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„Lone Wolf“-Angriffe – die „neue IS-Strategie“?

Aus dem Bekennervideo zum Anschlag in Ansbach

Nach den Anschlägen von Nizza und Würzburg warnen europäische Politiker und Medien vor sogenannten „einsamen Wölfen“ als neue Strategie des Islamischen Staates. Doch sowohl der Begriff als die ihn begleitende Debatte sind oftmals irreführend.

Michel Wyss

So erklärte etwa der österreichische Außenminister Sebastian Kurz, der Islamische Staat würde derzeit vermehrt auf die Strategie „einsame Wölfe“ setzen, und solche hätten zuletzt in Nizza und in Würzburg furchtbare Anschläge verübt. Und die deutsche Zeitung Die Welt warnte vor einsamen Wölfen als dem „Albtraum der Terrorjäger.“

Der Begriff „einsame Wölfe“ wurde geprägt von zwei amerikanischen Neonazis, welche rassistische Gesinnungsgenossen dazu aufforderten, aus taktischen Sicherheitsgründen alleine zu handeln. Zwar gibt es nicht die eine allgemeingültige Definition für das Phänomen, doch die meisten Definitionsversuche legen wie Fred Burton und Scott Stewart in einem Essay für Stratfor nahe, dass es sich dabei um eine Person handelt, die „alleine und ohne Befehle – oder sogar ohne Verbindungen – zu einer Organisation handelt.“ Der Artikel in der Welt definiert das Phänomen derweil folgendermassen: „Der Begriff ‚lone wolf‘, also ‚einsamer Wolf‘, wurde von Sicherheitsbehörden geprägt. Er bezeichnet Terroristen, die – oft in ihren Heimatländern – schwere Gewalttaten verüben, ohne zuvor im Ausland in einem Terrorcamp geschult worden zu sein.“

Die Anwendung dieser Definitionen macht die Klassifizierung vieler vermeintlicher „Lone Wolf-Angriffe“ problematisch. So hatte etwa der im Welt-Artikel erwähnte Toulouse-Attentäter Mohammed Merah nachweislich ein dschihadistisches Trainingscamp in Pakistan besucht und wurde dort mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit instruiert, einen Anschlag in Europa durchzuführen – von niemand anderem als Moez Garsalloui, welcher jahrelang von der Schweiz aus dschihadistische Online-Propaganda von der Schweiz aus verbreitet hatte.

Auch in anderen Fällen, wie jüngst in Nizza, ist fraglich, ob die Attentäter tatsächlich als einsame Wölfe wie Unabomber Ted Kaczynski oder Anders Behring Breivik zu klassifizieren wären. Tatsächlich scheint der Verweis auf einen vermeintlichen „Lone Wolf“ mittlerweile opportun zu sein, um damit Kritik, man hätte den Täter früher identifizieren müssen, abzuwehren. In der Tat hinterlassen Terroristen, die ohne jegliche Verbindungen zu anderen Gruppen oder Personen operieren, weniger Spuren und sind deshalb schwerer auszumachen. Doch während die Behörden im Falle Nizzas zuerst erklärten, es habe sich um das Werk eines Einzeltäters gehandelt, der sich innerhalb weniger Wochen radikalisiert habe, stellte sich wenig später heraus, dass Mohammed Lahouaiej Bouhlel den Anschlag seit Monaten gemeinsam mit Komplizen geplant hatte. Und auch beim Selbstmordanschlag von letzter Woche in Ansbach hat sich nun nach Informationen der Bild-Zeitung herausgestellt, dass der Attentäter offenbar bereits dem IS-Vorgänger Islamischer Staat in Irak (ISI) angehört und den Anschlag mit Unterstützung eines Komplizen seit Monaten geplant hatte.

al-suri
Abu Musab Al-Suri

In solchen Fällen von „einsamen Wölfen“ zu sprechen scheint zumindest fragwürdig. Vielmehr handelt es sich dabei um terroristische Zellen, die sich durchaus selbst-radikalisieren und ohne effektive Instruktionen oder Unterstützung durch eine grössere Terrororganisation operieren können. Dabei handelt es sich aber keineswegs um eine „neue Strategie“. Bereits Abu Musab Al-Suri, eine bekannte Al-Qaeda Figur, präsentierte in seinem 1.600-seitigen „The Call to Global Islamic Resistance“ eine Dschihad-Strategie, die auf zwei grundsätzlichen Facetten beruht: 1. Individueller Dschihad von Einzelpersonen und Zellen, die Anschläge ohne Verbindungen zu oder Unterstützung durch etablierte Terrororganisation organisieren und durchführen. 2. Reisen in und Etablierung von etablierten Dschihad-Fronten, d. h. in Gegenden der Welt, welche sich für nachhaltigen Stadt- und Guerillakrieg eignen.

Al-Suri, der einst ein Al-Qaida-Trainingslager in Afghanistan leitete, argumentierte in dem 2004 erschienen Werk, dass eine solche Vorgehensweise angesichts der weltweiten Anti-Terrormassnahmen mehr Erfolg versprächen als große Anschlage à la 9/11. Al-Suris Überlegungen fanden unter Al-Qaida-Unterstützern bereits seit seiner Veröffentlichung rege Verbreitung und der „Ruf zum Globalen Islamischen Widerstand“ wurde von vielen  als Schlüsseldokument betrachtet. Eine noch größere Verbreitung unter Dschihahdisten in aller Welt erlangte das Werk aber nach 2008, nachdem es niemand geringeres als Ayman Al-Zawahiri, der Stellvertreter von Osama bin Laden und heutige Anführer von Kern-Al Qaida, als Lektüre empfohlen hatte, um Al Qaidas Strategie zu verstehen. Gemäß Michael W. S. Ryan von der Jamestown Foundation spielen die Überlegungen Al-Suris auch für den Islamischen Staat eine bedeutende Rolle, allerdings ohne ihn explizit als Inspiration zu benennen (IS ist nicht gut auf Al-Suri zu sprechen).

Die vermeintlich „neue Strategie“ des IS ist also so neu nicht. Anstatt in billige Effekthascherei oder gar Fatalismus angesichts der „Lone Wolf-Gefahr“ zu verfallen, ist es an der Zeit, sich intensiv mit Strategie und Taktiken dschihadistischer Organisationen zu beschäftigen. Europa wird sich wie Israel auf einen mühseligen und langwierigen Kampf gegen den Terror einstellen müssen. Solange die europäischen Behörden nicht intim mit der Vorgehensweise ihrer Gegner vertraut sind, wird es ihnen nicht gelingen, Gruppierungen wie den IS oder Al Qaida sowie deren Anhänger effektiver zu bekämpfen.

Artikel zuerst erschienen auf Audiatur Online.

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