Flüchtlingslager: Nährboden für Radikalisierung

Von Thomas von der Osten-Sacken

Über 18 Millionen Menschen sind seit 2010 im Nahen Osten zu Flüchtlingen und Binnevertriebenen geworden. Eine Katastrophe, wie die Welt sie seit Ende des Zweiten Weltkrieges nicht gesehen hat. Ihr Leben ist nicht nur perspektivlos und entbehrungsreich, die Geschichte hat auch gezeigt: Kaum ein Ort ist so ein fruchtbarer Boden für Radikalisierungen wie Flüchtlingslager.

 

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Flüchtlingslager im Nordirak. Quelle: Thomas v. der Osten-Sacken

 

Anfang Mai veröffentlichte das Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC) eine neue, erschreckende Studie, der zufolge inzwischen im Nahen Osten 12,5 Millionen Menschen internally disclaced (IDPs) seien. Rechnet man diese Binnenvertriebenen zu den fast fünf Millionen von der UN  registrierten Flüchtlingen hinzu, so sind in der Region inzwischen fast 18 Millionen Menschen geflüchtet, von denen die überwältigende Mehrheit schlecht versorgt in Lagern lebt oder bei Verwandten untergekommen ist. Und diese Zahlen beziehen sich lediglich auf die Jahre nach 2010. Nicht einbezogen sind also all jene, die in den Jahren und Jahrzenten zuvor zu Flüchtlingen wurden und etwa wie die Millionen Palästinenser auf diesen Status festgeschrieben wurden, sodass sie heute, teils schon in vierter Generation, als von den Vereinten Nationen (UNRWA) betreute Flüchtlinge im Libanon, in Syrien, Jordanien oder der Westbank und dem Gazastreifen leben.

Inzwischen spricht Amnesty International angesichts der Katastrophen in Syrien und dem Irak von der größten Flüchtlingskatastrophe seit den 1940er Jahren: Noch nie in der jüngeren Geschichte waren so viele Menschen auf der Flucht, während zugleich immer weniger Gelder zu ihrer Versorgung zur Verfügung stehen, und sich die EU systematisch beginnt abzuschotten, auch wenn nur ein Bruchteil aller Geflüchteten überhaupt nach Europa kommt. In der Region wachsen derweil die Lager, alleine mehrere hunderttausend Menschen leben im Zaatari Camp in Jordanien, das längst zu einem Symbol der syrischen Tragödie geworden ist.

Vieles lässt sich über das Schicksal all dieser Flüchtlinge schreiben, über die steigende Zahl von Kinderehen, über eine ganze Generation syrischer Kinder, die de facto ohne Schulbildung heranwächst, über Hunger, Elend und Verzweiflung, die überall dort herrschen, wo Tausende mangelversorgt auf engstem Raum zusammenleben müssen. Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit sind es, die das Leben unter solchen Bedingungen ausmachen. Laut Studien sind es inzwischen im Durchschnitt siebzehn Jahre, die Menschen, die erst vor Krieg und Bürgerkrieg geflohen sind, in solchen Lagern verbringen, die sich mit der Zeit dann in slumähnliche Städte verwandeln. Und so ist es alles andere als ein Wunder, dass es kaum einen ähnlich fruchtbaren Nährboden für Radikalisierungen gibt, als solche Flüchtlingslager: „Refugee camps are likely to present fertile ground for radicalization“.

 

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Flüchtlingslager im Nordirak. Quelle: Thomas v. der Osten-Sacken

 

Ob in den Palästinenserlagern, in den somalischen Flüchtlingscamps in Kenia oder in Pakistan: Wo immer Millionen von Menschen vor blutigen Bürgerkriegen fliehen, ganze Staaten zusammengebrochen sind und sich keine Perspektive auf Änderung bietet, während Warlords und Milizen in den Lagern frei ein- und ausgehen können, droht eine neue Generation militanter Kämpfer heranzuwachsen. Die Taliban beispielsweise entstanden überhaupt erst in Pakistan, wohin in den 80er Jahren Millionen vor dem afghanischen Bürgerkrieg flohen:

„Most of the Taliban’s leaders were educated in Pakistan, in refugee camps where they had fled with millions of other Afghans after the Soviet invasion. Pakistan’s Jami’at-e ‘Ulema-e Islam (JUI) political party provided welfare services, education, and military training for refugees in many of these camps.“

