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Libyen: Krieg um die wahre islamische Lehre

Krieg in Libyen (imago images/Sebastian Backhaus)
Krieg in Libyen (imago images/Sebastian Backhaus)

In Libyen findet zwischen zwei wichtigen fundamentalistischen Gruppen ein bizarrer Konflikt um die wahre islamische Lehre statt, der jedoch kaum international Beachtung findet.

Von Manuel Störmer

Am 7. Januar 2020 eroberte die Bürgerkriegspartei der „Libyschen Nationalen Armee“ unter dem Warlord Khalifa Haftar in seinem Krieg gegen die „Regierung der nationalen Übereinkunft“ von Fajez al-Sarraz überraschend die libysche Stadt Sirte. Diese liegt direkt zwischen den Städten Benghazi und Tripolis, den jeweiligen beiden Hauptquartieren der Bürgerkriegsparteien, mit Haftar im östlichen Benghazi und al-Sarraz in der westlichen Hauptstadt Tripolis.

Was nach einem militärischen Sieg in einem Bürgerkrieg aussah, war in Wahrheit jedoch nur dem Fakt zu verdanken, dass eine dort stationierte Miliz urplötzlich die Seiten wechselte und damit innerhalb kürzester Zeit die Stadt Haftar übergab. Der an sich dröge Name der Miliz, Battallion 604, überdeckt dabei ihre extremistische Ausrichtung: Denn es handelt sich um eine salafistische Miliz, die einem radikalen saudischen Prediger namens Madkhali folgt und damit leider nur eine von vielen Milizen darstellt, die Madkhalis fundamentalistische Ansichten in die Tat umsetzen und gegen „Abtrünnige“ und „Häretiker“ in Libyen vorgehen wollen.

Muslimbrüder …

Doch sie sind dabei nicht allein. Auch andere fundamentalistische Gruppierungen ringen im Bürgerkriegsland um Macht und Einfluss, allen voran die islamistische Muslimbruderschaft, die vor allem in der Bürgerkriegspartei im Westen des Landes starken Einfluss besitzt und bewahren will. Sadiq al-Ghariani, der libysche Chefideologe der Gruppierung, wurde dabei einseitig zum „Großmufti Libyens“ ausgerufen, der mithilfe seines „Dar al-Ifta“ im Sinne der Bruderschaft Fatwas erlässt und dabei das Allgemeinvertretungsrecht in Libyen und damit die politische Macht in Libyen beansprucht.

Dazu kommt der Einfluss der Jihadisten al-Qaidas und des IS, die in Libyen einen außerordentlich großen Einfluss besitzen und dessen IS-Zelle zwischenzeitlich weite Teile des Landes kontrollierte, gegen den jedoch beide Gruppierungen kämpfen.

… und Salafisten

Ansonsten bekämpfen einander die beiden konkurrierenden Gruppierungen bis aufs Blut und sprechen sich gegenseitig die Legitimation ab. Die Madkhalis beschimpfen die Muslimbruderschaft als „Abtrünnige und Häretiker“, die „Terroristen unterstützen“ würden, die Muslimbrüder wiederum beschimpfen die Madkhalis als Vertreter imperialen saudischen Einflusses und als Fanatiker. Beide Seiten haben gegen die andere Seite den Jihad ausgerufen und beide Seiten haben die Materialien der anderen Seite als gefährliche Häresie verbieten lassen.

Beide Prediger, Madkhali und al-Ghariani, erlassen Fatwas, in denen sie ihren Anhängern direkte politische und militärische Anweisungen geben und damit direkt auf den Bürgerkrieg Einfluss nehmen. Auch wenn die beiden Gruppen sich augenscheinlich bis aufs Messer bekämpfen, ähneln sie sich in der hohen Bedeutung, die sie dem Islam in Politik und Gesellschaft beimessen wollen. Beide sind hochgradig fundamentalistisch und extrem konservativ, beide geben religiösen Autoritäten einen starken politischen Anspruch.

Der Stein des Anstoßes

Doch warum bekämpfen sie einander eigentlich? Da sich beide Gruppen eigentlich in puncto ultrakonservativer und autoritärer Gesellschaftsordnung stark ähneln, ist diese Frage viel schwieriger zu beantworten als die Frage, warum sie es eigentlich nicht tun sollten. Die Gründe hier liegen in ideologischen Details sowie vor allem in politischen Fragen:

1. Das politische Modell, das die Madkhalis und das die Muslimbrüder anstreben, unterscheidet sich in wichtigen Details: Die Muslimbruderschaft predigt eine Art „islamisch geleitete Volksherrschaft“, die auch Anleihen am Faschismus als „Volksgemeinschaft“ nimmt. Wahlen werden hier als Mittel zum Zweck einer islamisch geleiteten Parteidiktatur von Funktionären gesehen, die sich als authentische Repräsentanten des Volkes im Sinne Gottes sehen. Die Bruderschaft predigt die Einheit aller Muslime in einer allumfassenden, ideologisch reinen „islamischen Ummah“, das jedoch bedeutet auch, dass zumindest versucht wird, verschiedene islamische Gruppen zusammenzubringen und das Gemeinsame zu betonen – wenn auch nur nach außen.

