Seit dem 7. Oktober machen viele Juden die Erfahrung, dass sie sich nicht mehr willkommen fühlen an Orten, wo sie eigentlich geglaubt hatten, Gleichgesinnte zu treffen oder romantische Dates erleben zu können.
Zwei Beispiele dafür sind der New York Dykes Marchund Dating-Apps.Ein Dykes March ist ein Festumzug für lesbische Frauen, häufig mit einem politisch-aktivistischen Charakter, der deutlich im linken Spektrum angesiedelt ist. Dies geht im Fall des New Yorker Dykes MarchBerichten zufolge schon seit einigen Jahren mit einer öffentlichen Parteinahme gegen Israel einher, was aber offenbar bislang für viele Jüdinnen kein Grund war, daran nicht teilzunehmen. Bis jetzt.
Weil sie sich auf dem New York Dykes March nicht mehr sicher fühlen, haben lesbische Jüdinnen aus dem Großraum New York nun unter dem Titel »Shalom Dykes« ihre eigene Party ins Leben gerufen, obwohl viele von ihnen bedauern, dass eine solche Trennung notwendig geworden ist.
Der diesjährige Marsch vom 29. Juni stand unter dem Motto »Dykes against Genocide« (»Lesben gegen Völkermord«). Als solchen bewerten die Veranstalter Israels Krieg gegen die Hamas; gleichzeitig haben sie sich öffentlich dagegen ausgesprochen, im Zusammenhang mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt den Massakern und Entführungen vom 7. Oktober 2023 gedanklich irgendeinen Raum zu geben – und sich sogar dafür entschuldigt, einmal für dreißig Minuten gegen dieses selbst auferlegte Dogma verstoßen zu haben.
Wie Julia Gergely, Reporterin der jüdischen Nachrichtenagentur JTA, schreibt, war auf der Instagram-Seite des New York Dykes March am 27. Juni kurzzeitig folgender Text zu lesen: »Während wir glauben, dass es dringend notwendig ist, die schreckliche Notlage des palästinensischen Volks in den Mittelpunkt zu stellen, verstehen wir die Notwendigkeit unserer Gemeinschaft, den jüdischen Schmerz und die Angst angesichts des weltweit zunehmenden Antisemitismus anzusprechen. Wir trauern um den sinnlosen Verlust von jüdischem Leben, der durch die Anschläge vom 7. Oktober verursacht wurde.«
Kontrovers daran war, dass auch jüdischem Leid und den jüdischen Opfern von Verbrechen gedacht wurde; mochten die gewählten Formulierungen auch noch so vage sein, es war schon zu viel. Innerhalb einer halben Stunde löschten die Organisatoren diesen Beitrag und gaben eine zweite Erklärung heraus, in der sie von einem »Fehler« sprachen, der »ohne eine vollständige Abstimmung im Komitee veröffentlicht wurde und nicht die offizielle Haltung des Dyke March widerspiegelt«.
»Wir übernehmen die volle Verantwortung und entschuldigen uns für den Prozess und die Kommunikationspanne, die uns hierhergeführt haben, sowie für den Schaden, den unsere Erklärung verursacht hat«, schrieben die Verantwortlichen: »Der Dyke March unterstützt ohne Wenn und Aber die Befreiung der Palästinenser. Dieser Moment ist eine wichtige Erinnerung für unser Komitee, an unserer Haltung festzuhalten, dass Antizionismus kein Antisemitismus ist und jede Äußerung von uns, die sich nicht eindeutig gegen eine zionistische, imperialistische Agenda richtet, allen schadet.«
»Sinnloser Verlust von jüdischem Leben« verdient also nicht, betrauert oder auch nur erwähnt zu werden. Und wer für »den jüdischen Schmerz und die Angst angesichts des weltweit zunehmenden Antisemitismus« Verständnis zeigt, der schade nicht nur dem Kampf gegen die vermeintliche »zionistische, imperialistische Agenda«, sondern »allen«. Der Kampf gegen die »Zionisten« wird identifiziert mit dem Wohlergehen eines jeden Menschen, auf das es die »Zionisten« angeblich abgesehen hätten.
Unwillkommen
Nach diesem Vorfall entschieden lesbische Jüdinnen aus New York, dass sie eine Alternativveranstaltung bräuchten, bei der Jüdinnen willkommen sind. Die transsexuelle und mit einer Israelin verheirateten Nate Shalev hatte mehr als zehn Jahre lang am New York Dykes March teilgenommen und war Mitglied des Organisationskomitees: »Es war ein Tag, an dem ich die Straße entlanggehen und mich wie ich selbst fühlen konnte. Ob ich nun fröhlich oder wütend war, ich konnte einfach der sein, der ich in meinem eigenen Körper bin. Es gab keinen anderen Tag wie diesen. Das war meine Vision für die Zukunft. So wollte ich die Welt haben.« Nun fühlt Shalev sich dort nicht mehr wohl: »Ich fühlte mich unwillkommen, unsicher, als ob ich nicht wirklich dorthin gehörte. Es wurde unmöglich und verletzend, ein Gespräch zu führen.«
Der Dykes March sammelte auch Spenden fürWithin Our Lifetime, eine antisemitische Gruppe, die seit dem 7. Oktober Pro-Hamas-Demonstrationen in New York organisiert, gegen eine Ausstellung protestierte, die dem Gedenken der Opfer des Massakers beim Nova-Musikfestival gewidmet war, mit dem Farbanschlag auf die Wohnung der jüdischen Direktorin des Brooklyn Museums, Anne Pasternak, in Verbindung gebracht wird und in der New Yorker U-Bahn verlangte, »Zionisten« müssten sich zu erkennen geben und sofort den Zug verlassen.
