Die verheerende Flutkatastrophe, die Libyen letztes Jahr heimsuchte, hat nicht nur tausende Menschenleben gefordert, sondern auch die tiefgehenden Probleme des Landes offenbart.
Im September 2023 ließen sintflutartige Regenfälle die veralteten Dämme oberhalb der libyschen Küstenstadt Derna brechen. Die Flutwelle ergoss sich auf die darunter liegenden Gebiete und zerstörte einen Großteil der Stadt und des Umlandes. Rund 45.000 Menschen mussten ihre verwüsteten Wohnungen und Häuser aufgeben. Insgesamt waren etwa 1,5 Millionen Menschen von der Katastrophe betroffen – ganze 22 Prozent der libyschen Bevölkerung. Wie die New York Times berichtet, werden zusätzlich zu den 4.352 Todesopfern immer noch mehr als 8.000 Menschen vermisst. Man nimmt an, dass viele von ihnen aufs Meer hinausgeschwemmt wurden.
Ende Juli 2024 wurden zwölf Beamte verurteilt, die für die katastrophalen Dammbrüche verantwortlich sein sollen. Sie erhielten langjährige Haftstrafen zwischen neun und 27½ Jahren. Die Verurteilten hätten sich trotz jahrelanger Warnungen nicht darum gekümmert, dass die Dämme oberhalb von Derna gewartet und repariert wurden. Von Libyens Spitzenpolitikern wurde jedoch niemand zur Verantwortung gezogen. Und das, obwohl ihnen vorgeworfen wird, Korruption und die damit verbundene Vernachlässigung der Dämme überhaupt erst ermöglicht zu haben.
Staatliche Subventionen befeuern Schmuggel
Doch die Flutkatastrophe war nur die Spitze des Eisbergs. Sie offenbarte die tiefgreifende Korruption, die das Land lähmt. Libyen belegt Platz 170 von 180 im Korruptionswahrnehmungsindex gelisteter Staaten. Tatsächlich ist die Korruption in Libyen allgegenwärtig und reicht vom Regierungsbeamten bis zum einfachen Arbeiter. Ein Ausfluss dieser Korruption ist der weitverbreitete Schmuggel, allen voran jener von Kraftstoff. Denn obwohl Libyen ein führender Erdölproduzent ist, verfügt das Land nicht über genug Raffinerien, um ausreichend Erdölprodukte für den heimischen Markt herzustellen.
Das zwingt die Regierung dazu, Milliarden für den Import von Produkten wie Benzin und Diesel auszugeben. So hat das Land im Jahr 2022 Erdölerzeugnisse im Wert von über fünf Milliarden US-Dollar importiert. Die meisten dieser Produkte werden auf dem lokalen Markt zu stark subventionierten Preisen verkauft, was den Schmuggel zu einem lukrativen Geschäft macht. Schätzungen zufolge werden bis zu 40 Prozent des subventionierten importierten Kraftstoffs außer Landes geschmuggelt, vor allem ins Nachbarland Tunesien. Während der Liter Benzin in Libyen ca. 0,05 Cent kostet, bezahlt man in Tunesien etwa 0,21 Dollar – ein Geschäft, das jährlich Milliarden einbringt.
Zerrissenes Land
Korruption und das Verschleudern öffentlicher Gelder gab es, seit Libyen in den 1950er Jahren unabhängig wurde. Allerdings war das Ausmaß der Korruption unter Muammar al-Gaddafi noch deutlich niedriger und Beamte, die zu viel in die eigene Tasche gewirtschaftet hatten, wurden gelegentlich zur Rechenschaft gezogen. Seitdem der Diktator 2011 durch einen NATO-unterstützten Aufstand gestürzt wurde, hat die Korruption deutlich zugenommen.
Dazu tragen auch die beiden rivalisierenden Regierungen bei: Im westlichen Tripolis die von den Vereinten Nationen als Überbrückung bis zu den nächsten Wahlen eingesetzte Regierung der Nationalen Einheit (GNU), im Osten das sogenannte Repräsentantenhaus (HoR) mit der Regierung der nationalen Stabilität. Diese wird von der libyschen Nationalarmee unterstützt und kontrolliert den größten Teil des Landes, bedeutende Ölfördergebiete inklusive.