In verschiedenen Untersuchungen ist inzwischen darauf hingewiesen worden, dass der radikale Islamismus, den die Taliban mit äußerster Brutalität in Afghanistan umsetzten nur bedingt mit paschtunischen Traditionen zu tun hat, sondern sich vielmehr erst in den Flüchtlingslagern unter wahhabitischem Einfluss entwickelte. Vor allem junge Männer, die jahrelang arbeits- und perspektivlos dort ihr Leben fristeten, waren für die Botschaft der bärtigen Gotteskrieger besonders empfänglich. Ob in den Banlieue von Paris oder in Lagern in Pakistan: Radikaler Islamismus verbreitet sich überall dort besonders schnell, wo gesellschaftliche Strukturen durch Krise oder Krieg zerstört wurden, alte Autoritäten und Traditionen kaum mehr eine oder keine Rolle mehr spielen.

Islamisten aller Couleur wissen genau, was sie an Bürgerkriegen, failed states, zerstörten Strukturen und eben der Tristesse eines Lebens in Flüchtlingslagern haben: Wohl nirgends sonst können sie so effektiv und schnell neue Anhänger rekrutieren. Befinden sich die Lager dann auch noch in Ländern, die den Islamisten tendenziell wohlgesonnen sind, wie etwa Pakistan, dann sind die Bedingungen für sie ideal. Mit Hilfe reicher Unterstützer aus den Golfstaaten errichteten sie überall ihre Madrassen, Koranschulen, in denen sie ihre reine Lehre predigen konnten, und verteilten großzügig Hilfsgüter vor allem an jene, die sich durch Verhalten und Aussehen ihrem Diktat unterwarfen.

 

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Flüchtlingslager im Nordirak. Quelle: Thomas v. der Osten-Sacken

 

Was für Pakistan in den 90er Jahren zutraf, gilt heute für die Türkei, in der inzwischen 2,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien leben. Ähnlich wie das Regime in Islamabad sympathisiert die AKP-Regierung in Ankara offen mit islamistischen Gruppierungen und Milizen, die in Syrien gegen die Diktatur Assads kämpfen. In der Türkei werden die Flüchtlingslager direkt von der Regierung betrieben, genauer von der Behörde für Katastrophenschutz (Afad). “Jeder weiß, wie eng Afad mit der AKP verbunden ist. Selbst für einen Job als Putzkraft braucht man Kontakte zur AKP“, so ein Reporter der Zeitung Birgün gegenüber Der Welt.

Und nicht nur dies: Die von der Regierung in Ankara bevorzugt mit der Betreuung von Flüchtlingen beauftragte türkische Hilfsorganisation ist ausgerechnet jene IHH, die 2010 als Hauptorganisator der „Mavi Marmara“-Flotille nach Gaza verantwortlich zeichnete und die der Muslimbruderschaft nahe steht. Seit die Türkei ihre Grenze geschlossen hat und flüchtende Syrer zwingt auf der anderen Seite zu bleiben, errichtet und betreut die IHH diese Lager:

Around 60 thousand people are now sheltering in the camps in the regions of Bab al-Salam and Haramain. We have recently set up our ninth camp due to insufficient shelter for these refugees. With this camp, which we named Muqawamah, more 25 thousand refugees will be accommodated.”

Es ist seit Jahren bekannt, dass die IHH direkt und indirekt islamistische Kämpfer unterstützt. In einer Untersuchung des Danish Institutes for International Studies aus dem Jahr 2007 heißt es:

The IHH is an NGO, but it was kind of a type of cover-up … in order to obtain forged documents and also to obtain different forms of infiltration for Mujahideen in combat. And also to go and rather [recruit] these Mujahideens.“

Es ist ein offenes Geheimnis, dass Kämpfer der Free Syrian Army (FSA), vor allem aber auch islamistischer Milizen in den Lagern ein- und ausgehen können, dort neue Anhänger rekrutieren und zugleich einen Rückzugsraum haben. Es ist ebenfalls ein offenes Geheimnis, dass Erdogans AKP ein besonders enges Verhältnis zu den Muslimbrüdern nahe stehenden Milizen und Gruppierungen unterhält und ein Interesse daran hat, diese zu stärken.

