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Kritische Theoretiker, offene Briefe und Israelfeindschaft

Gaza-Protest-Camp: Antiisraelische Aktivisten versuchen sich in der Freien Universität Berlin zu verschanzen
Gaza-Protest-Camp: Antiisraelische Aktivisten versuchen sich in der Freien Universität Berlin zu verschanzen (© Imago Images / imagebroker)

Den vorerst letzten Akt der Offene-Briefe-Schreiberei bildet das Statement von Lehrenden an Berliner Universitäten, in dem eine generelle Straffreiheit für antiisraelische Demonstranten gefordert wird.

Thomas Land

Wie es um den internationalen Jetset der kritischen  Theorie bestellt ist, ist spätestens seit Judith Butlers Eingemeindung von Hamas und Hisbollah in die Reihen progressiver sozialer Bewegungen, Jodi Deans Eloge auf die Hamas oder Nancy Frasers Reaktion auf ihre Ausladung kein Geheimnis mehr. Aber wie sieht es eigentlich hierzulande mit denen aus, die sich erklärtermaßen in die Tradition Adornos und Horkheimers stellen?

Kryptische Ausführungen

Als öffentlichkeitswirksames Zentrum zeitgenössischer Theorieproduktion im Namen kritischer Theorie wäre zunächst das KTB (Kritische Theorie in Berlin) zu nennen, eine gemeinsame Plattform des unter der Leitung von Rahel Jaeggi und Robin Celikates stehenden Centre for Social Critique an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie der Lehrstühle für Sozialphilosophie an der Freien und der Humboldt-Universität. Das KTB erklärte in seinem Newsletter vom 8. November 2023, warum es sich zum Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober bislang noch nicht geäußert habe: »[N]icht nur, weil sich jedes richtige ›Dagegen‹ im selben Moment, in dem es ausgesprochen wird, in ein falsches ›Dafür‹ zu verwandeln droht. Sondern auch, weil diese unmittelbare Verwandlung zeigt, dass etwas fehlt: die Antwort auf die Frage, was ein richtiges ›Dafür‹ wäre.«

Diese kryptischen Ausführungen lassen freilich viel Spielraum für Interpretationen und laden geradezu zur Spekulation über die Motive des Schweigens ein. Konnte man sich womöglich deshalb nicht zu einem eindeutigen Statement gegen den Terror der Hamas durchringen, weil einem eine solche Positionierung als Fürsprache für die israelische Regierung oder als Einverständnis mit dem Vorgehen des israelischen Militärs ausgelegt werden könne? Und weshalb sollte die Unkenntnis des Richtigen eine Verurteilung des Falschen verunmöglichen? 

Doch noch bevor man sich einen Reim auf die rätselhaften Aussagen des KTB machen konnte, wurde der Newsletter am darauffolgenden Tag zurückgezogen: Der gestrige Newsletter sei in dieser Form nicht für die öffentliche Verbreitung vorgesehen gewesen und versehentlich verschickt worden. »Wir bitten für die Verwirrung um Entschuldigung«, so das KTB lapidar.

Im Gegensatz zum peinlichen Herumlavieren des KTB äußerten sich unter anderen Jürgen Habermas und Rainer Forst im Text Grundsätze der Solidarität des Forschungszentrums Normative Ordnungen der Goethe-Universität Frankfurt am Main ein paar Tage später zumindest eindeutig: Die Reaktionen des israelischen Militärs seien prinzipiell gerechtfertigt; genozidale Absichten Israels gegenüber den Palästinensern lägen nicht vor, schrieben sie am 13. November 2023. 

Wenige Tage darauf zeigten sich dann neben weiteren Robin Celikates, Daniel Loick, Eva von Redecker und Frieder Vogelmann in A Response to »Principles of Solidarity«. A Statement »tief beunruhigt« über die Frankfurter Stellungnahme, die ein beschränktes Solidaritätsverständnis der Autoren offenbare, weil sie sowohl Kritik am israelischen Gegenschlag und Solidarität mit den palästinensischen Zivilisten in Gaza vermissen lasse als auch deutschen Muslimen angesichts einer wachsenden Islamophobie aus dem universellen Konzept der Menschenwürde ausschließe. [1] Die Sorge um eine Zunahme von Islamophobie – und nicht etwa eines muslimischen Antisemitismus – trieb bereits die Unterzeichner des Briefs aus Berlin – kritische Wissenschaftler*innen an die deutsche Politik und Öffentlichkeit vom 28. Oktober 2023 um, der von Daniel Loick und Vanessa E. Thompson mitinitiiert und auch von Robin Celikates, Katharina Hoppe und Frieder Vogelmann unterzeichnet wurde.

