Sexuelle Belästigung in Ägypten: „Das Regime kann die eigenen Normen nicht durchsetzen“

Von Stefan Frank

Sexuelle Belästigung in Ägypten: „Das Regime kann die eigenen Normen nicht durchsetzen“
Sahar Aziz.

Im Mai 2018 wurde die ägyptische Schauspielerin Amal Fathy in ihrer Wohnung verhaftet, nachdem sie in sozialen Netzwerken ein Video gepostet hatte, in dem sie sich darüber beklagte, dass ein Polizist sie in einer Bank in Kairo sexuell belästigt habe. Fathy wurde angeklagt, „unanständiges Material“ besessen und „Falschnachrichten“ verbreitet zu haben, am 29. September wurde sie zu zwei Jahren Haft verurteilt. Am 30. Dezember 2018 bestätigte ein Berufungsgericht die zweijährige Haftstrafe wegen „Verbreitung falscher Nachrichten“ und der „Beleidigung staatlicher Institutionen“. Für Mena Watch sprach Stefan Frank mit der Juristin Sahar Aziz. Sie ist Professorin an der Rutgers University in New Jersey, wo sie das von ihr gegründete Center for Security, Race & Rights leitet. In ihren Arbeiten hat Aziz sich u.a. mit dem Verhältnis von autoritärer Herrschaft, Terrorismus und Rechtstaatlichkeit in Ägypten beschäftigt.


Mena Watch: Wodurch ist dieses Urteil Ihrer Meinung nach motiviert?

Sahar Aziz: Solche Fälle werden benutzt, um Aktivisten der Zivilgesellschaft zu disziplinieren und zum Schweigen zu bringen. Weil ihr Ehemann, Mohamed Lotfi, der Vorsitzende der Ägyptischen Kommission für Rechte und Freiheit ist, ist Amal Fathy besonders verwundbar. Der Staat wird wahrscheinlich versuchen, Lotfi zum Schweigen zu bringen, indem er seine Frau bestraft. So wird auch ein deutliches Signal an Menschenrechtsaktivisten gesandt, nicht die sozialen Medien zu nutzen, um die ägyptische Regierung zu kritisieren.

Im Dezember wurde die Schauspielerin Rania Youssef beschuldigt, sich beim Kairoer Filmfestival in einem zu freizügigen Kleid gezeigt zu haben. Auch ihr droht laut Zeitungsberichten eine Gefängnisstrafe. Glauben Sie, dass in Ägypten mit der Prominenz einer Frau auch das Risiko steigt, verfolgt zu werden?

Sexuelle Belästigung in Ägypten: „Das Regime kann die eigenen Normen nicht durchsetzen“
Rania Youssef

Das sind zwei verschiedene Fälle, mit zwei verschiedenen Quellen von Repression. Amal Fathy fällt stärker in die Kategorie der Menschenrechtsaktivisten, die, weil sie repressive Gesetze reformieren wollen, für das Regime eine Bedrohung darstellen. Im Falle Rania Youssefs kommt die Repression mehr vonseiten der religiösen Autoritäten; sie haben einigen Einfluss in Ägypten, er ist aber bei weitem nicht so groß wie der des Sicherheitsapparats und der Geheimdienste, die Amal Fathy ins Visier genommen haben. Im Falle des freizügigen Kleids kommt der Druck wahrscheinlich von Al-Azhar oder anderen religiösen Institutionen, die ihr mit der Androhung von Verfolgung auf die Hand hauen, bildlich gesprochen. Ich glaube nicht, dass das wirklich vor Gericht landen wird. Die Behörden müssen sich vor den religiösen Autoritäten in Pose werfen, um sicherzustellen, dass die religiösen Führer loyal zum Regime bleiben. Das Sisi-Regime ist meiner Ansicht nach im Kern kein islamisches Regime; es muss aber sicherstellen, dass religiös-orthodoxe Institutionen wie Al-Azhar die Legitimität des Regimes nicht in Frage stellen.

In jüngerer Zeit gab es noch andere Frauen, die in Ägypten juristisch verfolgt wurden, weil sie sich kritisch zu sexueller Belästigung geäußert hatten: die libanesische Touristin Mona Mazbouh und Mozn Hassan von der NGO Nazra for Feminist Studies.

