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Die Gaza-Krise – und eine Lehre für die Zukunft

Niemand weiß, was in den nächsten Tagen im und rund um den Gazastreifen geschehen wird. Sicher ist nur: Der israelische Abzug aus dem Küstengebiet vor nunmehr 14 Jahren hat alles andere als Frieden gebracht. Die Lehren aus dieser Entwicklung sollten ernst genommen werden, bevor vermeintlich einfache Lösungen für den palästinensisch-israelischen Konflikt propagiert werden.

Von Florian Markl

Die Gaza-Krise – und eine Lehre für die ZukunftIm Augenblick macht es den Anschein, als wäre die nächste Runde im Krieg zwischen der islamistischen Hamas und Israel wenigstens vorerst vertagt. Die israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) haben Reservisten einberufen, entlang der Grenze zum Gazastreifen sind Panzer aufgefahren, aber mögliche größere militärische Operationen, die auch den Einsatz von Bodentruppen und einen Einmarsch in den Küstenstreifen beinhalten würden, scheinen nicht mehr unmittelbar bevorzustehen.

Von Ruhe kann dennoch keine Rede sein. Über 60 Raketen wurden in den vergangenen zwei Tagen vom Gazastreifen aus auf Israel abgefeuert, in der Nacht fing das Abwehrsystem Iron Dome zwei Raketen ab, die in Aschkelon eingeschlagen wären. Sollte eines der Geschosse durchkommen und wieder, wie zuletzt am Montag, Verletzte zur Folge haben, bliebe Premier Netanjahu kaum etwas anderes übrig, als grünes Licht für einen umfangreicheren Militäreinsatz zu geben, den er wohl lieber vermeiden würde.


Lose-lose-Situation

Knapp zwei Wochen vor der israelischen Parlamentswahl sieht sich Netanjahu mit einer Situation konfrontiert, von der er nur schwerlich profitieren kann. Schon jetzt kritisieren seine politischen Konkurrenten, dass die Gaza-Politik des Premiers gescheitert sei. Der Plan, der Hamas Geldlieferungen aus Katar zukommen zu lassen, um im Gegenzug dafür Ruhe aus dem Gazastreifen zu bekommen, ist augenscheinlich nicht aufgegangen, weil die Islamisten sich nicht an ihren Teil der (informellen) Vereinbarung halten. Mit jeder weiteren Rakete, die auf Israel abgefeuert wird, nimmt Netanjahus Image als derjenige, der für Ruhe im Süden Israels gesorgt hat, weiteren Schaden. Völlig zu Recht werfen die Bewohner grenznaher Ortschaften ihm schon seit längerem vor, sie angesichts des andauernden Beschusses aus Gaza faktisch im Stich gelassen zu haben.

Sollten Terroristen in der verbliebenen Zeit bis zur Wahl erneut Raketenangriffe auf Tel Aviv unternehmen, würde der drohende Wählerstimmenverlust Netanjahu geradezu zum Handeln zwingen. Nur dem Iron Dome ist es zu verdanken, dass weitaus größere Zahlen an Opfern unter der israelischen Zivilbevölkerung vermieden werden können und die Armee nicht schon längst gezwungen war, eine neue große Gaza-Operation zu starten.

Die Gaza-Krise – und eine Lehre für die Zukunft
Das Raketenabwehrsystem Iron Dome fängt einen Großteil der Raketen ab, die in bewohntem Gebiet einschlagen würden.

Andererseits ist durchaus fraglich, ob der Premier von einem größeren Militäreinsatz vor der Wahl profitieren würde. Dass er gewillt sein könnte, noch schnell einen Krieg zu befehlen, um damit Stimmengewinne zu lukrieren, ist nicht mehr als ein unter Journalisten beliebtes Klischee. Ohne eine Invasion mit Bodentruppen, die unweigerlich auch zu Opfern unter israelischen Soldaten führen würde, wäre ein regelrechter Raketenhagel aus dem Gazastreifen nicht zu verhindern. Der würde sich freilich nicht auf grenznahe Gebiete beschränken, sondern, wie der Krieg 2014 gezeigt hat, große Teil des Landes betreffen. Glaubt wirklich jemand, es würde Netanjahu nützen, wenn die Bewohner von Be’er Scheva, Jerusalem und Tel Aviv auf dem Weg in die Wahllokale in Bunkern vor herannahenden Raketen der Hamas Schutz suchen müssen?


