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»Mehrheit ist mittlerweile gegen die Hamas«

Markt in Gaza Ende Juli. Nahrungsmittel gibt es, aber zu von der Hamas künstlich in die Höhe getriebenen Preisen. (© imago images/Anadolu Agency)
Markt in Gaza Ende Juli. Nahrungsmittel gibt es, aber zu von der Hamas künstlich in die Höhe getriebenen Preisen. (© imago images/Anadolu Agency)

Ein Oppositioneller aus dem Gazastreifen über die humanitäre Situation, die Stärke der Hamas und die Optionen für die Zukunft.

Moumen al-Natour lebt im Gazastreifen im Untergrund, weil er von der Hamas gesucht wird. Er ist ein deklarierter Gegner der Hamas und hat unter anderem im Jahr 2019 die oppositionelle Bewegung »Wir wollen leben!« mitgegründet. In der Vergangenheit wurde er von der Hamas mehrfach verhaftet und auch gefoltert.

In einem ausführlichen Telefoninterview mit der Neuen Zürcher Zeitung gab al-Natour Einblick, wie palästinensische Oppositionelle über den Krieg gegen die Hamas und die aktuelle Lage im Gazastreifen denken. Er ist eine jener Stimmen, die in den westlichen Medien nur selten zu Wort kommen, weil seine Ansichten nicht zu dem einseitigen Narrativ passen, das viele Journalisten über den Krieg forcieren.

Humanitäre Lage

Das beginnt schon damit, dass al-Natour vollkommen selbstverständlich über das spricht, was im Gazastreifen jeder weiß, aber von den Vereinten Nationen und etlichen Medien bestritten wird. »Das Elend ist groß«, sagt er, und setzt fort:

»Die Hamas macht alles schlimmer, weil ihre Leute gemeinsam mit verbündeten Banden und Dieben die meisten Hilfsgüter stehlen. Fast alles Essen auf den Märkten ist Diebesgut aus den Lastwagen. Das ist ihre [der Hamas] einzige Einnahmequelle.«

Nahrung muss für exorbitante Preise auf dem Schwarzmarkt besorgt werden. Dafür sind aus al-Natours Sicht Israel und die Hamas gleichermaßen verantwortlich. Israel habe ihm zufolge dabei versagt, humanitäre Sicherheitszonen zu etablieren, damit die Menschen Nahrung und medizinische Hilfe erhalten können.

»Das wäre der Schlüssel, um die Leute im Gazastreifen zu retten. Wenn die Israeli sich von Anfang an darum gekümmert hätten, würden viele Leute noch leben. Sie wussten ja, dass die Hamas Menschen als Schutzschilde missbraucht, dass sie Frauen und Kinder opfert.«

Die Verteilzentren der Gaza Humanitarian Foundation hätten »die Versorgung vielleicht ein bisschen besser gemacht«, aber die dort verteilten Hilfsgüter erreichen bei Weitem nicht alle Menschen. Die Lage bei den Ausgabestellen sei »äußerst chaotisch«, und die Hamas sei noch immer »überall«.

Aktuell bestehe tatsächlich eine reale und gefährliche Hungersnot, »weil die Mehrheit der Leute kein Geld hat, um sich die teuren Lebensmittel kaufen zu können«.

Wie stark ist die Hamas?

Al-Natour zufolge habe die Hamas mehr als 60 Prozent der Mitglieder ihres bewaffneten Arms verloren, sei aber immer noch in der Lage, loyale Banden anzuführen und sich an jenen zu rächen, die es wagen, sie zu kritisieren: »Sie brechen ihnen die Beine; manche werden getötet oder in abgelegene Gebiete verschleppt«.

Im Alltag auf der Straße könne man nicht zwischen Hamas-Männern und Zivilisten unterscheiden – gerade deshalb bedarf es der Sicherheitszonen, an deren Zugängen die Menschen streng kontrolliert werden.

Gegen die Hamas zu demonstrieren, wie es im Frühjahr immer wieder geschehen ist, sei sehr gefährlich: »Die Hamas ist eine radikale totalitäre Organisation, sie schlägt die Demonstrationen mit Gewalt und Verhaftungen nieder.« Dennoch seien die Protestaktionen wichtig, um zu zeigen, dass die Hamas nicht gleichbedeutend mit der Bevölkerung sei. Al-Natour glaubt, dass mittlerweile die Mehrheit gegen die Islamisten sei und sie loswerden wolle, weil sie die Hamas für das verantwortlich macht, was diese ihnen mit dem Massaker in Israel am 7. Oktober 2023 eingebrockt habe. Nur mehr rund zwanzig Prozent würden die Hamas weiterhin unterstützen.

Dass jüngst auch Katar ein Papier unterstützt hat, das eine Entwaffnung der Hamas fordert, sieht al-Natour skeptisch: »Denn wer bewirtet die Hamas, wer beherbergt ihre Firmen, wer unterstützt sie medial, auf Al Jazeera? Katar!« Meint Katar es tatsächlich ernst, solle es die im Katar lebenden Hamas-Führer verhaften und deren Besitztümer beschlagnahmen, die den Palästinensern geraubt worden seien.

Wie weiter?

Der Hamas sei es gelungen, sich in den Medien »starken Einfluss« zu verschaffen, allen voran bei Al Jazeera, wo meistens »Hamas-freundliche Stimmen« zu Wort kämen. Dem TV-Sender solle nicht vertraut werden.

Von den zahlreichen »Free Palestine«-Demonstrationen im Westen hält al-Natour insofern nichts, als sie den Menschen im Gazastreifen nicht helfen. »Persönlich sehe ich das so: Diese Demonstranten helfen der Hamas, aber nicht der Bevölkerung im Gazastreifen.«

Für die Zukunft des Gazastreifens gibt es für Moumen al-Natour nur wenige Optionen. Wenn die Hamas nicht doch noch kapituliere, müsse Israel endlich wirkliche Sicherheitszonen einrichten. Geschieht das nicht, drohten »Jahrzehnte des Tötens«.

Momentan werde Generation nach Generation zu dem Glauben erzogen, in den Himmel zu kommen, wenn man einen Juden töte, und die Juden die Feinde der Menschheit und Gottes seien. Aber al-Natour glaubt trotz allem an die Möglichkeit eines Friedens: »Schulbücher kann man ändern, und ich glaube, dass viele Lehrer und Intellektuelle im Gazastreifen ähnlich denken wie ich.«

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