Von Thomas von der Osten-Sacken
Die Idee, in Nordafrika, vor allem in Libyen mit seiner langen und kaum kontrollierbaren Küste, „Auffangeinrichtungen“ für Flüchtlinge einzurichten, die nun erneut diskutiert wird, ist keineswegs neu. Schon 2004 schlug der damalige SPD-Innenminister Otto Schily ähnliches vor. Auch er argumentierte dabei ganz human – immer wenn es darum geht, Menschen davon abzuhalten, nach Europa zu fliehen, geht es ja nur um humane Gründe –, schließlich wolle man die armen Flüchtlinge vor der gefährlichen Überfahrt abhalten.
Was dabei herauskam ist bekannt: Ein Deal mit dem Diktator Muammar al-Gaddafi, der damals ja noch als guter Freund Europas galt. Man zahlte Milliarden, damit Libyen Flüchtlinge in Internierungslagern inhaftiert. 2010 erklärte deshalb der damalige UN-Hochkommissar für Flüchtlinge:
„Wir glauben nicht, dass in Libyen die Bedingungen gegeben sind, die berechtigten Asylbewerbern einen Schutzraum zum Existieren bieten.“
Kurze Zeit später schmiss Gaddafi das UNHCR aus seinem Land, eine Kontrolle, was in den Auffanglagern geschah, gab es nicht mehr. Systematischen Missbrauch und grauenhafte Bedingungen in den Lagern dokumentierte die Organisation Human Rights Watch schon in einem 2009 veröffentlichen Report.
All dies hielt die EU nicht davon ab, weiter auf Gaddafi zu setzen. Der damalige Deal mit Libyen gilt sogar als Blaupause für das 2016 mit der Türkei abgeschlossene Abkommen: Man zahlt Despoten und Autokraten, damit sie einem die Flüchtlinge vom Hals halten. Je weniger über die Lage vor Ort bekannt wird, desto geringer die moralische Empörung in Europa; und je schwächer die ausfällt, umso besser. Dass man mit dem Elend der Flüchtlinge reich werden kann, war in Libyen also schon lange vor dem Sturz Gaddafis bekannt. Wer es wissen wollte, wusste auch, dass die Europäer zu jedem miesen und unmenschlichen Deal bereit sind – hält er nur Afrikaner von ihren Küsten fern.
Für die unzähligen Milizen, die seit 2011 das Land kontrollieren, ist Menschenschmuggel ein lukratives Geschäft. Aber wie man sein Geld verdient, ist ihnen eigentlich egal: Wird etwa mehr gezahlt, sollte man Menschen an der Flucht hindern, dann ändert man eben sein Tätigkeitsfeld:
„Infolge eines von Italien unterstützten Abkommens hat die belagerte libysche Regierung in Tripolis Zahlungen an Milizen geleistet, die in den Menschenschmuggel verwickelt sind, damit sie in Zukunft Flüchtlinge am Überqueren des Mittelmeers nach Europa hindern. Dies sei ein Grund für die dramatische Abnahme der Überfahrten, erklärten Miliz- und Geheimdienstvertreter der Associated Press gegenüber. (…) Mindestens fünf in Sabratha ansässige Geheimdienstmitarbeiter und Aktivisten berichteten, es sei bekannt, dass die Milizionäre in den Menschenschmuggel verwickelt seien. Ein Geheimdienstmitarbeiter nannte die Brüder [al-Dabashi, die die Milizen leiten; Anm. Mena Watch] die ‚Könige des Menschenschmuggels’ in Sabratha. Der UNO-Expertenausschuss zu Libyen identifizierte die al-Ammu-Brigade als den wichtigsten Betreiber des Menschenschmuggels.
Der Sprecher der al-Ammu-Miliz Bashir Ibrahim erklärte, die beiden Organisationen hätten vor einem Monat eine ‚mündliche’ Vereinbarung zur Bekämpfung des Menschenschmuggels mit der italienischen Regierung und der Serraj-Regierung geschlossen. Die aus 400 bis 500 Kämpfern bestehende al-Ammu Miliz sei mit dem Verteidigungsministerium der Serraj-Regierung assoziiert, während die Brigade 48 dem Innenministerium unterstehe. Bemühungen, seine Angaben durch die Serraj-Regierung bestätigen zu lassen, waren zunächst erfolglos. Seitdem haben die Milizen Migrantenboote daran gehindert, in der Gegend um Sabratha abzulegen, und Schmuggler angewiesen, ihre Arbeit einzustellen. Im Gegenzug erhalten die Milizionäre Gerätschaften, Boote und Gehälter, so Ibrahim.“
Was mit Gaddafi erfolgreich funktionierte, können ein paar Milizionäre auch, mit den entsprechend vorhersehbaren Folgen:
„Dieses Vorgehen hat bei manchen im libyschen Sicherheitsapparat und bei Aktivisten, die Migranten unterstützen, Empörung ausgelöst. Es mache die Miliz reich, die sich daher mehr Waffen kaufen könne und an Macht gewinne. Angesichts des Chaos, das in dem Land herrsche, könne die Miliz den Menschenschmuggel jederzeit wieder aufnehmen oder sich gegen die Regierung wenden. Das Abkommen konsolidiere die Macht der Milizen, die seit dem Sturz des Diktators Muammar Gaddafi 2011 eine Reihe libyscher Regierungen sabotiert haben, einschließlich der gegenwärtigen unter Fayez Serraj, die international anerkannt aber schwach ist.“
