Viele Medien nehmen den 100. Jahrestag des sogenannten Sykes-Picot-Abkommens zum Anlass, um die Art und Weise zu verurteilen, wie die europäischen Mächte Großbritannien und Frankreich in Folge des Ersten Weltkrieges den Nahen Osten untereinander aufgeteilt hätten. Doch wie der Historiker Efraim Karsh hervorhebt, ist fast alles an den gängigen Geschichten über das Abkommen und seine Folgen unzutreffend:
„Einer weit verbreiteten Sichtweise zufolge wird der moderne Nahe Osten als eine künstliche Kreation des Westens gesehen. Diese Sichtweise, die Anhänger in allen Teilen des politischen Spektrums hat, lässt sich so zusammenfassen: Nachdem europäische Mächte im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert Teile des Osmanischen Reiches dessen Herrschaft entrissen hatten, trieben sie es in den Ersten Weltkrieg, um seinen Niedergang zu beschleunigen und sich dessen Länder einzuverleiben. Sie taten das, indem sie die naive arabische Nationalbewegung zu einer Revolte gegen ihre osmanischen Herren anstachelten, sie dann aber um die Früchte ihrer Arbeit betrogen und die Region unter völliger Missachtung der Forderung nach politischer Einheit in künstliche Staaten zerlegten. Damit schufen sie die Grundlage für eine Vielzahl künftiger Probleme des Nahen Ostens.
Obwohl nicht zu bestreiten ist, dass sich diese Thesen größter Beliebtheit erfreuen, führt auch kein Weg daran vorbei, dass sie in fast jedem Detail nicht nur nachweislich falsch, sondern oftmals das glatte Gegenteil der Wahrheit sind: Das Osmanische Reich war nicht das hilflose Opfer des europäischen Imperialismus, sondern ein aktiver Teilnehmer am Spiel der großen Mächte; die Zerstörung dieses Reiches war in erster Linie selbst verursacht; es gab kein arabisches Streben nach regionaler Einheit; die europäischen Mächte haben die politische Einheit des Nahen Ostens nicht zerstört, sondern die Region eher zu sehr vereinheitlicht; Großbritannien hat seine arabischen Verbündeten weder in die Irre geführt, noch einander widersprechende Zusagen in Hinblick auf die Nachkriegsordnung des Nahen Ostens gemacht; und die post-osmanischen Regionalordnung war nicht weniger das Werk lokaler Akteure als das der Großmächte.“
(Übersetzung einer Passage aus Efraim Karsh: „The Tail Wags the Dog. International Politics and the Middle East“)