Von Lars Stern
Im Zusammenhang mit einer Reportage über die Situation in Nordkorea wies der 2011 verstorbene Journalist Christopher Hitchens einmal darauf hin, dass man als Journalist und Kommentator zwar um jeden Preis das Klischee meiden müsse, dies jedoch bei der Berichterstattung über totalitäre System nur schwer möglich sei, da diese selbst ein Klischee seien.
Wie aktuell dieser Gedanke ist, lässt sich an der medialen und politischen Begleitmusik zur Belagerung der oppositionellen Teile der nordsyrischen Stadt Aleppo durch die „Achse des Widerstands“ erkennen. Nachdem in den letzten Wochen und Monaten Bäckereien, Marktplätze und Krankenhäuser in und um Aleppo systematisch durch Angriffe der russisch-syrischen Luftwaffe zerstört wurden; nachdem ganze Stadtteile durch den jahrelangen Abwurf von Fassbomben dem Erdboden gleichgemacht wurden; nachdem ebenso lang die Lieferung von Medikamenten und Nahrungsmitteln durch das Regime blockiert wurde; und nachdem die letzte Nachschubroute in die immer noch von rund 300.000 Zivilisten bewohnten Stadtteile des östlichen Aleppos endgültig abgeschnitten wurde, verkündet das russische Verteidigungsministerium in einer Pressemitteilung nun, dass man gemeinsam mit dem syrischen Regime eine „humanitäre Operation“ gestartet habe, um die Sicherheit der Bewohner der Stadt Aleppo zu garantieren:
„‚To assist civilians taken hostage by terrorists, as well as militants who chose to lay down their weapons, the Russian center for reconciliation of the warring parties, together with Syrian authorities, will open three humanitarian corridors there,‘ Shoigu added. ‚I want to emphasize that we are taking this step, first and foremost, to ensure the safety of Aleppo residents,‘ the minister said. He has also urged international organizations to take part in the humanitarian operation in Aleppo.“
Wer denkt bei solchen Formulierungen nicht an George Orwells „Neusprech“? Putin und Assad haben ihre Lektion gelernt: Man kann heute mit der nötigen Skrupellosigkeit auch noch die größten Verbrechen begehen, solange man bereit ist, schamlos darüber zu lügen. Dieses Verhalten diktatorischer Staaten allein jedoch wäre weder verwunderlich noch neu. Neu ist hingegen, dass die westlichen Demokratien bereit sind, dieses Spiel ohne Widerspruch mitzuspielen. Der Syrien-Beauftragte der UN, Staffan de Mistura, zeigt sich zwar verwundert, hält jedoch an der Fortführung der „Friedensgespräche“ in Genf Ende August fest, US-Außenminister John Kerry will weiterhin die Kooperation mit Russland in Syrien vertiefen, und der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier bringt zum wiederholten Male eine Lockerung der Sanktionen gegen Russland ins Spiel.
Die Bereitschaft seitens westlicher Politik und westlicher Gesellschaften, die Durchführung eines Massenmordes und die Verschleierung der Verbrechen durch die Täter nicht nur sehenden Auges hinzunehmen, sondern dies auch noch zu goutieren, hat weitgehende Folgen. Nicht nur werden sich zukünftige Täter ermutigt und ihre Opfer entmutigt fühlen. Durch sein Schweigen und seine Komplizenschaft sendet der Westen eine klare Botschaft sowohl an seine Gegner als auch an jene, denen er als Hoffnung gilt: „Wir glauben selbst nicht mehr an die Werte, die wir vor uns hertragen.“ Ob dies nur ein weiteres Beispiel für die ambivalente Haltung des Westens gegenüber seinen eigenen Werten oder ein Zeichen für eine Abwendung von ihnen ist, wird der zukünftige Umgang eben dieses Westens mit der Auseinandersetzung zwischen Freiheit und Unterdrückung zeigen, die aktuell nicht nur im Nahen und Mittleren Osten stattfindet.