Auffällig still blieb es hingegen am Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS). Lediglich ein Podcast der Reihe IfS-Aufzeichnungen vom 6. Dezember 2023 mit den Gästen Saba-Nur Cheema und Meron Mendel machte die Geschehnisse des 7. Oktobers und die Reaktionen darauf zum Thema. Während sich die stellvertretende Direktorin des Instituts, Sarah Speck, aufrichtig besorgt über die antisemitischen Äußerungen linker Aktivisten und Intellektueller zeigte, resignierte Direktor Stephan Lessenich angesichts der »Komplexität der politischen Situation« in Israel und Gaza, die nur »schwer, wenn überhaupt, zu durchdringen« sei.

Es kommt Bewegung in die Sache

Viel mehr war nicht zu vernehmen vom akademischen Establishment der hiesigen kritischen Theorie. [2] Dies änderte sich mit der Ausladung von Nancy Fraser, Professorin an der New School for Social Research, durch die Universität Köln wegen ihrer Unterschrift unter dem seit dem 1. November 2023 verbreiteten offenen Brief Philosophy for Palestine, in dem nicht nur die mittlerweile übliche Täter-Opfer-Umkehr erfolgte, sondern auch zum »akademischen und kulturellen Boykott israelischer Institutionen« aufgerufen wurde.

Nun muss sich zwar einerseits niemand, der so etwas unterschreibt, wundern, dass ihm oder ihr die Ehrung durch eine Gastprofessur an einer Universität versagt wird, die »intensive Beziehungen zu israelischen Partnerinstitutionen« pflegt, so die Leitung der Universität Köln in ihrer Rechtfertigung der Ausladung. Andererseits aber war die Ehre der Albertus-Magnus-Professur zuvor bereits Achille Mbembe, Judith Butler, Noam Chomsky oder Giorgio Agamben zuteilgeworden, die allesamt nicht gerade für ihre – vorsichtig ausgedrückt – israelsolidarische Position bekannt sind. 

Mittlerweile findet sich Frasers Unterschrift übrigens auch unter einem offenen Brief vom 7. April dieses Jahres, in dem »nordamerikanische Akademiker den Scholastizid in Gaza verurteilen« als auch unter einem offenen Brief vom 28. Februar, in dem der israelischen und amerikanischen Regierung vorgeworfen wird, die Vergewaltigung israelischer Zivilisten durch die Hamas als propagandistische Waffe einzusetzen, die mit rassistischen und kolonialistischen Stereotypen arbeite.

Nun wäre die Aufregung um Nancy Fraser nicht weiter von Bedeutung, ähnelt der Fall doch jenen von Masha Gessen, Judith Butler, Deborah Feldman oder Susan Neiman, die medienwirksam ihren vermeintlichen Ausschluss aus dem öffentlichen Diskurs monierten. Auch wurde Fraser keineswegs gecancelt, wie sie in ihren zahlreichen Interviews mit den großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen behauptete. Ihr wurde lediglich eine »besondere Auszeichnung der Universität« versagt, so der Rektor der Universität Köln. Wie zum Beweis, dass keine Einschränkung der Freiheit von Wissenschaft und Forschung vorliegt, hat die Uni Köln mittlerweile eine öffentliche Veranstaltung für Mai angekündigt, auf der Fraser »ihre Position darlegen und diskutieren lassen will«. [4]

Aufschlussreich ist der Fall Fraser vor allem deshalb, weil er die Vertreter der hiesigen kritischen Theorie ihrerseits dazu veranlasste, gleich zwei offene Briefe aufzusetzen bzw. zu unterschreiben, in denen von der Uni Köln die Rücknahme der Ausladung Frasers gefordert wird. Unter diesen Briefen finden sich dann auch die Namen all derer, die sich bislang mit öffentlichen Stellungnahmen zum Konflikt zwischen Israel und der Hamas zurückgehalten hatten, etwa Rahel Jaeggi, Axel Honneth, Christoph Menke, Stephan Lessenich, Hartmut Rosa oder Martin Saar. 

