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Die Medien und Gaza: Hunger ist plakativer als chronische Krankheiten

Medien bevorzugen Eindeutigkeit und Plakativität: Fotograf mit Kind in Gaza
Medien bevorzugen Eindeutigkeit und Plakativität: Fotograf mit Kind in Gaza (© Imago Images / Anadolu Agency)

Statt die komplexe Frage der Versorgung von chronisch kranken Kindern in Kriegsgebieten zu diskutieren, produzieren die Medien Eindeutigkeit und geben Israel die Schuld.

Anfang des Monats gab die New York Times eine Korrektur bekannt, die sie aber nicht so nannte. Bei der Veröffentlichung des Fotos des unterernährten Buben Mohammed Zakaria al-Mutawaq aus dem Gazastreifen auf der Titelseite, das um die Welt gegangen war, wollte die Redaktion nicht gewusst haben, dass er »vorher gesundheitliche Probleme hatte«. Mit den »gesundheitlichen Problemen« war die chronische Krankheit Zerebralparese gemeint. »Hätte die Times diese Information vor der Veröffentlichung gekannt, wäre sie in den Artikel und die Bildunterschrift aufgenommen worden«, behauptete die Redaktion.

Das ist schwer zu glauben, steckt hinter dem Auslassen von Kontext doch Methode. Das zeigen Recherchen des US-Medienunternehmens The Free Press, die vergangenen Woche veröffentlicht wurden. Die Autorinnen Olivia Reingold und Tanya Lukyanova haben die Fälle von zwölf namentlich genannten Personen (die meisten von ihnen Kinder) aus dem Gazastreifen ermittelt, die an schweren chronischen Erkrankungen leiden, deren Fotos aber ohne diesen Informationshintergrund verbreitet wurden, um sie zu Symbolen der Hungerkrise zu machen.

Hamza Mishmish ist 25 Jahre alt und leidet ebenfalls seit seiner Geburt an Zerebralparese. In einem Interview nahm seine Mutter dazu Stellung: »Natürlich ist er seit seiner Geburt behindert, er hat Zerebralparese und leidet an unzähligen Krankheiten«, sagte sie in einem Video vom 30. Juli, das von der staatlichen Nachrichtenagentur der Palästinensischen Autonomiebehörde veröffentlicht wurde. »Alles bei ihm ist schlimmer, weil er überhaupt keine Immunität hat. Sein Immunsystem ist extrem schwach.«

Zerebralparese (auch infantile Zerebralparese oder kurz CP für Cerebral Palsy) ist eine dauerhafte Bewegungs- und Haltungsstörung, die durch eine frühe Schädigung des unreifen Gehirns entsteht, meist vor, während oder kurz nach der Geburt. Das Gehirn (meist die motorischen Areale) wird durch einen Schaden in der frühen Entwicklung beeinträchtigt. Die Kontrolle über Bewegungen, Muskelspannung und Koordination ist gestört. Die Störung ist nicht fortschreitend, aber die Folgen können sich im Wachstum verändern.

Die Krankheit kann auch wegen Schluckstörungen zu Unterernährung führen. Häufig sind Schluckstörungen (Dysphagie). Die Folge: Das Kind verschluckt sich oft, isst dadurch langsamer oder weniger. Das führt zu Angst vor dem Essen bei Eltern und Kind. Das Essen ist anstrengend und frustrierend, was zu Appetitverlust führt. Zudem geht mit dem häufigen Verschlucken ein erhöhtes Risiko einer Aspirationspneumonie einher. Das ist eine Lungenentzündung, die durch Verschlucken ausgelöst wird und etwa auch bei Demenzpatienten häufig auftritt. Kinder mit Zerebralparese können oft nicht selbständig essen oder sich aufs Essen konzentrieren. Sie brauchen angepasstes Essen, Sonden oder pürierte Kost. Auch Kiefer- oder Zungenmuskeln sind manchmal betroffen. Die Zunge stößt dann etwa Nahrung aus, statt zu schlucken.

Die Folge ist, dass Mahlzeiten sehr lang dauern, unvollständig beendet oder ganz vermieden werden. Dazu kommt ein weiteres Problem: Der erhöhte Energiebedarf durch Spastik. Spastische Muskelaktivität verbraucht mehr Energie als normale Muskelarbeit. Viele Kinder verbrennen mehr Kalorien, als sie aufnehmen können. Bei stark betroffenen Kindern ist der Ruheenergieverbrauch deutlich erhöht. Selbst wenn ein Kind weitgehend normal isst, reicht die Energie dann nicht aus, um Wachstum und Gewicht zu halten. Eine weitere Begleiterkrankung sind Verdauungsprobleme und Stoffwechselveränderungen wie etwa Refluxkrankheit. Die Nahrung kommt zurück, was zu Unwohlsein und Essverweigerung führen kann. Durch all das wird Essen mit Schmerzen verbunden. Die Folge: weniger Appetit, weniger Kalorienaufnahme.