Shalom Dykes
Der offene Antisemitismus führte zur Idee der Shalom Dykes-Party. In einer Stellungnahme der Organisatorinnen heißt es, der Dyke March sei »auf der Grundlage der zentralen lesbischen Werte der radikalen Inklusivität, Selbstbestimmung und gemeinschaftlichen Sicherheit« gegründet worden. »Seit dreißig Jahren bietet der Marsch einen seltenen Tag des Trostes, an dem Lesben nicht um ihre Sichtbarkeit kämpfen müssen, sondern aufatmen, ihre Wut und Freude ausdrücken und so gefeiert werden können, wie sie sind. In den vergangenen Jahren, aber vor allem in diesem Jahr, hatten viele jüdische Lesben das Gefühl, nicht dazuzugehören, nicht willkommen und nicht sicher zu sein, wenn sie am NYC Dyke March teilnehmen.«
Darum würden nun »einige jüdische Lesben« nicht mehr daran teilnehmen. »Wir geben den Dyke March nicht auf, aber bis wir das Gefühl haben, dass unsere Sicherheit und Menschlichkeit – als Jüdinnen, als Israelis, als Lesben – respektiert werden, nehmen wir es auf uns, einen Raum zu schaffen, der auf diese Grundwerte der Inklusion hinarbeitet. Diese Veranstaltung ist jüdisch und lesbenzentriert und offen für alle, die einen Raum suchen, der einladend, reflektierend, stolz und gemeinschaftlich ist.«
Es sei eine Veranstaltung gewesen, schildert JTA-Reporterin Julia Gergely ihre Eindrücke, die sich »wie eine typische Pride-Weekend-Party« anfühlte, mit Musik und alkoholischen Getränken. Obwohl sie »als Reaktion auf den israelfeindlichen Aktivismus organisiert wurde«, seien auf dem Shalom Dykes keine israelischen Flaggen und Symbole zu sehen gewesen und man habe nicht das Gefühl gehabt, auf »einer Pro-Israel-Veranstaltung« zu sein. »Einige Partygäste sprachen über ihre Gefühle in Bezug auf Israel und ihre Enttäuschung darüber, dass sie nicht am Dyke March teilgenommen hatten, aber die meisten konzentrierten sich darauf, Spaß zu haben und neue Leute kennenzulernen. Eine 23-jährige Frau, die anonym bleiben möchte, sagte: ›Ich habe noch nie so viele jüdische Lesben an einem Ort gesehen.‹«
Maxine Wolfe, die den allerersten Dyke March 1993 mitorganisiert hatte, freut sich, »dass es diese Veranstaltung gibt. Ich bin traurig, dass es sie gibt. Ich bin traurig, dass nicht alle beim Dyke March zusammen sein können, so wie sie sind. Aber ich bin froh, dass die Menschen einen Weg gefunden haben, zusammen zu sein und zu feiern, wer sie in ihrer Gesamtheit sind.«
Dating-App: Keine Zionisten
Die Ausgrenzung, die lesbische jüdische Frauen im Zusammenhang mit dem New York Dykes Marcherfahren, spiegelt Erfahrungen, die Juden jeglicher sexueller Ausrichtung und Nationalität auch in anderen Bereichen machen, und zwar in Situationen, bei denen sie bislang dachten, dass sie gar nichts mit Politik und dem israelisch-arabischen Konflikt zu tun hätten – so etwa bei Dating-Apps.
Darüber, wie Juden sich dort ausgegrenzt fühlen, berichtete im Frühjahr ein Artikel im Londoner Jewish Chronicle, in dem der 59-jährige, geschiedene Stephen Pollard, Chefredakteur des Blattes, der Autorin Jane Prinsley von seinen Erfahrungen erzählte. Er installierte im vergangenen Jahr die Dating-App Hinge und war schnell ernüchtert: »Ich habe kein Problem mit der palästinensischen Flagge, die Leute können jede Flagge zeigen, die sie wollen. Aber jene, die ›keine Zionisten‹ posten, sagen im Grunde ›keine Juden‹. Diese Formulierung halten sie für eine akzeptable Art und Weise, es zu sagen. Es ist wie bei den früheren Schildern ›Keine Schwarzen. Keine Juden. Keine Hunde. Keine Iren‹.«
Laut Pollard gebe es auf Hinge nicht nur massenhaft palästinensische Flaggen, sondern auch Profile von Frauen mit Vermerken wie »Keine Terfs [transausschließende Radikalfeministin; Anm. Mena-Watch], keine Tories, freies Palästina«. Das habe ihn davon abgehalten, die App zu benutzen, sagt er.
Eine Frau, die mit Jane Prinsley sprach und anonym bleiben wollte, erklärte, sich mit gleichgesinnten, linksgerichteten Frauen treffen zu wollen. »Vor dem Krieg habe ich auf Hinge angegeben, dass ich links bin und mich für Politik interessiere, aber das habe ich jetzt abgestellt«, sagt sie. »Ich verstecke diese Seite von mir, weil alle anderen Mädchen dort, die sich für Politik interessieren, Juden zu hassen scheinen. Es ist frustrierend, denn ich möchte Leute treffen, mit denen ich über die Welt reden kann. Aber wenn sie sagen ›keine Zionisten‹, dann bleibt nicht viel Platz für mich.«