wurde sondern dass Merkel und Faymann „durch eine sorgfältig geplante und vorbereitete Aktion der ungarischen Regierung in diese Entscheidung hineingetrieben“ worden sind. In der Folge sind die damals aufgenommenen Flüchtlinge an der Grenze nicht einmal registriert worden. Bis heute weiß in Deutschland niemand mit Sicherheit, wer damals ins Land gekommen ist.

Die Flüchtlinge bringen die deutsche Infrastruktur an ihre Grenzen. Am Freitag, den 11. September 2015, erklären 14 Bundesländer, sie könnten nicht noch mehr Flüchtlinge aufnehmen. In ganz Deutschland werden 850 freie Plätze gemeldet – dem stehen 40.000 Neuankömmlinge gegenüber, die am Wochenende erwartet werden. Währenddessen steht die Kanzlerin für Selfies mit den Flüchtlingen Modell. Am selben Tag erscheint ein Zeitungsinterview, in dem sie erklärt: „Das Grundrecht auf Asyl kennt keine Obergrenze“. Dessen ungeachtet ist die Überforderung des Staatswesens so offensichtlich, dass die Regierung Merkel am 12. September beschließt, die Grenzen zu schließen:

Am Ende wird de Maizières Vorschlag angenommen. Es soll wieder Grenzkontrollen geben. Parallel dazu soll der Zugverkehr von Österreich nach Deutschland für zwanzig Stunden unterbrochen werden. Und – der springende Punkt: Flüchtlinge sollen an der Grenze zurückgewiesen werden. Jetzt entscheiden sich die führenden Politiker der großen Koalition also genau für das, was Angela Merkel wenig später öffentlich für unmöglich erklären wird.“

Die Einsatzbefehle sind längst ausgefertigt, die nötige Infrastruktur steht bereit, zusätzliche Polizisten werden an die bayrisch-österreichische Grenze geflogen: Sonntag um 18:00 Uhr sollen die Grenzen geschlossen werden. Davor soll um 17:30 in einer Pressekonferenz verkündet werden, dass ab jetzt an Deutschlands Grenzen neue Regeln gelten. Mit den zuständigen Beamten bemüht man sich um die rechtlichen Grundlagen:

Seit 14 Uhr wird im Lagezentrum des Innenministeriums darum gerungen. In diesem Konferenzraum, der mit großen Bildschirmen und neuester Kommunikationselektronik vollgepackt ist, haben sich der Minister, sämtliche Staatssekretäre, die Führung der Bundespolizei, sowie vier Abteilungsleiter und einige Unterabteilungsleiter und Referatsleiter versammelt. Aus Bonn telefonisch zugeschaltet ist der Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge Manfred Schmidt.“

Die Beamten äußern rechtliche Bedenken, Teile der SPD politische. Daraufhin setzt Innenminister de Maizière den politischen Willensbildungsprozess erneut in Gang und telefoniert drei Mal mit der Kanzlerin. Die verlangt von ihrem Minister Garantien, die niemand geben kann: dass die Entscheidung rechtlich halten und dass es zu keinen unpopulären Bildern an den Grenzen kommen würde. De Maizière knickt ein. Der Einsatzbefehl wird abgeändert, in der knappen Pressekonferenz werden statt Rückweisungen Grenzkontrollen angekündigt.

Obwohl die Bundespolizei für Rückweisungen bereit stand, der Innenminister diese für richtig hielt und die Kanzlerin samt den Koalitionspartnern zugestimmt hatte, blieb die Grenze am 12. September offen. Alexanders Fazit:

„Aus der ‚Ausnahme‘ der Grenzöffnung wird ein monatelanger Ausnahmezustand, weil keiner die politische Kraft aufbringt, die Ausnahme wie geplant zu beenden. Die Grenze bleibt offen, nicht etwa, weil es Angela Merkel bewusst so entschieden hätte, oder sonst jemand in der Bundesregierung. Es findet sich in der entscheidenden Stunde schlicht niemand, der die Verantwortung für die Schließung übernehmen will.“

Damit ist die Botschaft, die in den deutschen Belangsendungen von Anne Will bis Markus Lanz seit 2015 rauf und runter getrommelt wurde, die deutsche Willkommenspolitik sei eine alternativlose humanitäre Entscheidung, als bloßes Narrativ entlarvt. Genau genommen war es nicht einmal eine Entscheidung sondern nur eine Mischung aus verletzter Eitelkeit, politischer Feigheit und mangelnder Entschlusskraft. Der deutsche Bundestag wurde mit dieser Frage ebenso wenig befasst wie mit dem Rücknahme-Abkommen mit der Türkei. Ein entscheidendes Detail dieser Vereinbarung wurde der Öffentlichkeit bislang verheimlicht: Merkel verpflichtete sich gegenüber der Türkei, jährlich zwischen 150.000 und 250.000 syrische Flüchtlinge aufzunehmen.

Zusammengefasst: die deutsche Kanzlerin setzt sich über gültige europäische Abkommen hinweg (Dublin), öffnet die Grenzen für weit mehr als eine Million Menschen aus Kriegsgebieten, ohne dass auch nur eine zweifelsfreie Identifizierung der Neuankömmlinge möglich wäre, delegiert den Schutz der europäischen Außengrenzen an den türkischen Neo-Sultan und verpflichtet sich im Gegenzug, jedes Jahr zwischen 150.000 bis 250.000 Menschen aufzunehmen, die Deutschland nicht einmal selbst auswählen kann. Nichts davon wurde im deutschen Parlament beschlossen oder auch nur vorab debattiert. Die Bevölkerung wurde schlicht belogen.

Last but not least sollen nun Mitgliedsländer der Union die Folgen von Handlungen der deutschen Regierung mittragen, obwohl sie in die zugrunde liegenden Entscheidungen zu keinem Zeitpunkt eingebunden waren. Wer sich verweigert, wird moralisch diskreditiert und mit dem Verlust von EU-Mitteln bedroht. Doch was die deutsche Regierung von ihren Partnern fordert, ist nicht Solidarität sondern blinde Gefolgschaft.

Am 15. September, nur drei Tage nachdem sie von ihrer ursprünglichen Entscheidung, die Grenzen zu schließen, wieder abgerückt war, prägte sie in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Werner Faymann den berühmten Satz: „Dann ist das nicht mein Land.“ Wenn sich die Schilderungen Alexanders bewahrheiten, sollten ihr die Deutschen adäquat antworten: „Dann ist das nicht meine Kanzlerin.“

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