Sie sind eher mit Amal Fathys Fall vergleichbar, denn sie kritisieren öffentlich eine bestimmte Angelegenheit, die die Zivilgesellschaft bzw. Menschenrechte betrifft. Das Sisi-Regime möchte nicht, dass irgendjemand öffentlich Kritik übt oder sogar gegen die Regierung mobilisiert. Es will auch nicht, dass der Weltöffentlichkeit Ägyptens schmutzige Wäsche gezeigt wird, denn es ist verzweifelt bemüht, mehr Touristen und ausländische Investitionen anzulocken. Das macht es nötig, Ägyptens Image als eine moderne Nation zu wahren.

Es ist schwer, die Logik dahinter zu begreifen. Leidet Ägyptens Image nicht noch mehr, wenn sich herumspricht, dass dort nicht nur Frauen sexuell belästigt werden, sondern dass obendrein diejenigen, die das anprangern, verfolgt werden?

Ich denke, die Überlegung ist die: Wenn sie nicht hart gegen diese Frauen vorgehen, die über sexuelle Belästigung reden, dann werden sich Hunderte weitere Frauen öffentlich beschweren. Dieser Rechnung nach – die ich für fehlgeleitet halte – lohnt es sich für das Regime, der internationalen Aufmerksamkeit zum Trotz, die das auf sich zieht, ein oder zwei Frauen zu bestrafen, um Dutzende oder Hunderte weitere Fälle zu vermeiden.

Sie meinen, wenn es in Ägypten Redefreiheit gäbe, würden sich viele Frauen zu Wort melden und über sexuelle Belästigung sprechen?

Ja. Jeder hat eine andere Risikotoleranz, wenn es darum geht, möglicherweise die Freiheit zu verlieren. Wie jede Diktatur will die Regierung die Kosten für Dissens hochtreiben. Sie nutzt diese Frauen als Beispiele, um andere Frauen einzuschüchtern, die sich zu Wort melden könnten. Wer könnten diese anderen Frauen sein? Wahrscheinlich Angehörige der Eliten, der Zivilgesellschaft, oder auch die Durchschnittsbürgerin, die auf Facebook ihre Beschwerden zum Ausdruck bringt, nicht unbedingt für ein internationales Publikum, sondern gegenüber der Familie und Freunden – was übrigens im Privaten auch passiert. Was die Regierung nicht will, ist, dass es öffentlich wird. Denn durch das Internet und die sozialen Medien könnten sich solche Beschwerden wie ein Lauffeuer verbreiten, Leute mobilisieren und Ägyptens Ansehen im Ausland schaden.

Wäre es nicht selbst von den Interessen des Regimes her gesehen besser, stattdessen gegen sexuelle Belästigung in der Öffentlichkeit vorzugehen?

Die Herausforderung besteht darin, dass der größte Teil dieser sexuellen Belästigung in Form von Mikroaggression geschieht: Cat-calling und Begrapschen sind Dinge, die von Tausenden von Männern überall im Land jeden Tag gemacht werden, so dass die Regierung der Lage nicht Herr werden kann. Leider ist es in bestimmten sozio-ökonomischen Klassen in Ägypten kulturell akzeptabel, dass es an der Frau ist, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, um nicht Opfer von Belästigung zu werden. Die Regierung schreckt vor dem politischen Preis zurück, den sie zahlen müsste, wenn sie so viele Männer verärgern würde. Denn um die Gesetze gegen sexuelle Belästigung durchzusetzen, müsste sie Zehntausende junger Männer verhaften. Darum ist es für die Regierung politisch einfacher, die weiblichen Opfer zu bestrafen, als die männlichen Täter zur Verantwortung zu ziehen.

Wenn eine Frau überfallen oder vergewaltigt wird, kann sie zur Polizei gehen und Anzeige erstatten; dann ist nur noch die Frage, ob die Polizei dann auch wirklich Ermittlungen einleitet. Kritisieren aber Frauen die allgemeine Lage und Atmosphäre, dann sorgt sich die Regierung, dass ihre Unfähigkeit zutage tritt, die Gesetze gegen sexuelle Belästigung durchzusetzen. Ironischerweise zeigt die Regierung also im Versuch, ihre Stärke zu zeigen, wie schwach sie eigentlich ist. Sie ist nicht in der Lage, die Normen in bestimmten sozio-ökonomischen Klassen oder bestimmten Regionen des Landes zu ändern, wo verbale Belästigung, Cat-Calling und Begrapschen von Frauen normal sind.

Der Begriff Cat-calling ist schwer ins Deutsche zu übersetzen; wie würden Sie ihn umschreiben?

