Von Stefan Frank
Dem Bericht zufolge zogen die Demonstranten trotz strömenden Regens zu dem im Stadtzentrum gelegenen Parlament. Nach Angaben des AFP-Fotografen nahmen viele Frauen, aber auch männliche Abgeordnete und Künstler an der von zivilgesellschaftlichen Vereinigungen organisierten Kundgebung teil. Darunter waren Mädchen, die weiße Tüllschleier trugen und Schild hochhielten, auf denen geschrieben stand: „Das Ende der Verheiratung von Kindern beginnt mit deren Bildung“ oder „Sie haben Mädchen geheiratet, sie haben sie in den Tod getrieben“. In Sprechchören hieß es: „Parlamentsabgeordnete, ein Mädchen hat ein Recht auf Sicherheit“. Die Demonstranten forderten das Parlament auf, ein Gesetz zu beschließen, das ein Mindestalter von 18 Jahren für Eheschließungen einführt. Eine entsprechende Vorlage liegt seit Monaten im Parlament. Abir Abdel Razeq, eine 22-jährige Mutter, die mit ihrer Tochter an der Demonstration teilnahm, sagte dem AFP-Fotografen, sie sei mit 14 Jahren verheiratet worden. Sie hoffte, ihre Tochter werde die Schule beenden und frühestens mit 22 heiraten.
Im Libanon gibt es keine Standesämter; Angelegenheiten wie Heirat, Scheidung oder Erbschaft werden von den 18 Religionsgemeinschaften gemäß deren Bestimmungen geregelt. Zivilehen können im Libanon nicht geschlossen werden, werden aber anerkannt, wenn sie im Ausland geschlossen wurden. Viele Paare, die nicht religiös heiraten wollen – was nur möglich ist, wenn beide derselben Religionsgemeinschaft angehören –, heiraten im Ausland, etwa auf Zypern. Entscheiden sie sich allerdings, zusätzlich religiös zu heiraten, gelten allein die Ehe- und Scheidungsregeln der jeweiligen Religionsgemeinschaft, was für die Frau gravierende negative Auswirkungen haben kann, wenn es zu einer Scheidung kommt.
Ein Mindestalter für Eheschließungen gibt es im Libanon nicht. So können laut einem Bericht des Büros des Hohen Kommissars für Menschenrechte bei den Vereinten Nationen (OHCHR) bei den Schiiten – und in Ausnahmefällen auch bei den Sunniten – im Libanon schon neunjährige Mädchen verheiratet werden. Alle Religionsgemeinschaften diskriminieren dahingehend, dass für Mädchen andere – niedrigere – Altersgrenzen gelten als für Jungen.
Auf diese Verletzung von Menschen- und Kinderrechten machte die libanesische Frauenrechtsorganisation KAFA Anfang 2016 mit einem schockierenden Film aufmerksam, der auf YouTube seither vier Millionen Mal angeklickt wurde. Darin ist zu sehen, wie ein zwölfjähriges Mädchen in Hochzeitskleid und -schleier und ein Mann, der sein Großvater sein könnte, an der Strandpromenade von Beirut vor einem Fotografen posieren, der Hochzeitsfotos von ihnen macht. Die Szene ist nicht echt, sondern von Schauspielern gestellt. Das Problem aber, auf das KAFA mit dramaturgischen Mitteln aufmerksam macht, ist wirklich.
Einen Erfolg bei der Gesetzgebung zu Eheschließungen erreichten Frauenrechtsgruppen im August 2017, als das Parlament auch auf ihren Druck hin ein Gesetz abschaffte, wonach Vergewaltiger nicht bestraft werden, wenn sie ihr Opfer heiraten. Ein solches „Heirate-deinen-Vergewaltiger“-Gesetz gibt es in etlichen Ländern der Welt. In Jordanien wurde es ebenfalls 2017 abgeschafft, in den Palästinensischen Autonomiegebieten im März 2018 – mit Ausnahme des Gazastreifens, wo es weiterhin gilt.
Die Dringlichkeit eines Verbots von Kinderehen im Libanon zeigte sich erst im Dezember 2018 durch den Selbstmordversuch einer 16-Jährigen. Sie war vom Dach des Elternhauses gesprungen, nachdem ihr Cousin und Ehemann, der sie im Alter von 14 Jahren geheiratet hatte, sich von ihr geschieden und sie an ihre Eltern „zurückgegeben“ hatte, die ihre Tochter seither in ständigem Hausarrest hielten und ihr auch den Schulbesuch verboten.
Die Bewegung für das Verbot von Kinderehen im Libanon ist eng mit der Forderung nach der Einführung einer allgemeinen Zivilehe verbunden, die auf libanesischem Staatsgebiet geschlossen werden kann. Es sind die im Libanon so mächtigen Religionsgemeinschaften, die sich gegen beides sperren. „Wir lehnen die Zivilehe ab, weil sie gegen das Sharia-Gesetz verstößt“, sagte die Pressestelle der Dar el-Fatwa, der obersten sunnitischen Behörde des Landes, in einer von Le Figaro zitierten Erklärung.