Im Oktober erhielt die libysche Zentralbank einen neuen Gouverneur. Mit dem Amtsantritt Naji Belqasems endet auch die Unabhängigkeit dieser wichtigen staatlichen Institution.
Seit dem Sturz des langjährigen Diktators Muammar al-Gaddafi während der Aufstände des Arabischen Frühlings im Jahr 2011 gab es in Libyen keine Stabilität mehr und nur wenig Frieden. Auch nach dem Ende des Bürgerkriegs von 2020 bleibt Libyen ein gespaltenes Land.
Die von der UNO anerkannte Regierung unter Premierminister Abdul Hamid Dbeiba kontrolliert die im Westen gelegene Hauptstadt Tripolis und das Umland. Zu den Unterstützern dieser Regierung gehören unter anderen die Türkei und Katar. Der Osten Libyens wird politisch von Ministerpräsident Osama Hammad geführt, an dessen Seite der mächtige Kriegsherr Khalifa Haftar steht. Moskau unterstützt Regierung und Milizen Ostlibyens.
Seit Haftars 2020 gescheiterten Versuch, Tripolis einzunehmen, herrscht ein Waffenstillstand zwischen den konkurrierenden Regierungen und ihren Milizen. Diese haben sich arrangiert und teilen sich die Infrastruktur und die Öleinnahmen des Landes untereinander auf. Die Zentralbank galt bis zum heurigen Sommer als eine der wenigen Institutionen, die bisher vom Konflikt zwischen West- und Ost nicht zerrissen wurde.
Machtwechsel
Obwohl die Zentralbank ihren Sitz in Tripolis hat, arbeitete sie unter der Führung von Sadik al-Kabir mit beiden politischen Lagern zusammen und verwaltete die Milliarden aus dem Ölexport. Sie ist das Herz der libyschen Volkswirtschaft, stellt sicher, dass die Ölgelder fließen und die Gehälter der Regierung bezahlt werden. Dass der Bankier al-Kabir seit dem Ende des Gaddafi-Regimes zwei Bürgerkriege und sechs Premierminister überlebte, sei kein Zufall, schrieb The Economist. Es wird behauptet, dass al-Kabir seine Herausforderer gekauft hat: Nach Gaddafi verdoppelte sich die Zahl der Staatsbediensteten auf fast 2,4 Millionen in einem Land mit sieben Millionen Einwohnern.
Das konnte ihn letztendlich aber nicht vor seiner Absetzung durch die Regierung in Tripolis als Leiter der Zentralbank im August bewahren. Was war geschehen? Wie der Standard berichtete, hatte al-Kabir ab 2023 begonnen, Premierminister Dbeiba wegen dessen skrupellosen Umgangs mit staatlichen Geldern zu kritisieren. Dbeiba sah dahinter den Einfluss Haftars auf den Chef der Zentralbank und entschloss sich zur Abberufung al-Kabirs. Dieser weigerte sich zunächst, musste aber auf Druck Ende August zunächst nach Tunesien und später weiter in die Türkei fliehen – die New York Times berichtete im Detail über den Coup gegen al-Kabir.
Als Reaktion auf die Einflussnahme der Tripolis-Regierung auf die Zentralbank befahl Haftar einen Stopp der Erdölproduktion, von der sämtliche Staats- und Exporteinnahmen abhängen. Damit nicht genug: Verunsichert durch den fragwürdigen Wechsel in der Führungsetage der Zentralbank ließen internationale Banken Zahlungsanweisungen aus Tripolis unbearbeitet. Dadurch konnten libysche Händler keine Importgeschäfte mehr tätigen. Um eine Wirtschaftskrise zu verhindern, einigten man sich Ende September auf die Einsetzung eines neuen Gouverneurs: Naji Belqasem soll zukünftig die Zentralbank führen. Er genießt die Unterstützung Haftars und wichtiger Warlords in Tripolis. Dbeiba musste sich dieser mächtigen Konstellation fügen und die Einsetzung des neuen Chefs absegnen.
Wie Le Monde diplomatique berichtete, wurde festgelegt, dass in Zukunft nicht mehr der Gouverneur allein die Zentralbank führt, sondern alle Entscheidungen gemeinsam mit seinem Stellvertreter und den sieben Mitgliedern des Aufsichtsrats trifft. Dieser wiederum wird mit Vertretern der beiden Herrscherfamilien (die Dbeibas im Westen und die Hammadis im Osten), käuflichen Parlamentariern und Vertretern der wichtigsten Milizen besetzt sein.
Kleptokratie als System
Bei Vetternwirtschaft und Korruption unterscheiden sich West- und Ost-Libyen wenig, wie Le Monde diplomatique konstatierte. So habe Haftar seine Libysch-Arabischen Streitkräfte als Familienunternehmen organisiert, in dem seine Söhne und Verwandten führende Positionen besetzen, um sich durch kriminelle Geschäfte maximal zu bereichern. Im Westen sichert Premierminister Dbeiba seinen Familienangehörigen ebenfalls die lukrativsten Plätze wie Führungsjobs in Botschaften und staatlichen Banken an den staatlichen Futtertrögen. Anders als Haftar, der an der Spitze der ost-libyschen Streitkräfte steht, muss Dbeiba jedoch auch die Interessen konkurrierender Milizen in Tripolis bedienen.
Diese Milizen, die im Westen und Osten des Landes nach dem Sturz Gaddafis in das Machtvakuum stießen, sind längst in die staatlichen Strukturen eingebunden und führen ein ausgeprägtes Eigenleben. Sie konnten ihren Einfluss in den Institutionen im Verlauf der Jahre immer weiter ausbauen. Dass sie jetzt auch im Aufsichtsrat der Zentralbank sitzen, spricht für sich.
In diesem Netz aus politischen Machtansprüchen und Gier verstrickte sich der Chef der Zentralbank, was ihm am Ende seinen Posten kostete. Al-Kabirs erzwungener Abgang bedeutet, dass nach dreizehn Jahren Unabhängigkeit die Aufteilung staatlicher Institutionen unter konkurrierenden Kleptomanen nun auch in der Zentralbank vollzogen ist.
Vorbote eines neuen Kriegs?
Die Europäische Union hat sich mit der Situation im Mittelmeerland mittlerweile arrangiert. Für sie steht Libyens Stabilität im Vordergrund, was bedeutet, dass es keinen weiteren Krieg zwischen Ost und West gibt und Libyen weiterhin Migranten davor abhält, über das Mittelmeer Europa zu erreichen. Ob diese Stabilität aufrecht zu erhalten ist, bleibt freilich unklar. General Haftar ist vorerst der große Gewinner im Drama rund um die Zentralbank. Seitdem sich al-Kabir in einem (vergeblichen) Versuch, seine Position zu sichern, seit letztem Jahr Haftar zuwandte, fließen verstärkt Gelder in den Osten.
Dieser Trend wird durch die neu geregelte Entscheidungsfindung in der Zentralbank zukünftig anhalten. Den gewonnenen Reichtum nutzt Haftar zur Aufrüstung. Wie Le Monde berichtete, würden Diplomaten im libyschen Osten einen erneuten Angriff auf Tripolis unterstützen. Aber auch die Milzen in Tripolis haben an Macht und Einfluss gewonnen. Ob sich hier eine neue Oligarchie verfestigt oder die Episode rund um die Zentralbank das Vorspiel zu einem weiteren Krieg ist, wird sich zeigen.