Cat-calling sind unerwünschte Kommentare, etwa über die Kleidung einer Frau oder ihr Aussehen, Hinterherpfeifen und, ganz allgemein, das Bedrängen von Frauen in der Öffentlichkeit. Manchmal kommt es in der Form von Komplimenten, manchmal in Form von Beleidigungen. Das dringt im öffentlichen Raum, wo solche Beachtung unerwünscht ist, sehr in die Privatsphäre ein. Diese Art von Verhalten ist nicht auf Ägypten oder den Nahen Osten beschränkt. Es gibt viele Länder der Welt, wo es verbreitet ist, insbesondere unter jungen Männern.

Vor einigen Jahren gab es in Ägypten eine Bewegung gegen sexuelle Belästigung. Können Sie dazu etwas sagen.

Sexuelle Belästigung in Ägypten: „Das Regime kann die eigenen Normen nicht durchsetzen“Im Ägypten in der Zeit zwischen der Revolution und dem Jahr 2014 [als al-Sisi die Präsidentschaft antrat; S.F.] gab es eine private, bürgergestützte Bewegung, sie nannte sich „HarassMap. Stoppt sexuelle Belästigung“. Es war eine Bewegung junger Männer und Frauen, die als Selbsthilfe zusammenarbeiteten. Diese Jugendlichen hatten kein Vertrauen mehr in die Fähigkeit oder den Willen der Polizei, sexuelle Belästigung zu stoppen. Sie haben eine App geschaffen – „HarassMap“ – mit der Frauen in Echtzeit über die App Belästigungen melden konnten. Dann wurden Männer aus der Bewegung benachrichtigt, die ihnen dann zu Hilfe gekommen sind, um sie zu beschützen. Wenn etwa eine Frau das Gefühl hatte, dass eine Gruppe junger Männer ihr folgt und sich Sorgen um ihre Sicherheit machte oder wenn sie verbal belästigt wurde und das Eingreifen einer anderen Person benötigte, meldete sie das. Die Männer, die Frauen verbal belästigen, wollen nämlich, dass die Frau antwortet, denn für sie ist das ein Spiel. Wenn also eine Frau dem Mann sagt, er solle aufhören, dann eskaliert er die Belästigung. Oft suchen sich die Männer Frauen als Opfer, die allein oder in kleinen Gruppen sind. Die HarassMap-Bewegung ermöglichte es Männern und Frauen, als ein Kollektiv zusammen unterwegs zu sein und Technologie zu benutzen, um in Echtzeit zu reagieren und zu intervenieren. Es war eine recht revolutionäre Idee.

Hatten die Mitglieder der Bewegung politische Anliegen?

Was die Bewegung wollte, war, die schlimmsten Formen sexueller Belästigung in Form von Überfällen, körperlichen Berührungen und Vergewaltigungen zu verhindern, gleichzeitig aber auch die Kultur so zu verändern, dass es normativ inakzeptabel wird, Frauen in der Öffentlichkeit zu belästigen, und sei es auch durch Worte. Die Behörden, auf der anderen Seite, wollen, dass die Frauen das hinnehmen und den Mund halten.

Existiert HarassMap noch?

Ich denke, technisch arbeitet es noch, die Website ist immer noch online. Ich bin mir nicht sicher, inwieweit die Leute sie immer noch nutzen, denn solche Arten von Aktivitäten sind nur mit dem ausdrücklichen oder stillschweigenden Segen des Staates möglich. Der Staat sorgt sich nicht um Dinge, die im Privaten und im Kleinen geschehen, solange sie keine Bewegung in Gang setzen oder für negative Publizität in den internationalen Medien sorgen.

Sie sprachen zweimal von „bestimmten sozio-ökonomischen Klassen“, in denen sexuelle Belästigung akzeptabel sei. Welche sind dies?

Das sind tendenziell Gegenden mit niedrigen Einkommen oder öffentliche Orte mit hoher Jugendarbeitslosigkeit, denn junge arbeitslose Männer vergnügen sich oft, indem sie Frauen in der Öffentlichkeit belästigen. Zu häufiger sexuellen Belästigung kommt es auch dort, wo die Menschen dichtgedrängt sind, etwa in der U-Bahn oder in Bussen. Dort begrapschen Männer Frauen diskret, drücken ihre Körper an sie und machen andere unerwünschte Berührungen. Kairo ist eine Stadt, in der die Menschen sehr dicht gedrängt sind; viele Frauen mit niedrigem Einkommen sind auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen, die überfüllt sind und wo Männer nach Gelegenheiten Ausschau halten, Frauen zu begrapschen und zu berühren. Würde eine Frau dann den Mann in der Öffentlichkeit zur Rede stellen, würde er es einfach abstreiten, und sie wäre dann gedemütigt. Darum dulden viele Frauen das oder sind immer mit männlichen Familienangehörigen unterwegs.

