Libanons Wirtschafts- und Finanzsystem ist endgültig kaputt

Libanesische Sicherheitskräfte schützen eine Bank während der Demonstration zum 1. Mai
Libanesische Sicherheitskräfte schützen eine Bank während der Demonstration zum 1. Mai (© Imago Images / Hans Lucas)

Nachdem die Demonstrationen gegen Wirtschaftskrise und Günstlingswirtschaft wegen Corona zwischenzeitlich abgeflaut waren, branden sie nun mit neuer Intensität wieder auf.

Dass wütende Gewalttäter Molotowcocktails auf die Fensterscheiben von Geldinstituten werfen, das gibt es in einigen europäischen Städten üblicherweise am 1. Mai. Im Libanon begann es schon im April und hat seither nicht mehr aufgehört. Libanons Polizei und Armee gehen mit Schlagstöcken, Gummigeschossen, Tränengas und scharfer Munition gegen alle vor, die sie verdächtigen, an den Unruhen mitzuwirken.

Diese entzündeten sich im April nicht zuletzt an den rasant steigenden Lebenshaltungskosten und daran, dass die Regierung des hoch verschuldeten Landes eine Reihe von Maßnahmen erlassen hat, die auf eine Enteignung der Sparer hinauslaufen.

„Hunger“, lautet das Schlagwort der Unruhen. Am 27. April starb der 26-jährige Fawwaz al-Samman an Schusswaffenverletzung, die er nach Auskunft seiner Schwester auf einer Demonstration in der Nähe des Al-Nour-Platzes in Tripoli erlitten hatte. Der Al-Nour-Platz war schon im letzten Jahr ein wichtiger Ort der Proteste gewesen, wo sich große Menschenmengen versammelten und in Zelten diskutierten. Ein Arzt habe bestätigt, dass die Verletzungen, denen al-Samman erlag, von scharfer Munition verursacht wurden, nicht von Gummigeschossen, sagt die Familie.

Bei seiner Beerdigung füllten sich die Straßen in der nordlibanesischen Stadt mit Demonstranten, die, so die Washington Post, al-Samman als „Märtyrer der Hungerrevolution“ bezeichneten. Die verarmte 700.000-Einwohner-Stadt ist das Zentrum der Unruhen, schon 2019 galt Tripoli als „Protesthauptstadt“. Berichte über Demonstrationen und Angriffe auf Banken gibt es aber auch aus Beirut, der südlibanesischen Stadt Tyrus und der Bekaa-Ebene.

Abhebungsbeschränkungen und Kursverfall

Der libanesische Staat ist bankrott. Im März hatte die Regierung verkündet, ihre Gläubiger nicht mehr auszuzahlen und auch keine Zinszahlungen mehr zu leisten, um so die noch verbliebenen Devisen für lebenswichtige Importe aufzusparen.

Die Gründe für die Misere reichen mehr als zwei Jahrzehnte zurück. Seit 1997 hatte es im Libanon ein System mit zwei parallelen Währungen gegeben – Libanesisches Pfund (LBP) und US-Dollar –, nun treffen die Folgen der Mängel dieses Systems und der Misswirtschaft der Regierung die Bevölkerung doppelt.

Dollar, die sie auf ihren Konten haben, können sie sich nicht auszahlen lassen, weil die Auszahlungshöchstgrenzen immer weiter reduziert wurden: waren es im Dezember noch 300 bis 500 Dollar pro Woche, sind es derzeit nur noch höchstens hundert. Gleichzeitig haben sich die Preise in Libanesischen Pfund mehr als verdoppelt, weil das Pfund gegenüber dem Dollar mehr als die Hälfte an Wert verloren hat.

Schaut man auf die Wechselkurscharts, die man im Internet findet, wird man davon nichts merken. Dort werden Kurse angezeigt, die in der Nähe des offiziellen Wechselkurses von 1.507 LBP je Dollar liegen. Doch zu diesem Kurs kann man bei keiner libanesischen Bank tauschen. Sie wechseln das Geld nur noch zu Tageskursen, die Zeitungsberichten zufolge Anfang April bei 3.000 Pfund lagen, mittlerweile sollen es 4.000 Pfund sein.