Schmale Gratwanderung

Die Hamas weiß genau über das Dilemma Netanjahus Bescheid und scheint um einen gefährlichen Balanceakt bemüht zu sein. Einerseits wollen die Islamisten ihre Angriffe auf Israel schon allein deshalb nicht einstellen, weil sie ihnen die Möglichkeit bieten, von den Protesten abzulenken, die sich im Gazastreifen in den vergangenen Wochen gegen ihre eigene Herrschaft erhoben und die sie mit brutaler Gewalt zu unterdrücken versucht haben.

Andererseits will die Hamas die Attacken auf Israel so dosieren, dass sie gerade noch nicht zu einem neuen Krieg führen. Sie rechnet als Reaktion auf den Raketenbeschuss mit israelischen Luftschlägen, weswegen ihre Führer mitsamt ihren Familien sicherheitshalber seit Tagen abgetaucht sind. (Nicht zu Unrecht: Hamas-Chef Ismail Haniyeh muss sich nach den jüngsten Luftschlägen der IDF ein neues Büro suchen.) Im Falle eines Krieges mit all seinen Folgen stünde aber für sie selbst enorm viel auf dem Spiel, zumal sie aus dem verlustreichen Krieg im Sommer 2014 keinerlei nennenswerten Gewinn ziehen konnte.

Spannend wird jedenfalls, was am kommenden Freitag geschehen wird, an dem sich der Beginn der wöchentlich stattfindenden „Rückkehrmärsche“ zum ersten Mal jährt. Nach dem Raketenbeschuss Tel Avivs Mitte März war die Hamas darum bemüht, nicht weiter Öl ins Feuer zu gießen und sagte am folgenden Freitag die Aufmärsche an der Grenze zu Israel kurzerhand ab. Anders diese Woche: Für diesen Samstag rufen die Organisatoren, zu denen auch die Hamas zählt, zu einem „Eine-Million-Marsch“ auf. Aufgrund der Erfahrungen des vergangenen Jahres sowie der ohnehin höchst angespannten Lage ist mit schweren Gewalttaten mit hohem Eskalationspotenzial zu rechnen. Die bisherigen Aufmärsche wurden regelmäßig von gewalttätigen Angriffen auf israelische Soldaten und Versuchen von Terroristen begleitet, die Grenzanlagen zu überwinden, nach Israel einzudringen und Terrorattacken in grenznahen israelischen Dörfern zu unternehmen, zu denen die Hamas explizit aufgerufen hatte.


Blick aufs Westjordanland

Die Gaza-Krise – und eine Lehre für die Zukunft
Blick vom Westjordanland auf Tel Aviv.

Unabhängig davon, was in den kommenden Tagen und Wochen im Gazastreifen geschehen wird, sollte man nicht übersehen, was in den Augen vieler Israelis aus dem Dauerkonflikt mit der Hamas für Konsequenzen zu ziehen sind. So sehr sie nach wie vor bereit wären, einen hohen Preis für einen tatsächlichen Frieden zu bezahlen, so klar ist ihnen anhand der israelischen Abzüge aus dem Südlibanon (2000) und dem Gazastreifen (2005) geworden, dass das von großen Teilen der Weltöffentlichkeit geforderte Ende der ‚Besatzung‘ des Westjordanlandes allein keinen Frieden bringen, sondern im Gegenteil zu einem dramatischen Anstieg der Zahl der Terrorattacken und weit größerem Blutvergießen führen würde.

Wäre die israelische Armee nicht in der Westbank präsent, würden aufgrund der geographischen Gegebenheiten Jerusalem, Tel Aviv, Be’er Scheva und Netanja ähnlichem Raketenterror durch Hamas & Co. ausgesetzt, wie heute bereits die Ortschaften nahe dem Gazastreifen. Das würde binnen kürzester Zeit zu einem Zusammenbruch des normalen Lebens in großen Regionen Israels führen und unweigerlich massive Militäreinsatze im Westjordanland zur Folge haben.

Wer das für Schwarzmalerei hält, der möge erklären, wie ein solches Szenario abgewendet werden könnte, solange sich die palästinensische Haltung gegenüber Israel nicht grundlegend geändert hat. Der Blick auf den Gazastreifen und das Dilemma, in das Israel zwangsläufig gerät, wenn es Gebiete räumt und damit praktisch feindlichen Terrororganisationen überlässt, zeigt, dass einfach klingende Lösungen (wie ein Rückzug auf die „Grenzen vor 1967“) nicht den Weg zum Frieden, sondern im Gegenteil zu dramatisch eskalierender Gewalt ebnen könnten.

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