Die Madkhalis predigen dagegen eine Art Quietismus, das heißt, anstatt einer ideologischen Einheit von Partei und Religion wird eine Trennung von Politik und Religion angestrebt. Das Vorbild hierbei ist Saudi-Arabien, wo die Predigerkaste enorm großen Einfluss über die Gesellschaftspolitik des Landes hat, dafür aber im Gegenzug wie bei Paulus den jeweiligen politischen Herrscher absolut unkritisch und unbedingt unterstützt.

Dafür ist die Gesellschaftspolitik der Madkhalis noch radikaler als die der Muslimbruderschaft: Absolute Geschlechtertrennung, Ablehnung sämtlicher Formen von Wahlen, von Verfassungen und Demokratie, massive Einschränkung der Frauenrechte, radikale Ablehnung sämtlicher „Häretiker“, darunter vor allem Sufis, Schiiten und andere muslimische Gruppierungen.

Da sie keine Mischung von Politik und Religion nach dem Modell der Bruderschaft verlangen, sehen sie sich als authentischere Repräsentanten der Religion, die nicht durch die Politik korrumpiert werden könne.

Praktisch stellt Madkhali allerdings einen „Hofgelehrten“ dar, der de facto alles unterstützt, was die jeweilige Regierung tut –  und sich damit Kritik an den Madkhalis als „ausländische Agenten“ eingehandelt hat. So wurden die Madkhalis auch von Gaddafi dazu genutzt, Kritiker des Regimes sowie Aufständische als „Abtrünnige“ zu beschimpfen.

2. Die Muslimbrüder und die Salafisten unterscheiden sich auch in einer anderen Hinsicht: Sie werden von verschiedenen konkurrierenden Staaten und Gruppen unterstützt und sehen einander schlicht als Rivalen um die Macht.

Während die Madkhalis von den Golfmonarchien unterstützt werden, die ein Interesse an politischer Stabilität nach innen haben, sehen sie die Muslimbrüder wegen deren nomineller Unterstützung von Wahlen und einer gewissen Nähe zum Iran als Gefahr für das Überleben der Golfmonarchien. Die Königreiche am Golf verfolgen seit einigen Jahren die Muslimbrüder und andere politische Islamisten als Konkurrenten, insbesondere Saudi-Arabien und die Emirate. Dieser Konflikt wird nun auch in Libyen ausgetragen, wo Haftar mit offener Unterstützung der Saudis und der Emirate als Handlanger der Golfmonarchien gegen die Bruderschaft eingesetzt wird.

Während die Muslimbruderschaft überwiegend eigene transnationale Interessen verfolgt, sind die Madkhalis leichter nutzbar, um die eigenen zu rechtfertigen. Dasselbe geschieht jetzt auch mit Haftar, der die Madkhalis gegen die Zivilgesellschaft und Kritiker einsetzt und Sicherheit, Ordnung und Ruhe gegen Terroristen verspricht. (Wichtig: Terroristen heißt hier auch „religiöse Abweichler“ bzw. politische Gegner) Ägypten tut dasselbe, um das al-Sisi-Regime zu stützen, und unterstützt daher Haftar.

Haftar als Säkularer?

Khalifa Haftar, der sich im Ausland absurderweise als Säkularer in Szene setzt, hat höchstselbst einen „Jihad“ gegen die Türkei ausgerufen und spricht von seinen Kämpfern als „Mujaheddin“, ein Wort, das islamistische Terrorgruppen sonst immer nutzen. Damit hat er es Sadiq al-Ghariani, dem Großmufti der Bruderschaft, gleichgetan, der ebenfalls den Jihad gegen die Verbündeten Haftars ausrief.

Letztlich kämpfen hier zwei fundamentalistische, ultrakonservative Gruppierungen gegeneinander um die wahre Lehre und um religiöse Details, während ihr Einfluss gegenüber liberaleren Gruppen immer stärker wächst.

Und das verheißt nichts Gutes – weder für Frauenrechte, Minderheitenrechte oder demokratische Freiheiten.

Geringfügig überarbeitet Version eines Textes, der  zuerst auf dem Jungle Blog erschienen ist..

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