Zur Begründung berufen sich die Verfasser und Unterzeichner der Briefe ausgerechnet darauf, dass die Ausladung Frasers nicht mit dem Bekenntnis des Kölner Rektorats »zum hohen Gut der Wissenschaftsfreiheit sowie zum internationalen Austausch zu vereinbaren« sei. Den Selbstwiderspruch, dass sich die Verteidigung Frasers auf eben jene Werte beruft, die Fraser im Falle Israels mit ihrem Boykottaufruf selbst mit Füßen tritt, haben die besseren der vielen Kommentare im Anschluss an den »akademischen Skandal« zu Recht festgehalten. [5]

Nun geht es in den zuletzt genannten Aufrufen gegen eine vermeintliche Cancel Culture vordergründig um die Problematik politischer Zensur und nicht um den Nahost-Konflikt oder gar eine Bewertung von Frasers nur als »vermeintlich problematisch« bezeichneten Positionen: Man verurteile die Ausladung von Fraser ausdrücklich »unabhängig davon, wie die in dieser Stellungnahme vertretene Analyse der Lage in Palästina nach dem 7. Oktober und die vorgeschlagenen Maßnahmen gegen israelische Institutionen im Einzelnen zu bewerten sind«. 

Es geht den Verfassern und Unterzeichner also nicht darum, welchen Unsinn Fraser zur Situation in Israel von sich gibt, die sich übrigens – wie die zitierte Stellungnahme auch offen zugesteht – in ihrer eigenen Arbeit überhaupt nicht mit dem Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern befasst. 

Wichtiger als die inhaltliche Sachkenntnis ist den Briefeschreibern die Reputation des Forschungsstandorts Deutschland. Schließlich habe Fraser »hierzulande wie nur wenige andere zu einer Internationalisierung der philosophischen und sozialwissenschaftlichen Diskussion beigetragen. Solche Forschungszusammenhänge mit internationaler und öffentlicher Ausstrahlung geraten durch Maßnahmen wie die der Kölner Universität in Gefahr.« Noch würden die deutschen Universitäten zwar »als Orte des internationalen Austauschs und der ebenso international vernetzten wie öffentlich relevanten Forschung geschätzt«, die Ausladung Frasers würde »diesem Ansehen und damit auch dem akademischen Leben hierzulande weiteren schweren Schaden zufügen«.

Mit anderen Worten: Versage man Wissenschaftlern hierzulande die Anerkennung, die sie international finden, verliere Deutschland den wissenschaftlichen Anschluss. Es drohe die – auch im postkolonialen und erinnerungspolitischen Diskurs immer wieder angemahnte – »Provinzialisierung« der Debatte.

Solange es nur die »Richtigen« trifft

Dass den Kritischen Theoretikern die Wissenschaftsfreiheit egal ist, solange es »die Richtigen« trifft, bezeugt der bereits vor rund zweieinhalb Jahren erschienene Einspruch Wissenschaftsfreiheit, die wir meinen von Robin Celikates, Katharina Hoppe, Daniel Loick, Martin Nonhoff, Eva von Redecker und Frieder Vogelmann. In Die Zeit vom 18. November 2021 vertreten sie die zweifellos richtige Ansicht, die legitime Kritik an einer Ordensverleihung an Kathleen Stock dürfe nicht mit dem Canceln der britischen Philosophin gleichgesetzt werden – und damit das exakte Gegenteil dessen, was sie jüngst im Fall von Nancy Fraser behaupteten. 

Bei Stock lag die Sache für die Verfasser des Zeit-Artikels freilich anders, denn in ihrem Fall gelte der von ihnen selbst formulierte erkenntnistheoretische Grundsatz nicht: »Pluralere Perspektiven erzeugen eine robustere Objektivität.« Stock vertrete nämlich eine Definition von Geschlechtsidentität, »die einzig darauf zugeschnitten ist, die Existenz von Transpersonen anzugreifen«. Stocks Studenten werde auf dieser Grundlage »ihre Geschlechtsidentität abgesprochen und folglich verwehrt, sich überhaupt als sie selbst – geschweige denn gleichberechtigt – an der Seminardiskussion zu beteiligen.«

Stocks Definition sei daher keine diskutable Meinung, sondern eine Art performativer Sprechakt der Diskriminierung, mit dem noch vor jedem Austausch von Argumenten bestimmte Gruppen abgewertet und von der Diskussion ausgeschlossen würden – etwas, das Celikates, Loick, Redecker & Co. in Bezug auf jene jüdische Studenten, die sich nicht schon im Vorhinein lautstark von Israel distanzieren wollen, damit sie, ohne als »Zionisten« oder Schlimmeres beschimpft zu werden, an der von den Offene-Briefe-Schreibern so permanent eingeforderten Diskussion mit und über Fraser teilnehmen können, nur wenig Kopfzerbrechen zu verursachen scheint.