Da sich am offiziellen Umtauschkurs nichts geändert hat, kann man erahnen, woher die Wut auf die Banken rührt.

Man stelle sich vor, ein Deutscher würde bei seiner Bank Euro gegen Dollar tauschen wollen. Im Internet oder in der Zeitung hat er gelesen, dass der Wechselkurs derzeit bei 1,07 Dollar je Euro liegt. Folglich erwartet er, dass sein Geld auch zu diesem Kurs getauscht wird. Legt die Bank – weil sie ja Kosten hat und auch einen Gewinn machen will –stattdessen einen Kurs von vielleicht 1,05 Dollar zugrunde, fühlt sich der Kunde womöglich schon betrogen. Nun stelle man sich vor, die Bank würde sagen, dass sie ihm nicht mehr als, sagen wir: 0,50 Dollar je Euro zahlen könne – obwohl der offizielle Kurs etwas ganz anderes besagt.

So in etwa muss die Situation libanesischen Sparern vorkommen. Dabei sind die Banken allerdings unschuldig: Sie denken sich die Umtauschkurse nicht aus, sondern sind nur die Überbringer der schlechten Nachricht. Zu sehen, dass das Libanesische Pfund so wenig wert ist, ist für die Bürger des Libanon deshalb ein solcher Schock, weil dessen Währung jahrzehntelang künstlich überbewertet war: Jedes Mal, wenn jemand Libanesische Pfund zum offiziellen Kurs in Dollar tauschte oder ausländische Waren kaufte, subventionierte die Notenbank die Transaktion mit den ihr zur Verfügung stehenden Dollarreserven. Dass sie dazu nun nicht mehr länger in der Lage ist, ist der Auslöser der jetzigen Währungskrise.

Unwiederbringlich kaputt

Im Herbst hatte der Chef des libanesischen Bankenverbands noch beteuert, die Beschränkung der Abhebungen sei „ein Zaun, um das System zu schützen“, solange, „bis die Situation zur Normalität zurückgekehrt ist“. Nun dürfte auch dem Letzten klar geworden sein, dass die Sparer enteignet wurden und das alte System unwiederbringlich kaputt ist.

Es beruhte darauf, dass die libanesische Notenbank in der Lage war, einen festen Umtauschkurs zu gewährleisten: Für 1.507 Pfund gab es einen Dollar. Das ging nur so lange, wie sie über genug (im Ausland geliehene) Dollarreserven verfügte, um die überschüssigen Pfund aufzukaufen, für die es bei einem willkürlich zu hoch festgesetzten Umtauschkurs am Markt keine Nachfrage gegeben hätte.

Länder wie Mexiko, Argentinien und einige Staaten in Südostasien haben in den 1990er Jahren ebenfalls ihre Währungen zu einem festen Umtauschkurs an den US-Dollar gekoppelt. Auch dort führte das Experiment zu Währungs- und Bankenkrisen, als die jeweilige Notenbank nicht mehr in der Lage war, den Umtauschkurs zu halten und die Währungen in den freien Fall übergingen.

In Libanons Nachbarland Türkei, wo die Lira seit Jahren relativ langsam an Wert verliert, sind die Bürger im Vergleich besser dran, da sie gewarnt sind und ihre Ersparnisse Monat für Monat in stabilere ausländische Währungen oder Geldanlagen investieren können. Im Libanon kam die Abwertung für die meisten ohne Warnung.

Besonders gravierend ist die Lage zudem, weil der Dollar jahrelang eine Parallelwährung war, die an der Seite des Pfunds benutzt wurde, sodass etwa Preise auf den Speisekarten in den Restaurants in beiden Währungen ausgewiesen waren. Wer ein Haus gekauft und wegen der niedrigeren Zinsen einen Kredit in Dollar aufgenommen hat, für den haben sich die monatlichen Raten in Libanesischen Pfund ausgedrückt seit Herbst mehr als verdoppelt.

