Jeder im Libanon weiß, dass die Hisbollah maßgeblich für den katastrophalen Zustand des Landes verantwortlich ist. Und?
Avi Issacharoff, The Times of Israel
Die Explosion vom 4. August hat die Krise des Landes zweifellos verschärft, aber die Risse, die Brüche, die Korruption und natürlich die Hisbollah gab es schon lange vorher. Die jüngste Tragödie zeigt, wie weitgehend der Staat Libanon praktisch zu existieren aufgehört hat.
Der Libanon besteht gegenwärtig aus einem Durcheinander von Organisationen, Milizen und ethnischen Gruppen, die ums Überleben kämpfen, während über allem die große gelbe Flagge der Hisbollah weht. Es gibt keine wirkliche Regierung – die des Hisbollah-Verbündeten Hassan Diab, die diese Woche zurückgetreten ist, war jedenfalls mit Sicherheit keine.
Doch das galt auch für die vorherige Regierung, an deren Spitze der Rivale der schiitischen Organisation, Saad El-Din Al-Hariri, stand. Beide verschafften dem Land, das faktisch von einer Guerilla-Armee regiert wird, lediglich eine Regierungsfassade. Michel Aoun ist ein Präsident von Hisbollahs Gnaden, beim Stabschef der Armee und alle anderen wichtigen Staatsposten ist es ebenfalls so. Die libanesische Armee selbst besteht hauptsächlich aus Schiiten, was bedeutet, dass die Partei Allahs einen großen Einfluss auf sie ausübt. (…)
Die Libanesen verstehen besser als jeder andere, dass der Staat vor ihren Augen wegen einer korrupten libanesischen Elite und vor allem wegen der Hisbollah zerfallen ist. (…)
Und doch ist die Kluft zwischen der Verzweiflung und einem echten Aufschrei gegen die Hisbollah nach wie vor groß. Beispiele für diese leicht paradoxe Situation findet sich in vielen Artikeln in den libanesischen Medien. Ein Journalist der Zeitung an-Nahar, die nicht zum Lager der Hisbollah gehört, übertraf sich selbst in einem Artikel mit der Überschrift „Der innere Feind“, in dem er wiederholt die herrschende politische Elite angriff, sich aber sorgfältig jeder Erwähnung der Hisbollah enthielt. (…)
Die Hisbollah befindet sich nun in einer heiklen Lage. Einerseits besteht kein Zweifel daran, dass sie in der libanesischen öffentlichen Meinung ihren tiefsten Punkt seit der Ernennung von Hassan Nasrallah zum Chef der Organisation 1992 erreicht hat.
Andererseits kann niemand im Libanon eine Bedrohung für sie darstellen. Und bei allem Respekt vor der libanesischen öffentlichen Meinung: Die AK-47s und die Raketen der Gruppe werden am Ende des Tages dafür sorgen, dass der Protest auf den Straßen keinen kritischen Punkt erreichen kann. Die Hisbollah ist sowohl schwach als auch sehr stark. (…)
Wenn die Menschen die Ereignisse in Syrien seit 2011 Revue passieren lassen, wird ihnen klar, dass die Hisbollah an der Seite des Iran gekämpft hat, einer schiitischen Regionalmacht, die sehr weit vom Libanon entfernt ist. Nach all den Beteuerungen der Hisbollah, dass Muqawama – der Widerstand gegen den zionistischen Feind – ihr Lebenszweck sei, ist plötzlich deutlich geworden, dass der Krieg in Syrien nicht dazu gedacht war, den Zionisten zu schaden, sondern Teheran zu dienen. (…)
Nasrallah beobachtet die Demonstrationen und lässt sie gewähren – bis zu einem gewissen Punkt. Dann wird er in einer seiner berühmten Reden davor warnen, was passieren wird, wenn die Demonstranten zu Gewalt greifen. Er lässt sie ihre Wut zum Ausdruck bringen, im Wissen, dass ihr Widerstand schließlich nachlassen wird. Warum? Weil die Regeln im Libanon nun einmal so sind und das System seit Dutzenden von Jahren so funktioniert. Die Demonstranten können sich Genugtuung verschaffen, indem sie in Regierungsbüros einbrechen – aber die Hisbollah bleibt unantastbar.
(Aus der Analyse „Hezbollah, Lebanon’s enemy within, remains untouchable despite port catastrophe“ von Avi Issacharoff, die bei der Times of Israel erschienen ist. Übersetzung von Florian Markl.)