Im Sinne eines nicht nur formalen, sondern substanziellen oder »emanzipatorische[n] Verständnis[ses] von Wissenschaftsfreiheit«, wie es die Verfasser des Zeit-Artikels vertreten, müssten hingegen Stock und mit ihr die etablierten Wissenschaften und Wissenschaftler die »Probleme ihrer eigenen Praxis« erkennen, »um für besondere Positionen, überraschende Argumente und ungewöhnliche Erfahrungen offen sein zu können«. Nun wird sicherlich niemand, der ernst genommen werden möchte, etwas gegen die von den Autoren geforderte »Einbeziehung marginalisierter Positionen und den Abbau bestehender formeller und informeller Hierarchien« an Universitäten und anderen akademischen Einrichtungen haben. [6] Warum aber für (Gruppen-)Identitäten, die am Verfahren einer durch wissenschaftliche Methodik angeleiteten Wahrheitssuche teilnehmen wollen, andere als wissenschaftliche Standards gelten sollen, erklären die Autoren nicht.

Wenn »die wissenschaftlichen Standards einer unvoreingenommenen Erkenntnissuche […] zur Korrektur der in geschichtlichen Herrschaftsverhältnissen verfestigten Vorurteile« verpflichten, dann muss dies ebenso für alle – zum Beispiel identitätspolitischen – Vorurteile einer selbsterklärt progressiven Gegenkultur gelten. Sobald Aussagen als wissenschaftliche Beiträge geäußert werden, können sie sich, wie die Verfasser des Zeit-Artikels selbst schreiben, nicht auf eine Wissenschaftsfreiheit berufen, die »die eigenen Forschungsergebnisse als letzte Wahrheiten präsentieren zu dürfen [meint], ohne mit Kritik rechnen zu müssen«. Wissenschaftsfreiheit bedeutet nicht, wie es im Text ganz richtig heißt, »die Freiheit, unliebsame Positionen aus der Wissenschaft ausbürgern zu dürfen, um die eigene Deutungshoheit zu sichern«.

So ernst wie sie behaupten, nehmen es die Autoren mit der Wissenschaftsfreiheit, auf die sie sich berufen, aber dann doch nicht, wollen sie den vermeintlich oder tatsächlich Marginalisierten, die von den bis heute funktionierenden Ausschließungsmechanismen im akademischen Betrieb betroffen seien, dann doch die Ausnahme zugestehen, die sie Stock und anderen verwehren, nämlich zum Ausschluss unliebsamer Positionen aufzurufen, wie es eben Fraser tut, die zum Boykott israelischer Wissenschaftler aufruft. 

Gut gegen Böse

Die Apotheose des Underdogs zum per se progressiven politischen Akteur, dessen Aktivitäten schon allein deshalb zu begrüßen seien, weil er hierarchische Institutionen und deren eingespielten Routinen der Exklusion und Diskriminierung herausfordere, erfolgte zuletzt auch in Robin Celikates’ Beitrag Bitte keine Störung? Warum die repressiven Polizeieinsätze an US-Unis so gefährlich für die Demokratie sind auf Verfassungsblog.de vom 4. Mai 2024. Selbst »der imperfekte, disruptive und zuweilen in die falsche Richtung zielende Protest« erfülle schließlich eine demokratische Funktion, indem er Bewegung in eine soziale Ordnung bringt, die ansonsten zu erstarren droht, schreibt Celikates dort. [7]

Für ihn kämpfen an den US-Universitäten gegenwärtig die Kräfte der Reaktion wider die progressiven des Fortschritts, gegen die sich das Establishment nur noch durch blanke Repression zu helfen wisse: »Delegitimierung und Kriminalisierung von Protest, unverhältnismäßige Polizeigewalt, massenweise Verhaftungen von Studierenden auf dem Campus und das Anstacheln von Gegenprotesten durch rechte Scharfmacher.« Hinter dem »Einsatz schwer bewaffneter Polizei gegen Studierende im Namen von Ordnung und Sicherheit auf dem Campus« stehe letztlich, so ließen sich Celikates’ Ausführungen zusammenfassen, das Ancien Regime, das nicht davor zurückschrecke, für seinen Machterhalt auf die Schützenhilfe rechter politischer Gruppierungen und Argumente zurückzugreifen.