Aber auch die, die am Wenigsten besitzen, die weder über ein Haus noch über Ersparnisse verfügen, stehen nun noch schlechter da als vor der Krise, denn die Löhne halten nicht mit den Preisen Schritt und wegen der Wirtschaftskrise wächst die Arbeitslosigkeit. Es gibt keine zuverlässigen Statistiken, doch die Arbeitslosenrate wurde im Februar 2020 auf 40 Prozent geschätzt – das war vor der Corona-Krise.

Verzweifelte Maßnahmen

Unterdessen greift der Staat zu verzweifelten Maßnahmen: Am 27. April wies die Notenbank die Geschäftsbanken an, den US-Dollar für nicht mehr als 3.200 Pfund zu tauschen. Die Folge: Seither bekommt man im Libanon überhaupt keine Dollar mehr, und das Pfund verliert weiter an Wert. Die Hoffnungen der Regierungen liegen nun auf dem Export von Cannabis.

Bei den Demonstrationen mischen sich Forderungen nach gesellschaftlichen Veränderungen mit Ärger über die steigenden Preise. „Unsere Forderungen sind simpel und wir verlangen nichts Unmögliches“, sagte ein Demonstrant namens George Ghanem Ende April gegenüber der Nachrichtenagentur Associated Press, und nannte vorgezogene Neuwahlen und eine unabhängige Justiz. „Wir wollen in Würde leben. … Wir werden weitermachen, und keiner wird uns von der Straße verdrängen.“ Auf der anderen Seite erwähnt der Bericht eine Frau mit einem Plakat, auf dem stand: „Mein Gehalt reicht für zwei Tüten Milch.“

Die Auslandsverschuldung des Libanon beläuft sich auf 92 Milliarden Dollar, das sind 170 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Nur durch gute politische Beziehungen zu den Golfstaaten konnte der Libanon überhaupt solch einen Schuldenberg aufbauen.

Laut den Ökonomen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff (This Time is Different. Eight Centuries of Financial Folly, 2009) erklären Schwellenländer meist schon bei einem viel niedrigeren Schuldenstand die Zahlungsunfähigkeit. Argentiniens Auslandsschulden beliefen sich beim Staatsbankrott 2001 auf 50,1 Prozent des Bruttoinlandprodukts, im Falle Russlands (1998) waren es 58,5 Prozent.

Staatsbankrott und Günstlingswirtschaft

Es ist ein Missverständnis, dass ein Staatsbankrott ein bequemes Mittel sei, um sich lästiger Schulden zu entledigen, weil angeblich nur die Gläubiger den Schaden hätten. Staaten, die bankrott machen, haben immer auch ein Außenhandelsdefizit, d.h. sie führen mehr Güter ein, als sie exportieren.

Im Fall des Libanons beläuft sich die Lücke auf 18 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Das bedeutet, dass das Land jeden Monat im Schnitt 1,5 Milliarden Dollar neue Schulden machen muss, um die Einfuhren zu bezahlen. Oder es müsste die Importe um eben diese Summe reduzieren; das würde dann wohl tatsächlich Hunger bzw. noch mehr Hunger bedeuten.

Politisch noch brisanter wird die Situation dadurch, dass vielen Libanesen klar ist oder zumindest dämmert, dass die relativ hohe Zahl von Milliardären in dem Land und die exorbitante Auslandsverschuldung vielleicht etwas miteinander zu tun haben. Nicht zuletzt diese Günstlingswirtschaft auf Kosten des Staates ist gemeint, wenn auf Demonstrationen in Tripoli von Korruption die Rede ist. Stromversorgung und Müllentsorgung etwa gelten im Libanon als „Goldgruben“ – für die, die daran verdienen, nicht für die, die dafür zahlen müssen.

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