Am 9. Januar wählte das libanesische Parlament Joseph Aoun zum 14. Präsidenten des Landes und beendete damit einen zweijährigen politischen Stillstand.
Einfach war der Weg zur Neubesetzung des Präsidentenamts nicht: Zwei Jahre und zwölf Wahlversuche nach Ende der Amtszeit von Michel Aoun waren notwendig, um die Position neu zu besetzen [Joseph Aoun ist mit Michel Aoun weder verwandt noch verschwägert, Anm. Mena-Watch], da die Hisbollah und Parlamentspräsident Nabih Berri den Prozess wiederholt blockierten und die Opposition bezüglich der möglichen Kandidaten oft gespalten war.
Doch der Krieg zwischen Israel und der Hisbollah änderte die Lage völlig. Angesichts der unzähligen zerstörten Dörfer im Südlibanon und in der Bekaa-Ebene sowie der Angriffe auf vorwiegend schiitisch bewohnte Stadtteile Beiruts durch die israelische Armee sei der Druck für die Hisbollah und den Parlamentspräsidenten zu groß geworden, weshalb beide ihre Blockadehaltung aufgeben mussten; nicht zuletzt auch deswegen, weil aus dem Iran eine Wiederaufbauhilfe für das Land kaum zu erwarten ist und die Hisbollah durch den Sturz des Assad-Regimes in Syrien einen wichtigen Verbündeten verloren hat. Diese Schwäche gab den USA, Frankreich, Saudi-Arabien und Katar die Möglichkeit, die Wahl eines neuen Präsidenten als Voraussetzung weiterer Unterstützung unabdingbar zu machen.
Ist die Ära der Hisbollah im Libanon also zu Ende? Auf jeden Fall sei ihre vormals gefestigte Position ins Wanken geraten, analysierte die New York Times, obwohl die Miliz mit ihrem umfangreichen Waffenarsenal jahrzehntelang wesentlich stärker aufgestellt war als das nationale Militär. Die Hisbollah kontrollierte nicht nur die wichtigsten Regierungsstellen, sondern auch die Grenze zu Syrien, den Handelshafen und andere kritische Infrastrukturen. Ohne ihre Rückendeckung konnten de facto keine wesentlichen politischen Entscheidungen im Land getroffen bzw. dem Iran als deren Unterstützer kaum etwas entgegengesetzt werden.
Obwohl die Gruppe nach wie vor einflussreich ist, Tausende Kämpfer in ihren Reihen stehen und ihr ein großer Teil der schiitischen Muslime loyal gegenüberstehen, sei die Ära der unerschütterlichen Vorherrschaft der Hisbollah im Libanon vorbei, so das Resümee der New York Times.
Neues politisches Kapitel
Mit der Wahl des neuen Präsidenten hat der Libanon nun die Chance, die politische Lähmung zu überwinden, in der das Land seit mehr als zwei Jahren durch die schwache und ineffektive Übergangsregierung paralysiert war. Joseph Aoun, Unterstützer der Vereinigten Staaten und Saudi-Arabiens, erfüllt als maronitischer Christ auch die konfessionelle Voraussetzung für das Amt des Staatspräsidenten, das gemäß dem politischen System immer einem Christen vorbehalten ist.
Wie die Konrad-Adenauer-Stiftung berichtete, stand der 60-jährige Aoun als Armeechef seit 2017 einer der wenigen staatlichen Institutionen vor, die in der Bevölkerung bis heute Ansehen und Respekt genießen. Auch wenn nach dem Zusammenbruch des libanesischen Pfunds im Jahr 2019 der Sold der Soldaten und damit deren Kaufkraft an Wert verlor, blieb das Militär als Institution stark, was laut Al-Monitor vor allem auf die finanzielle Unterstützung durch die Vereinigten Staaten und Katar sowie auf die entschlossene Führung durch Joseph Aoun zurückzuführen ist.
Laut Washington Post war Aouns Wahl dennoch nicht unumstritten. So sprach sich die Freie Patriotische Bewegung des ehemaligen Präsidenten, eine der einflussreichsten christlichen Parteien des Landes, gegen seine Kandidatur aus; unter anderem mit dem Argument, die Verfassung verbiete es einem amtierenden Armeechef, zum Präsidenten gewählt zu werden. Obwohl dieses Verbot bereits mehrfach ignoriert wurde, waren einige Abgeordnete nicht glücklich darüber, dies erneut zu tun.
Neuer Präsident, neue Regierung
In seiner Antrittsrede kündigte Aoun den Eintritt des Landes in eine neue Phase seiner Geschichte an, in der künftig nur der Staat über Waffen verfügen soll, was ein deutliches Signal an Hisbollah ist, deren militärisch dominante Rolle der ehemalige Armeechef beendet sehen möchte. Wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung meldete, sprach der scheidende US-Präsident Joe Biden Joseph Aoun sein Vertrauen aus, der die richtige Führungsperson für diese Zeit sei. Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gratulierte: Die Wahl von Aoun ebne den Weg für Reformen, heißt es in einer Mitteilung Macrons auf X.
Tatsächlich könnten mit Aouns Amtsantritt jene wirtschaftlichen und politischen Reformen in die Praxis umgesetzt werden, die seit Langem von den internationalen Geberländern gefordert werden. Freilich sind auch die Herausforderungen, vor denen das Land steht, gewaltig. Als Chef der libanesischen Armee ist Präsident Aoun dafür zuständig, die Waffenruhe zwischen Israel und der Hisbollah zu überwachen, wobei es vor allem darum geht, die Hisbollah-Kämpfer von der Grenze zu Israel fernzuhalten. Hunderttausende durch den Krieg Vertriebene wollen in ihre Heimatdörfer zurückkehren, was den Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur bzw. Häuser voraussetzt – von der allgemeinen Wirtschaftskrise, die das Land fest im Griff hat, ganz zu schweigen.
Um all dies in Angriff zu nehmen, braucht es eine neue, funktionierende Regierung. Am 14. Jänner erlangte der Juristen Nawaf Salam nach Beratungen der großen Lager mit Präsident Joseph Aoun in Beirut 84 von 128 Stimmen der Parlamentarier. Er kann damit die Bildung einer neuen Regierung beginnen. Der 71-Jährige stammt aus einer prominenten Politikerfamilie und studierte Rechtswissenschaft und Politik im Libanon, den USA und Frankreich und war bislang Präsident des Internationalen Gerichtshofs.
Wer den Libanon kennt, weiß, dass ein Prozess zur Regierungsbildung Wochen oder gar Monate dauern kann. Allzu viel Zeit hat das krisengeplagte Land aber nicht.