Allerdings waren die Proteste keineswegs so friedlich, pluralistisch und selbstreflexiv, wie sie Celikates darstellt. Sicherlich, so konzediert er zwar, habe es auch antisemitische Ausfälle gegeben: »So kam es im Zuge der Proteste fraglos auch zu einer ganzen Reihe inakzeptabler gewaltverherrlichender und antisemitischer Zwischenfälle, denen entschlossen entgegengetreten werden sollte.« Die überwiegende Mehrheit der propalästinensischen Proteste sei jedoch von »Palästina-Solidarität« geprägt, die nicht mit Antisemitismus gleichzusetzen sei. 

Wichtig sei daher die genaue Differenzierung zwischen zu ächtendem Antisemitismus, legitimen Antizionismus und der perfiden Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfs. »[I]m Interesse des Kampfs gegen Antisemitismus«, so Celikates im Anschluss an prominente jüdische Akademiker, müsse »klar unterschieden werden […] zwischen Antisemitismus und Kritik an Israels Vorgehen in Gaza, selbst wenn Letztere auf sehr weitgehende und polemische Weise formuliert wird.« Zu beobachten sei »eine besorgniserregende terminologische Ausweitung und politische Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfs mit dem Ziel, israelkritische und propalästinensische Stimmen auf dem Campus, die sich gegen die Politik der US-Regierung richten, zu marginalisieren und einzuschüchtern«.

Ja für Palästinenser, Nein für Juden

Wo genau die Grenze zwischen Judenhass, Israel- und Regierungskritik verläuft, sei, so Celikates weiter, umstritten. Auf die Perspektive der Betroffenen, die er, auf Grundlage der Standpunkttheorie etwa im Fall von wegen ihrer Geschlechtsidentität Diskriminierter, doch selbst für so zentral erklärt, könne man sich im Kampf gegen Antisemitismus jedenfalls nicht verlassen. 

Zwar sei es richtig, »die realen Ängste und die Verunsicherung von den Protesten skeptisch gegenüberstehenden jüdischen Studierenden ernst zu nehmen«. Allerdings dürfe man nicht so weit gehen und »das in bestimmten Kontexten nachvollziehbare Gefühl der Bedrohung angesichts einer Palästina-Flagge, der Kufiya [des Palästinensertuchs] oder israelkritischer Slogans kontextunabhängig mit einer tatsächlich vorliegenden antisemitischen Bedrohung gleichsetzen«. Schließlich sei es im Interesse rechter Akteure, »Ängste anzustacheln und auszuschlachten«, weshalb man von der subjektiv empfundenen Bedrohung nicht vorschnell auf eine objektive Gefahr schließen sollte.

Im Fall jüdischer Betroffener vertritt Celikates also eine Argumentation, die im Fall von Rassismus oder Sexismus von ihm selbst als anmaßende oder paternalistische Bevormundung kritisiert werden würde, da sie die Sichtweise der Betroffenen nicht ernst nehme. Im Falle von arabisch- oder palästinensisch stämmigen Studierenden meint er dann an anderer Stelle bezeichnender Weise auch wieder, aus der subjektiven Einschätzung einer Situation und der Gefühlslage der Betroffenen auf eine objektive Diskriminierungs- oder Bedrohungssituation schließen zu dürfen: »Schließlich gibt es auch viele arabisch oder palästinensisch stämmige Studierende und auch Lehrende, die sich sehr unsicher und allein fühlen auf dem Campus, die sich Verdächtigungen ausgesetzt sehen aufgrund ihrer oder der ihnen zugeschriebenen Identität oder ihres Nachnamens.«

Auch hierzulande, so Celikates in seinem Verfassungsblog-Text weiter, »häufen sich derweil die Anzeichen für eine Verschärfung repressiver Tendenzen, die den Raum für offene Diskurse und umstrittene Proteste weiter einschränken, ohne dass sie im Kampf gegen real existierenden Antisemitismus erkennbar weiterhelfen würden«.

