Nach über zwei Jahren Vakuum ist es dem libanesischen Parlament nun gelungen, in einer über zwei Runden gehenden Abstimmung einen neuen Präsidenten zu wählen.
In der ersten Runde der Abstimmung eines neuen Präsidenten im libanesischen Parlament verweigerte die Hisbollah dem ehemaligen Armeekommandeur Joseph Aoun zwar ihre Unterstützung, sodass er nur 71 der für den Sieg erforderlichen 86 Stimmen erringen konnte, doch die zweite Runde zwang das schiitische Duo Hisbollah/Amal-Bewegung zur Umkehr, wodurch Joseph Aoun mit 99 Stimmen die Präsidentschaft gewann.
Die Wahlen fanden inmitten eines spürbaren Rückgangs des regionalen Einflusses der Hisbollah statt. Als Folge des Kriegs mit Israel verlor sie viele ihrer Anführer, unter ihnen auch Generalsekretär Hassan Nasrallah. Der Sturz von Präsident Baschar al-Assad versetzte der Partei einen weiteren Schlag, da ihre strategisch bedeutsameVersorgungsroute für Geld und Waffen aus dem Iran zum Erliegen kam, was die Frage aufwirft, ob sie Joseph Aoun unter Zwang bzw. aufgrund einer politischen Vereinbarung gewählt hatte.
Verhandlungen und Garantien
Die Antwort kam von Aoun selbst, der in seiner ersten Rede als neuer Präsident eine klare Botschaft an die Hisbollah richtete, indem er Investitionen in die Armee zusagte, um die südlichen Grenzen zu Israel zu kontrollieren, jene im Osten und Norden gegenüber Syrien zu sichern und den Terrorismus zu bekämpfen.
Weiters betonte Aoun sein Engagement für die Umsetzung internationaler Resolutionen und des staatlichen Gewaltmonopols, was einem impliziten Hinweis auf die Entwaffnung der Hisbollah gleichkommt. In Summe kann diese Rede als Botschaft an die schiitische Stellvertretermiliz des Irans interpretiert werden: »Keine Einmischung in die Justiz, keine Kriege, keine Bombenanschläge, keine Bevorzugung, keine Immunität für kriminelle oder korrupte Personen. Nein zu Schmuggel, Nein zu Interventionen, Nein zu Mafiosi, Nein zum Drogenhandel.«
Bezüglich der Verhandlungen im Vorfeld der Präsidentschaftswahl bestätigte eine anonym bleibende Quelle aus dem Umfeld der Hisbollah und der Amal-Bewegung, die beiden Parteien hätten Garantien erhalten, nachdem sich ihre Vertreter zwischen den Wahlgängen mit dem ehemaligen Befehlshaber der Armee getroffen hatten. Das schiitische Duo habe gefordert, »dass Saudi-Arabien sich um den Wiederaufbau kümmert«, während »das Finanzministerium in Händen der schiitischen Konfession verbleibe« und eine »Konsolidierung des Waffenstillstands« mit Israel erreicht werde.
Gleichgewicht der Kräfte
Im Anschluss spielte der libanesische Autor und Kommentator des amerikanischen TV-Senders al-Hurra, Ali Al-Amin, die Bedeutung der Garantien herunter: »Was die Diskussion über Garantien betrifft, so genügt es, darauf hinzuweisen, dass Aoun seine erste Rede nicht an die Hisbollah adressierte, sondern vielmehr über die Exklusivität von Waffen in den Händen des Staates sprach und betonte, dass allein die Armee für den Schutz der Grenzen und die Wahrung der Sicherheit des Libanons verantwortlich ist.«
Die Hisbollah habe versucht, den Eindruck zu erwecken, die entscheidende Partei bei der Wahl von Aoun gewesen zu sein, um öffentlich zu beweisen, noch immer effektiv und einflussreich zu sein, »aber das entspricht nicht der Realität. Das Kräfteverhältnis im Libanon hat sich geändert und die Hisbollah ist zu ihrer natürlichen Größe zurückgekehrt, also zu einem Block mit fünfzehn Abgeordneten« in einem Parlament mit 128 Mitgliedern.
Für Lina Khatib, Analystin beim britischen Thinktank Chatham House, wurde zum ersten Mal seit Ende des Bürgerkriegs im Jahr 1990 »ein libanesischer Präsident ohne die vorherige Zustimmung des Irans und des [syrischen] Regimes von Baschar al-Assad gewählt«. Die Zustimmung der Hisbollah zur Wahl von Joseph Aoun bedeute, dass die Terrorgruppe die politische Agenda des Landes nicht mehr diktiere: »Diese Verschiebung [der Kräfteverhältnisse] ist eine direkte Folge der geopolitischen Veränderungen im Nahen Osten und insbesondere das Ende des iranischen Einflusses in der Region.«