In einer Art prekärem Gleichgewicht gelingt es zwar, dass bestimmte Institutionen – wie die Zentralbank und die Nationale Ölgesellschaft – mit beiden Regierungen kooperieren. Das ändert aber nichts daran, dass Korruption und Misswirtschaft mittlerweile fixer Bestandteil der libyschen Ökonomie sind. Von den bewaffneten Milizen über lokale Gemeinderäte bis zur Regierungsebene ist Korruption Teil des politischen und wirtschaftlichen Alltags – im Westen des Landes genauso wie im Osten.
Weiter befeuert wird die Korruption durch politische Eliten und unzählige Quasi-Behörden, die um Legitimität und die Kontrolle von Infrastruktur und Gebieten ringen. Oft in Kooperation mit oder in Konkurrenz zu bewaffneten Gruppen und Milizen, die zum Teil vom Ausland finanziert werden und für Menschenrechtsverletzungen und Missbrauch bekannt sind. Von diesen Menschenrechtsverletzungen betroffen sind nicht zuletzt Migranten und Flüchtlinge, von denen sich laut IOM im Frühjahr 2024 mehr als 725.000 in Libyen aufhielten. Viele von ihnen sudanesische Staatsangehörige, die aufgrund des anhaltenden Konflikts in ihrem Herkunftsland nach Libyen flohen.
Korruption ruiniert den Staat
Katastrophen wie jene in Derna letzten Jahres gehen auf Vernachlässigung zurück; sehr wahrscheinlich waren Gelder, die für Instandhaltung und Reparatur der Dämme bestimmt waren, umgeleitet worden. Die Folgen dieser Vernachlässigung sind fatal. Ein fatales Zeichen ist jedoch auch, wie mit der Katastrophe und den Verantwortlichen umgegangen wurde. Denn bei den zwölf Verurteilten handelte es sich lediglich um Beamte auf kommunaler Ebene. Hochrangige Politiker wurden nicht zur Rechenschaft gezogen.
Das Ergebnis ist ein Vertrauensverlust der Menschen in ihre Regierung und deren Institutionen, die weiter geschwächt werden. Solange die Korruption von der Spitze der Regierung akzeptiert wird, wird sie Teil des ökonomischen Systems bleiben und die finanzielle Ausplünderung des reichen Landes weitergehen.
Libyens prekäre Lage ist aber nicht nur internen Faktoren geschuldet. Fünfmal so groß wie Deutschland mit fast 2.000 Kilometer Mittelmeerküste und den größten nachgewiesenen Ölreserven in Afrika ist es von zentraler geostrategischer Bedeutung. Zahlreiche Staaten, vom Nachbarn Ägypten über die Türkei, Russland, Frankreich und andere, verfolgen daher ihre Interessen und tragen mit zur Destabilisierung Libyens bei. Russland beispielsweise nutzt die Unsicherheit, um seine Präsenz im Mittelmeerraum zu verstärken, während die Türkei ihre Unterstützung für bestimmte Milizen nutzt, um ihre geopolitischen Ziele in Nordafrika zu verfolgen.
Die Folgen dieser Politik sind auch für Europa weitreichend. Von der mangelnden Sicherheit an seiner Südflanke, die von Russland ausgenutzt wird, über die illegale Migration auf den Kontinent bis hin zu Libyens Ölreserven, die wegen bewusster Blockaden oder Kriegsschäden Europa nur teilweise zur Verfügung stehen.
Libyens Zerrissenheit und die weitverbreitete Korruption haben das Land an den Rand des Abgrunds geführt. Die Flutkatastrophe in Derna ist nur ein Symptom einer tieferliegenden, strukturellen Krise. Solange die internationalen Akteure weiterhin nur ihre eigenen Interessen verfolgen und Libyens politische Elite die Korruption toleriert, bleibt die Hoffnung auf Stabilität in weiter Ferne. Ein stabiles Libyen ist nicht nur im Interesse der libyschen Bevölkerung und eine Frage regionaler Sicherheit – es wäre auch wichtigf für die Sicherheit und das Wohlstandsniveau in Europa.