Wie im Fall der USA setzt Celikates auf für Deutschland auf die Selbstregulierungs- und Korrekturkräfte der Bewegungen: »[D]ie in solidarisch organisierten sozialen Bewegungen selbst geleistete Aufklärung« sei »weitaus transformativer und effektiver als blanke Repression«. Jede »Delegitimierung und Kriminalisierung von Protest« führe, ebenso wie Polizeigewalt, nur zur Eskalation der Situation. Dass die Provokation von den gegen Israel Protestierenden ausging und die Aktivitäten der Polizei nur eine – für Celikates freilich stets brutale und überzogene – Reaktion darauf war, wird hierbei ausgeblendet – ganz ähnlich übrigens wie bei den Demonstranten der Palästina-Solidarität, die den Angriff der Hamas als Ursache der Reaktionen des israelischen Militärs vergessen zu haben scheinen.

Gute Studenten, böse Aktivisten?

Den vorerst letzten Akt der Offene-Briefe-Schreiberei bildet das Statement von Lehrenden an Berliner Universitäten, in dem sich mehr als 350 Lehrende der Berliner Hochschulen gegen die polizeiliche Räumung von Protestcamps und für eine Straffreiheit, ja, Generalamnestie der Studenten aussprechen. So verpflichten sich die Lehrenden dazu, ihre Studenten »in keinem Fall Polizeigewalt auszuliefern«. Die Berliner Universitätsleitungen werden dazu aufgefordert, »von Polizeieinsätzen gegen ihre eigenen Studierenden ebenso wie von weiterer strafrechtlicher Verfolgung abzusehen«. Unterschrieben wurde die Verlautbarung auch von Rahel Jaeggi und Robin Celikates, zu den weiteren Unterstützern zählen unter anderen die bereits genannten Daniel Loick, Eva von Redecker oder Frieder Vogelmann.

Wie bereits zuvor im Protestbrief gegen Frasers Ausladung durch die Kölner Universität stellt man dem Appell zur Rettung der vermeintlich bedrohten Versammlungsfreiheit die eigene Distanz gegenüber den Forderungen der Protestierenden voran: »Unabhängig davon, ob wir mit den konkreten Forderungen des Protestcamps einverstanden sind, stellen wir uns vor unsere Studierenden und verteidigen ihr Recht auf friedlichen Protest, das auch die Besetzung von Uni-Gelände einschließt.« 

Allerdings, so heißt es weiter, könne man durchaus ein gewisses Verständnis für die »Dringlichkeit des Anliegens der Protestierenden« aufbringen – auch und gerade, wenn man »nicht alle konkreten Forderungen teilen kann oder die gewählte Aktionsform für nicht geeignet hält«. Nicht nur gelte das »verfassungsmäßig geschützte Recht, sich friedlich zu versammeln, […] unabhängig von der geäußerten Meinung«, sondern angesichts der aktuellen Situation in Gaza sei es auch nachvollziehbar, dass sich der Unmut der Studenten in genau dieser nicht auf Dialog ausgerichteten Form entlud.

Nun hätte man gerne erfahren, welche »Forderungen« von den Protestierenden gestellt und welche »Aktionsformen« von ihnen dabei gewählt wurden, welche die Verfasser des Briefes zwar selbst nicht vertreten oder gutheißen wollten oder konnten, von denen sie aber glauben, sie anderen erlauben zu müssen. 

Sicherlich darf jeder seine Meinung äußern, solange nicht zum Beispiel zu Gewalt aufgerufen oder ein Persönlichkeitsrecht verletzt wird, wie Nils Jansen in seiner Erklärung schreibt, warum er den Aufruf unterzeichnet habe. Dennoch will man nach einer erfolgten Meinungsäußerung den Sprecher gegebenenfalls auf die Falschheit der getätigten Aussagen hinweisen dürfen. Die dafür notwendige Dialogbereitschaft ließen die Protestierenden jedoch vermissen. Sie dennoch in Schutz nehmen hieße, ihnen zu gestatten, weiterhin Positionen und Aussagen zu verbreiten, die man erklärtermaßen für falsch oder gefährlich hält.