Kinder mit CP haben darum oft sehr spezifische Ernährungsbedürfnisse, z. B.: hochkalorische Nahrung, Flüssigkeitsanpassung (dickflüssiger wegen Gefahr des Verschluckens). Sie brauchen Mikronährstoffe wie Eisen und Vitamin D. In ressourcenarmen Regionen (z. B. in Kriegsgebieten) fehlt diese spezialisierte Ernährung. Das Risiko für Mangelernährung steigt.

Keine Richtigstellungen

Es ist richtig, wenn Journalisten über Patienten wie Hamza Mishmish berichten. Doch wenn der Kontext der chronischen Erkrankung ausgelassen wird, wirft das Fragen nach der journalistischen Ethik auf. Warum geschieht dies? Wird hier bewusst eine komplexe humanitäre und medizinische Krisensituation reduziert, um plakative Bilder mit einfachen Schlagzeilen und Bildunterschriften zu schaffen?

Das öffentliche US-Rundfunknetzwerk NPR brachte kürzlich einen Beitrag über Unterernährung im Gazastreifen, illustriert mit einem Foto von Hamza Mishmish, der von seinem Bruder getragen wird, und der Bildunterschrift: »Der 25-jährige Hamza Mishmish aus Gaza zeigt im Flüchtlingslager Nuseirat Anzeichen schwerer Unterernährung und Knochenschwund, während der Hunger in der Region zunimmt. Das Foto stammt vom 27. Juli.«

Es ist auffällig, dass hier mit scheinbarer Genauigkeit Ort und Zeitpunkt der Aufnahme dokumentiert werden, aber seine Krankheit nicht erwähnt wurde. Der Artikel erklärt die fünf medizinischen Phasen des »Verhungerns«; und obwohl Hamza Mishmish im Text nicht vorkommt, kann der Leser nicht anders, als ihn, dessen Foto abgebildet ist, für ein typisches Beispiel des Hungerns im Gazastreifen zu halten.

Dazu im Widerspruch steht auch, dass Hamzas Bruder kräftig und gut ernährt genug ist, um Hamza zu tragen, ist jedoch leicht erklärbar der eine leidet an einer schweren chronischen Erkrankung, der andere nicht.

Unterschlagen Redaktionen wie die der New York Times oder NPR vorsätzlich den Zusammenhang? Dafür spricht nicht nur die Häufigkeit solcher Fälle, sondern auch, dass die Beteuerung, von der Krankheit nichts gewusst zu haben, oftmals wenig glaubwürdig ist.

Die Journalistinnen von The Free Press belegen dies anhand des Fotos des kleinen Youssef Matar, der ebenfalls von Zerebralparese betroffen ist. Es stammt von Mahmoud Issa, einem Fotografen der Nachrichtenagentur Reuters, auf deren Website das Foto mit der Bildunterschrift »Die vertriebene palästinensische Mutter Samah Matar hält ihren unterernährten Sohn Youssef, der an Zerebralparese leidet, in einer Schule, in der sie während einer Hungerkrise in Gaza-Stadt Schutz finden, 24. Juli 2025« abgebildet ist. Die britische Tageszeitung The Guardian benutzte dasselbe Foto für den Artikel »›In Gaza ist eine Hungersnot im Gange‹, sagen UN-Experten«. Die Bildunterschrift lautet: »Die vertriebene palästinensische Mutter Samah Matar hält ihren unterernährten Sohn Youssef in Gaza-Stadt.«

Die Information über die Erkrankung, die Reuters erwähnte, wurde vom Guardian also weggelassen. The Free Presswollte die Gründe dafür wissen – und wurde an den Redakteur für Leserbriefe verwiesen. Dazu sagte ein Sprecher: »Der große Umfang unserer Berichterstattung über den Konflikt, die von Journalisten geleitet wird, die vor Ort im gesamten Nahen Osten arbeiten und über umfassende Fachkenntnisse in der Region verfügen, spricht für sich.«

Ein anderes Beispiel ist Najwa Hussein Hajjaj, deren Foto mit der Überschrift »Hungern in Gaza« von CNN missbraucht wurde. Denn wie die Journalistinnen von The Free Press recherchierten, erzählte der Vater in einem Interview mit Al-Araby Al-Jadeed von der Erkrankung seiner Tochter, die zu »ständigem Erbrechen« führe. »Dieser Zustand begleitet sie schon ihr ganzes Leben lang«, bestätigte ihre Mutter im Mai gegenüber Al-Araby Al-Jadeed und fügte hinzu, sie leide seit ihrer Geburt an »mehreren Krankheiten».