Lieferte Europa sich 2016 an Erdogan aus, der wohl ohne Flüchtlingsdeal niemals so selbstsicher sein Land in eine Autokratie hätte überführen können, so legt man nun sein Schicksal in die Hände dubioser libyscher Milizen und debattiert erneut über ausgelagerte „Asylentscheidungszentren“ in Libyen. Diese werden sich so wenig realisieren wie 2004, als Otto Schily sie ins Gespräch brachte. Derweil aber wird man sich daran gewöhnen, dass mittlerweile nicht einmal mehr Regierungen, wie im Falle der Türkei oder Marokkos, die Partner beim Unterzeichnen solcher Abkommen sind – sondern parastaatliche Akteure wie libysche Halsabschneidermilizen mit islamistischem Hintergrund, die auch anderweitig aus den Flüchtlingen Geld zu machen wissen:
„Inoffizielle Gefangenenlager, die von Milizionären kontrolliert werden, sind einträgliche Unternehmen, die vom Menschenschmuggel profitieren. UNICEF zufolge handele es sich um ‚nichts anderes als Zwangsarbeitslager … und provisorische Gefängnisse’. ‚Für die Tausenden dort festgehaltenen migrantischen Frauen und Kinder, waren [die Lager] die Hölle auf Erden. Menschen wurden dort monatelang festgehalten.’“
Frauen und Kinder warden in die Prostitution gezwungen, Männer als Arbeitsklaven missbraucht. Wer zu erschöpft ist, den erwartet oft eine Kugel. So sehen die Lager in Libyen aus, in denen täglich Hunderdtausende zu leiden haben, deren einziges Verbrechen darin besteht, nach Europa zu wollen. Auch in von der Regierung betriebenen Einrichtungen sieht es wenig besser aus. Erst kürzlich gelang es einer Reporterin der Times of London, einige dieser Lager zu besichtigen:
„‚Wir haben es hier mit Häusern zu tun die bei sengender Hitze weder eine Belüftung noch Fenster haben’, erklärte sie. ‚Es befinden sich Hunderte Menschen in diesen Zimmern. Oft bleiben sie dort monatelang am Stück, weil sie auf die Rückführung in ihre Heimatländer warten.’“
Viele dieser Flüchtlinge stammen aus Ländern wie Eritrea oder dem Sudan, in die sie zurück geschickt werden sollen. Dort erwarten sie Hungersnot und Repression, beide Länder wurden schon 2011 von Freedom House als die schlimmsten der Schlimmen bezeichnet. Seitdem hat sich die Situation dort kontinuierlich verschlechtert. Libyen aber kann in jedes Land zurückschieben, denn Gaddafi hat die Genfer Flüchtlingskonvention nie unterzeichnet, und auch die neue Regierung, will man sie so nennen, ist keinerlei internationalen Abkommen zum Flüchtlingsschutz verpflichtet.
Kurzum: Flüchtlinge in Libyen sind völliger Willkür, Folter, Ausbeutung, sexuellem Missbrauch und systematischer Misshandlung ausgesetzt, sie dienen Milizen und Regierung als Geldquelle und sind vollkommen rechtlos. Und daran wird sich nichts ändern. Ganz im Gegenteil: Geht es um das Recht, Menschen auszubeuten und zu quälen, dann sind Regimes in Nordafrika und dem Nahen Osten immer ganz erpicht darauf, auf ihre nationale Souveränität zu pochen.
Und so beginnt gerade ein präzedenzloses Experiment: Unter Zustimmung breiter Teile der europäischen Öffentlichkeit und Politik entwickelt die EU gerade ein Abkommen mit einem Land, das inzwischen als „failed state“ gilt. Und die Libyer beweisen im Gegenzug, dass sie auch ohne Gaddafi in der Lage sind, Europas südliche Küsten weitgehend flüchtlingsfrei zu halten. Man wird dies als Erfolg verbuchen und demnächst mit dem Niger, Tschad, Eritrea und dem Sudan ähnliche Abkommen aushandeln.
Es versteht sich von selbst, dass es im Interesse aller Vertragsparteien liegt, wenn in Zukunft möglichst wenig vom Elend in den Lagern und Einrichtungen in Nordafrika berichtet wird. So wie schon jetzt die libysche Küstenwache gegen den Einsatz von Hilfsschiffen diverser Flüchtlingshilfsorganisationen vorgeht, wird das Innenministerium, dem ja eine der Milizen untersteht, die sich nun zahlen lassen, um den dreckigen Job für die EU zu machen, Mittel und Wege finden, Journalisten davon abzuhalten, künftig von vor Ort zu berichten. Und wenn man dann nichts mehr vom Elend hört, können sich auf dem nächsten Flüchtlingsgipfel europäische Politiker treffen und vermelden, dass jetzt erfolgreich nicht nur die Balkanroute „dicht“ sei, sondern auch das südliche Mittelmeer.
Dann werden sie sich dem nächsten Hotspot zuwenden, denn seit die Flucht aus Libyen schwerer wird, vermeldet Spanien steigende Zahlen und die UN erklärt, alleine könne das Land der Krise nicht Herr werden:
„Der UNO-Flüchtlingsagentur zufolge fehlen Spanien die Mittel und die Kapazitäten, um die steigende Anzahl an Flüchtlingen und Migranten zu schützen, die es auf der Seeroute erreichen. Die Warnung durch die UNHCR kam, nachdem die spanische Küstenwache berichtete, sie habe an einem Tag 593 Menschen, darunter 35 Kinder und ein Baby, aus 15 kleinen Ruderbooten gerettet, mit denen sie versucht hatten, die 11 Kilometer breite Meerenge von Gibraltar zu überqueren. (…) Um die 9300 Migranten seien dieses Jahr bereits auf dem Seeweg nach Spanien gelangt. Weitere 3500 seien in die beiden spanischen Enklaven in Nordafrika, Ceuta und Melilla, gelangt. Die Grenzen der Enklaven sind die einzigen Außengrenzen der EU in Afrika.“