Gibt es andererseits auch Plätze, wo sexuelle Belästigung unüblich ist?

Ja, in den elitären Vororten von Kairo oder den elitären Vierteln von Alexandria kommen solche Dinge üblicherweise nicht so oft vor, da sie dort nicht kulturell akzeptabel sind.

Zurück zu to Amal Fathy: Warum wurden ihr offensichtlich erfundene Vorwürfe wie „Terrorismus“ gemacht oder die Anklage, eine Bedrohung der „nationalen Sicherheit“ zu sein?

Ägypten folgt hier dem Pfad der Vereinigten Staaten und anderer westlicher Länder; der Begriff „nationale Sicherheit“ wird missbraucht, um Bürgeraktivitäten zu beschreiben, die das Regime unterbinden will. Es ist aberwitzig, dass eine Frau, die sich über sexuelle Belästigung beschwert – darüber, in der Öffentlichkeit begrapscht zu werden – irgendetwas mit Ägyptens nationaler Sicherheit zu tun haben soll.

Warum also hat die Regierung solche Angst vor einer Frau, die darüber klagt, dass sie sexuell belästigt wurde?

Jeder in Ägypten weiß, dass diese Argumente fadenscheinig sind. Niemand glaubt, dass es tatsächlich um nationale Sicherheit geht. Es ist interessant, dass die Regierung die „nationale Sicherheit“ als Vorwand nehmen kann, um allen Angst einzujagen. Das ist ein Zeichen eines immer repressiveren Staates, aber auch eines Staates, der selbst unsicher ist. In der Ära Mubarak gab es sexuelle Belästigung; Frauen beschwerten sich darüber, und das größte Problem der Frauen war, dass die Regierung sie ignorierte. Heutzutage ignoriert die Regierung bestimmte Frauen nicht – solche, die öffentlichkeitswirksam sind, viele Follower in den sozialen Medien haben –, sondern hat ein scharfes Auge auf sie und versucht, sie zum Schweigen zu bringen. Der Fall Amal Fathy demonstriert, wie das ägyptische Regime Opfer kriminalisiert, die sich über sexuelle Belästigung beschweren. Worum es dem Sisi-Regime geht, ist, keinerlei Art von Mobilisierung zuzulassen, egal, was der Anlass ist, ob es die Inflation ist, sexuelle Belästigung, die schlechte Qualität der Schulbildung, das Thema Wohnungen – bei jedem Thema, das so allgegenwärtig ist, dass es genug Leute mobilisiert, geht das Regime gegen jeden vor, der es wagt, darüber zu reden.

Weil es fürchtet, dass der Dissens außer Kontrolle geraten könnte?

Ja. Derzeit gibt es viel Frustration wegen wirtschaftlicher Nöte. Sisi hat Sparmaßnahmen eingeleitet und Subventionen gekürzt. Der feste Wechselkurs des ägyptischen Pfunds wurde vor zwei Jahren abgeschafft, das Pfund hat abgewertet, viele Güter wurden wesentlich teurer. Das Außenhandelsdefizit ist hoch, die Gehälter stagnieren. Dem Sisi-Regime ist sehr wohl bewusst, dass die Bevölkerung aufgebracht ist wegen der wirtschaftlichen Probleme und dass die Frustration eine Mobilisierung auslösen könnte, wobei der Anlass gar nichts mit nationaler Sicherheit zu tun haben muss. Ägypten hat eine Bevölkerung von 100 Millionen. Die Lektion, die das Regime aus dem sogenannten arabischen Frühling gelernt hat, ist, niemals zuzulassen, dass die Leute zu dem Punkt kommen, wo sie keine Angst mehr haben, auf die Straße zu gehen und zu protestieren. Sobald sie das tun, sind es zu viele, als dass die Sicherheitsdienste sie stoppen könnten. Selbst Zehntausende Angehörige des Sicherheitsapparats können nicht Hunderttausende oder Millionen von Ägyptern, die auf die Straße gehen, kontrollieren. Das ist die Brille, durch die man den Fall Amal Fathys sehen muss, um die perverse Logik des Regimes zu verstehen.

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