Auf Anfrage von The Free Press bei CNN hieß es, man werde »zusätzliche Details zu diesen Bildunterschriften« hinzufügen, aber keine Korrektur veröffentlichen: »Diese Informationen ändern nichts an der Tatsache, dass die in diesem Artikel abgebildeten Kinder aufgrund der Schwierigkeiten, im Gazastreifen an Hilfe zu gelangen, wie berichtet, an Unterernährung leiden.«

Ein Muster

Die Autorinnen der Recherche von The Free Press leugnen nicht, dass es im Gazastreifen Hunger und Unterernährung gibt, weisen aber gleichzeitig auf das schwerwiegende journalistische Fehlverhalten von Redaktionen wie der New York Times, CNN oder NPR hin, die Informationen weglassen, die zum Verständnis jedoch wichtig sind:

»Um diesen fehlenden Kontext aufzudecken, waren weder ausführliche Recherchen vor Ort noch monatelange Ermittlungsarbeit nötig. Es dauerte nur wenige Minuten und erforderte lediglich einen Computer mit stabiler Internetverbindung. Wir haben die Namen der Betroffenen einfach mit Google Translate übersetzt, um die arabische Schreibweise zu erhalten, und anschließend in arabischsprachigen Medien nach ihnen gesucht. Schon ein kurzer Blick auf die Ergebnisse zeigte, dass viele dieser Kinder an Muskelschwund, Kopfverletzungen oder anderen schweren Erkrankungen leiden, die ihr abgemagertes Aussehen erklären.« In einigen Fällen seien die relevanten Informationen auch auf Englisch verfügbar gewesen.

Hier ist ein durchgehendes Muster erkennbar: Die Eltern der gezeigten Kinder sprechen gegenüber Journalisten über deren Krankheit, weil sie schnellstmöglich die auf die Bedürfnisse ihrer Kinder zugeschnittene medizinische Hilfe erhalten wollen. Viele Redaktionen unterschlagen diese wesentlichen Informationen und schreiben stattdessen nur allgemein über »Hunger«. Sie reduzieren eine komplexe humanitäre Notlage, bei der vor allem chronisch kranke Kinder dem Risiko des Verhungerns ausgesetzt sind, auf ein einziges Schlagwort und machen höchst spezifische Fälle zu allgemein gültigen Beispielen der Lage in der Küstenenklave.

Plakativer

Dadurch wird es plakativer. Nur wenige wissen, was Zerebralparese oder Mukoviszidose ist, aber jeder weiß, was Hunger ist. Hinzu kommt, dass das Thema »Hunger« sich leichter gegen Israel einsetzen lässt. Die Unterernährung von chronisch kranken Kindern – noch dazu in einem Kriegsgebiet – ist ein schwieriges Problem, für das es keine schnelle und einfache Lösung gibt.

Wenn das Thema aber in seiner Komplexität auf einfachen Hunger infolge einer Nahrungsmittelknappheit reduziert werden kann, ist auch die Lösung einfach: Es müssen nur mehr Lebensmittel geliefert werden. Das wiederum eignet sich, um Israel und die im Gazastreifen tätige Gaza Humanitarian Foundation anzuklagen, mutwillig Zivilisten verhungern zu lassen. Das spielt der Hamas in die Hände, deren Ziel es ist, an der Macht zu bleiben. Dazu braucht es eine Rückkehr zu jenem System, in dem sie allein die ankommenden Hilfsgüter kontrolliert. Tritt dies ein, würden viele chronisch Kranke wie Hamza Mishmish immer noch – oder sogar noch mehr – dem Risiko des Verhungerns ausgesetzt sein. Doch man darf annehmen, dass dann die New York Times oder CNN deren Fotos nicht mehr so prominent veröffentlichen würden.

Was könnten die Redaktionen anders machen? Sie könnten zwar die Bilder benutzen, müssten aber den Lesern die relevanten Informationen zur Verfügung stellen, anstatt Kontext auszulassen. Doch ein dringender Appell, dass chronisch Kranke im Gazastreifen Hilfe brauchen, ist vielleicht gar nicht das, was sie anstreben. Das Narrativ soll sein, dass ein ganzes Volk hungere und Israel die Schuld trage.

The Free Press zitiert John Spencer vom Modern War Institute in West Point, einem Forschungsinstitut, das bewaffnete Konflikte untersucht. Spencer war seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 viermal mit der israelischen Armee im Gazastreifen unterwegs. Es werde suggeriert, sagt er, »dass Israel dahintersteckt, und wenn sie sich nur auf einen Waffenstillstand einigen, wird das alles jetzt aufhören«. Das aber sei »völlig falsch: Wenn der Krieg jetzt endet, wird die Hamas weiterhin jedes Reiskorn und jeden Sack Zucker kontrollieren und sich damit auf Kosten der Zivilbevölkerung bereichern.»

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