Von daher bedarf es keiner großen Phantasie, um sich auszumalen, dass und wie diese Lager der ideale Rekrutierungsort für die nächste Generation von Jihadisten sein werden. Erst kürzlich besuchte Jaafar Abdul Karim, der seit einiger Zeit nicht nur Shabab Talk im arabischen Programm der Deutschen Welle moderiert, sondern auch einen Videoblog für den Spiegel unterhält, Nizip, das als Vorzeigelager in der Türkei gilt, und erst kürzlich auch von der deutschen Bundeskanzlerin Merkelbesucht wurde. Dort sprach er mit einigen Kindern, die stolz erklärten, ihr Ziel sei es, Mujaheddin in Syrien zu werden.

 

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Es besteht also nicht nur die unmittelbare Gefahr, dass sich in den Lagern überall in der Region junge Syrer radikalisieren und eine neue Generation jihadistischer Kämpfer, ähnlich den Taliban in Pakistan, heranwächst. Zumindest in der Türkei findet dies darüber hinaus auch noch – anders als etwa in Jordanien, wo die FSA auch in Lagern rekrutiert – mit ausdrücklicher staatlicher Duldung, wenn nicht Unterstützung statt.

Dass Flüchtlinge sich nicht, nur weil sie unter hoffnungslosen Bedingungen leben, radikalisieren müssen, zeigen nicht nur all jene Syrer, Irakis und Jemeniten, und das dürfte die absolute Mehrheit sein, die sich keinen islamistischen Organisationen anschließen. Auch Studien aus anderen Krisengebieten zeigen, dass es Mittel und Wege gibt, selbst unter widrigen Bedingungen Radikalisierungstendenzen entgegenzuwirken. Nur: Wo nicht einmal das Geld für die notdürftige Versorgung vorhanden ist, da fehlen selbstredend auch die Mittel und der Wille, entsprechende Programme umzusetzen. Daneben bedarf es der Mitarbeit der jeweiligen Regierung im Gastland der Flüchtlinge – und wenig spricht dafür, dass die AKP-Regierung in Ankara ein großes Interesse an deradikalisierenden Programmen hat, oder solche in Kooperation mit Organisationen wie der IHH umgesetzt werden können.

Je länger Menschen ohne Perspektive auf ihrem Flüchtlingsstatus festgeschrieben werden, desto größer die Gefahr, dass sie sich radikalen Organisationen anschließen. Viele der syrischen Flüchtlinge werden jetzt ihren fünften Sommer in Lagern verbringen, während Europa seine Grenzen schließt und die Hoffnung auf Rückkehr in ihr Heimatland mit jedem Tag schwindet, an dem Syrien weiter zerstört und unbewohnbar gemacht wird.

 

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Flüchtlingslager im Nordirak. Quelle: Thomas v. der Osten-Sacken

 

Wie lange Flüchtlingskatastrophen nachwirken, zeigt sich in Syrien auch noch auf andere Weise: Viele schiitische Afghanen flohen in den letzten Jahrzehnten in den Iran. Viele von ihnen werden nun von der Regierung in Teheran mehr oder weniger gezwungen, als „Freiwillige“ auf Seiten des syrischen Regimes gegen die Rebellen zu kämpfen:

Around 3 million Afghans live in Iran as second-class citizens, refugees from their war-town homeland who have not been accepted into their new country. One recruit for the war in Syria explained that the regime denies residency and identity documents to Afghans, making it nearly impossible to find jobs or go to school. They can be arrested and/or deported at any moment. They can’t even get SIM cards or bank accounts in their own names. …

Mosques and other centers in or near Afghan neighborhoods are used by the Iranian Revolutionary Guards Corps to identify potential recruits and offer them legal residency and a salary of 75 million rials per month (equivalent to about $2,500) in exchange for fighting in Syria for two to three months. Some agree for as little as $500 per month. The top targets are Afghan youth without jobs who are not well-known throughout the community.”

Und so wie in den Lagern in der Türkei eine Radikalisierung droht, übt auf der anderen Seite die iranische Regierung entsprechenden Druck auf diese afghanischen „Freiwilligen“ aus: „The involvement in the radical Shiite jihad is likely to … radicalize some of those who went purely for the chance of a better life in Iran.”

Mögen in Syrien gerade schiitische Jihadisten ihren heiligen Krieg gegen sunnitische Jihadisten führen und beide das Land in Trümmer legen. Am Ende bleiben der Jihad und eine neue Generation von Jihadisten, die nicht nur unglaubliches Elend über Syrien bringen werden, sondern deren Herrschaftsanspruch letztlich ein globaler ist.

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