Hinter solch einer Vorstellung verbirgt sich nicht nur ein naives Verständnis eines weltanschaulichen Pluralismus, der alle Positionen – und damit auch die eigene – für gleich gültig und damit gleichgültig erklärt. Der den Studierenden ausgestellte Freibrief zur öffentlichen Verbreitung von Falschaussagen, Aufrufen von Gewalt oder antisemitischer Hetze macht die Lehrenden darüber hinaus zu Mittätern, weil sie den Studenten Positionen erlaubt, mit denen man zwar selbst nicht in Verbindung gebracht werden möchte, die jene aber – stellvertretend – verbreiten können sollen. 

Auch die beschwichtigende Argumentation, »schwarze Schafe« unter den Demonstranten oder einzelne problematische Slogans oder Plakate müssten hingenommen werden, um den Protest als solchen nicht zu delegitimieren, verfängt nicht. Denn im Fall der Berliner Protestierenden wird es kaum gelingen, zwischen humanistisch gesinnten, friedlichen »universitätseigenen« Studenten einerseits und Terror verherrlichenden, gewaltbereiten »externen« Aktivisten andererseits zu unterscheiden, welche die Proteste unterwanderten und radikalisierten. 

Wer die Aktivitäten, insbesondere an der Freien Universität, in den vergangenen Wochen und Monaten verfolgt hat, weiß, dass dort eine Koalition aus studentischen und nichtstudentischen Gruppen wie »Klasse gegen Klasse«, »Palästina spricht« oder »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost« federführend war und ist. Sich – wie jüngst bei den Berliner Campusprotesten geschehen – von diesen Gruppierungen und Akteuren sowie ihrer offen antisemitischen Agenda nicht abzugrenzen, diskreditiert jeden studentischen Protest. Wer Antisemiten in seinen Reihen duldet oder sogar deckt, kann nicht länger als ahnungsloser Demonstrant betrachtet werden, »dem es angeblich nur um die zivilen Opfer in Gaza« geht. 

Fazit

In der Haltung der kritischen Theoretiker, wie sie in ihren Stellungnahmen, offenen Briefen und Unterschriften zum Ausdruck kommt, zeigt sich ein wiederkehrendes Muster: Einerseits beruft man sich auf einen – von allen Inhalten abstrahierenden – Formalismus (zum Beispiel der Meinungsfreiheit), solange darunter Positionen vertreten werden, die man teilt oder doch zumindest toleriert; oder sie, wie im Fall von Nancy Fraser, von Personen vertreten werden, die der eigenen Scientific Community nahestehen.

Andererseits könne das Gebot der Neutralität der Meinungs- oder Wissenschaftsfreiheit durchaus eingeschränkt werden, wenn – wie im Fall von Kathleen Stock – darunter Positionen formuliert werden, die nicht mit der eigenen politischen Agenda übereinstimmen. Zu Recht fragte die Jüdische Allgemeine daher, ob sich die kritisch dünkende Professorenschaft auch hinter die Studentenproteste gestellt hätte, »wenn es nicht linksextreme, sondern rechtsextreme Studierende wären, welche die Auslöschung Israels fordern und zu Gewalt gegen Juden aufrufen?«

Der von der Jüdischen Allgemeinen festgestellte »Kulturrabatt bei Judenhass« für das eigene sozialmoralische Milieu kommt auch dort zum Tragen, wo mit enormen hermeneutischen Aufwand offen antisemitische Slogans und Parolen (»From the river to the sea«, »There is only one solution, intifada revolution« ode »Yallah, yallah, Intifada«,) solange umgedeutet werden, bis sie keinen Aufruf zur Zerstörung des Judenstaats mehr beinhalten sollen. [8] Von studentischen Appellen an die Hamas, alle Geiseln freizulassen, die Waffen niederzulegen und bedingungslos zu kapitulieren – übrigens die einzige Maßnahme, die diesen Krieg sofort beenden würde –, drang bislang nichts an die Öffentlichkeit.

Anmerkungen:

[1] Insbesondere diese Stelle: »However, we are deeply troubled by the apparent limits of the solidarity expressed by the authors. The statement’s concern for human dignity is not adequately extended to Palestinian civilians in Gaza who are facing death and destruction. Nor is it applied or extended to Muslims in Germany experiencing rising Islamophobia. Solidarity means that the principle of human dignity must apply to all people. This requires us to recognize and address the suffering of all those affected by an armed conflict.«

[2] Lediglich Robin Celikates, Professor für Sozialphilosophie und Anthropologie an der FU Berlin, und Daniel Loick, Associate Professor für Politische Philosophie und Sozialphilosophie an der Universität Amsterdam, unterschreiben seit dem offenbar jede »israelkritische« Stellungnahme, die nicht bei drei auf dem Baum ist. Zuletzt etwa eine öffentliche Erklärung vom 26. März 2024 mit dem schönen Titel Deutschlands Reaktionen auf den Israel-GazaKrieg entsprechen nicht seinen eigenen Prinzipien.

[3] Die Vorwürfe, dass die Hamas am 7. Oktober 2023 Sexualverbrechen wie etwa Massenvergewaltigungen begangen hatte, wurden am 11. März. 2024 sogar von der UNO bestätigt.

[4] Ob mit den in der Ankündigung genannten »Positionen« die Ansichten Frasers zum Nahost-Konflikt oder aber die Thesen ihres ursprünglich geplanten Vortrags Die drei Gesichter von Arbeit im Kapitalismus gemeint sind, der nun an der Goethe Universität Frankfurt stattfinden wird, lässt sich der Ankündigung der Universität Köln bislang nicht entnehmen.

[5] Zum Beispiel: Stefan Laurin: Nancy Fraser, die Uni Köln, Claus Leggewie und Marie Ebner von Eschenbach, Jürgen Kaube: Die Phrase von der Ausgrenzung, Jonathan Guggenberger: Boykott mit Folgen oder Claus Leggewie: Wir sollten den Teufelskreis der Boykotte durchbrechen.

[6] Die Autoren argumentieren gegen ein formales Verständnis von Wissenschaftsfreiheit, wonach jede Position gehört werden müsse: »Dabei wird Wissenschaftsfreiheit so weit entleert, bis sie zur Verpflichtung verkommt, zu jeder Position müsse man auch die Gegenposition einladen, so verrückt sie auch sei – eine Strategie, die nicht nur immer problematischere Positionen hoffähig macht und als legitime wissenschaftliche Überzeugung erscheinen lässt, sondern auch den Geltungsanspruch wissenschaftlicher Forschung ad absurdum führt.«

[7] Der von Celikates und anderen aufgemachte Gegensatz zwischen der Dynamik vermeintlich progressiver (sozialer) Bewegungen und der »morschen« Statik der hegemonialen Ordnung des Bestehenden erinnert häufig an die Rhetorik der Jugendbewegung der 1920er und 1930er Jahre, wie sie in den 1970er und 1980er Jahren erneut aufgegriffen wurde. Siehe dazu einführend: Siegfried, Detlef/Templin, David (Hrsg.): Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980. Kontinuitäten und Brüche in Milieus der gesellschaftlichen Selbstreflexion im frühen und späten 20. Jahrhundert. Göttingen, 2019, und Harms, Antje: Von linksradikal bis deutschnational: Jugendbewegung zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik. Frankfurt, New York, 2021. Speziell zur Figur der Bewegung siehe: Lattke, Simon: »Vögeln statt Turnen«. Neue linke, linksalternative und subversive Bewegungskultur in der Bundesrepublik Deutschland 19681989. Essen, 2018.

[8] Jürgen Klaube analysiert diesen Taschenspielertrick in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung folgendermaßen: »Rufen die Demonstranten, ›From the river to the sea‹ solle ein palästinensischer Staat den israelischen ersetzen, findet man, das sei kein Antisemitismus und insofern nicht volksverhetzend. Von den Ansichten der Palästinenser in Gaza wird abgesehen. Wird behauptet, ›There is only one solution, intifada revolution‹, führt die advokatorische Tiefenhermeneutik dazu, den Begriff der ›Intifada‹ von den Terrortaten zu lösen, die in seinem Namen begangen worden sind. Es könne damit auch etwas anderes als Terror gemeint sein. […] Es heißt dann, solche Parolen seien ›nicht notwendig‹ mit der Zerstörung des Judenstaats verbunden. Dass sie empirisch auf das Ende Israels hinauslaufen und dieses Ende weltweit von den Antisemiten gewünscht ist, bleibt außer Betracht.«

Exemplarisch für solch »advokatorische Tiefenhermeneutik« zur Wegdefinierung antiisraelischer Vernichtungsfantasien sei der Aufsatz von Amos Goldberg und Alon Confino genannt: From the River to the Sea gibt’s viel Raum für Interpretationen.

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