Seit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober haben einige Haaretz-Journalisten erstaunliche Beobachtungen gemacht und Schlüsse gezogen. Die Frage ist: Warum erst jetzt?
Die Kolumnistin der israelischen Tageszeitung Haaretz Amira Hass hat sich im Gazastreifen umgehört und etwas herausgefunden, das man von Journalisten – egal aus welchem Land – selten hört: Die Hamas ist dort unbeliebt und wird von der Bevölkerung für die Verheerungen, die über Gaza gekommen sind, verantwortlich gemacht. Das ist erstaunlich, bedenkt man, dass Amira Hass eine der fanatischsten Israelhasserinnen ihrer Zeitung ist, auf Augenhöhe mit dem Journalisten und Mitglied des Herausgeberkreises von Haaretz, Gideon Levy. Erinnern wir uns kurz an einige Tiefpunkte ihrer Karriere:
Drei Tage nachdem ein dreijähriges israelisches Mädchen lebensgefährlich verletzt wurde, als das Auto, in dem es mit seiner Mutter saß, mit einem Lkw kollidierte, weil jemand Steine auf das Auto geworfen hatte, schrieb sie: »Steine zu werfen ist das Geburtsrecht und die Pflicht eines jeden, der fremder Herrschaft unterworfen ist.«
Das Mädchen, Adele Biton, lag nach der Attacke noch zwei Jahre im Koma, ehe es starb. Haaretz-Herausgeber Amos Schocken verteidigte Amira Hass’ Kommentar mit den Worten, die Mutter habe ihr Kind wissentlich in Gefahr gebracht, als sie in eine Siedlung gezogen sei. Und manchmal müsse man eben »Gewalt mit Gewalt bekämpfen«. Das war im Jahr 2013.
Im September 2014 rechtfertigte die Journalistin neuerlich Steinwürfe auf Autofahrer – wohl stillschweigend voraussetzend, dass diese aus der Perspektive des Steinwerfers »jüdisch« ausgesehen hätten. Denn Steine auf arabische Israelis oder Touristen zu werfen hätte ja selbst aus ihrer Sicht keinen Sinn. Woran man einen jüdischen Autofahrer erkennt, der dann gesteinigt werden darf, erklärte sie allerdings nicht. »Steinwürfe sind ebenso eine Aktion wie eine Metapher des Widerstands«, schrieb sie, nachdem bereits zahlreiche Menschen, darunter Kinder, durch diese »Metapher« getötet worden waren.
Fast zur selben Zeit bekam sie übrigens einen Tropfen ihrer eigenen Medizin zu schmecken: Bei einer Konferenz der deutschen Rosa-Luxemburg-Stiftung an der palästinensischen Universität Birzeit bei Ramallah wurde ihr als israelischer Jüdin der Zutritt verwehrt. Darüber schrieb Hass anschließend einen trotzigen Artikel, der mit den historischen Worten endete: »Ich habe andere Orte, um meine subversiven Energien zu investieren.« Ein Versprechen, das sie leider niemals einlöste; sie investierte ihre Ressentiments weiterhin fast ausschließlich gegen Israel.
Verfluchter Sinwar
Umso schwerer wiegt das, was Amira Hass in einer aktuellen Reportage berichtet. Ein Einwohner Gazas namens Basel vertraute ihr an, dass er sich weigere, »die Hamas von der Verantwortung für die Katastrophe« freizusprechen, die über die Menschen im Gazastreifen hereingebrochen ist: »Die Leute schimpfen ständig über Sinwar, aber das spiegelt sich nicht in den Berichten der Journalisten wider.«
Hass schreibt: »In einem Telefongespräch, das nicht unser erstes war, sagte er: ›Anfang dieser Woche verfluchte ein älterer Mann, der mitten auf dem Markt stand, Ahmed Jassin [einer der Hamas-Gründer; Anm. Mena-Watch] dafür, dass er uns die Hamas beschert hatte. Ich habe ihm für seinen Mut eine Kusshand zugeworfen. Ich bin nicht dafür, einen toten Mann zu verfluchen, aber ich liebe es, wenn Menschen rebellieren.‹«
Sie habe Basel nicht gekannt, bevor sie diese telefonische Konversation begonnen hätten, schreibt Hass. Er habe den Kontakt initiiert, um seine »Wut« über das auszudrücken, was er »die Übernahme unserer Erzählung durch die Hamas« nennt: »Er ist wütend darüber, dass die Palästinenser außerhalb des Gazastreifens und ihre Unterstützer von den Menschen im Gazastreifen erwarten, dass sie den Mund halten und die Hamas nicht kritisieren, weil diese Kritik angeblich dem Feind hilft. Er weist die Annahme zurück, dass das Bezweifeln der Entscheidungen und Handlungen dieser bewaffneten Gruppe – und zwar öffentlich – ein Akt des Verrats sei.«
Basel sagt: »Ich habe das Recht sie wissen zu lassen, was ich denke und fühle, auch wenn ich in der Minderheit bin, und ich weiß, dass ich nicht in der Minderheit bin. Und ich weiß, dass ich für viele Menschen spreche. Ich habe das Recht mich zu äußern, und sei es nur, weil ich zu den Millionen gehöre, deren Leben die Hamas für verrückte, realitätsferne Slogans aufs Spiel setzt, welche die palästinensische Sache klein erscheinen lassen und den Kampf für hohe und existenzielle Ziele in einen Kampf um ein Stück Brot und Konservendosen verwandeln.«
Die Hamas-Fans von B’Tselem
Haaretz ist noch für eine weitere Überraschung gut. Amira Hass’ Kollegin Anat Kamm geht mit der vermeintlichen Menschenrechtsorganisation B’tselem ins Gericht. Sie beginnt ihre Argumentation zwar mit einem Sich-dumm-stellen: Jahrelang seien »Menschenrechte« und »das palästinensische Streben nach Unabhängigkeit« sich »überschneidende Ziele« gewesen, behauptet sie – als hätte es die Massaker an jüdischen Zivilisten der letzten hundert Jahre nie gegeben. Anschließend aber hat sie einen lichten Moment, wenn sie schreibt: »Dann kam der 7. Oktober, dabei kam heraus, dass diese beiden ›sich überschneidenden‹ Ziele sich überhaupt nicht überschneiden.«
Das haben sie nie. Aber immerhin: Eine späte Erkenntnis, von der man sich nur fragt, warum sie nicht schon früher gereift ist, etwa im Jahr 2002 bei dem Anschlag auf das Parkhotel in Netanya, 2001 bei den Massakern in der Pizzeria Sbarro und der Diskothek Delfinarium in Tel Aviv oder 1972 beim Olympiamassaker von München.
Davon, dass der »Streben nach Unabhängigkeit« genannte palästinensische Terrorismus nie etwas anderes war als ein nie endendes Pogrom, will die Autorin nichts wissen; sie tut so, als sei dieser Umstand erst vor sechs Monaten klar geworden. Nun weiß sie, »dass das palästinensische nationalistische Streben, das eines der Motive für ein unglaublich grausames Massaker war«, nicht mit »Menschenrechten« gleichzusetzen sei: »Zu diesem Zeitpunkt musste sich jeder, der sich für einen Linken hielt, entscheiden: entweder Menschenrechte oder palästinensischer Nationalismus.«
B’Tselem habe »bei dieser Wahl versagt, und zwar unter der Führung seiner beiden Leiterinnen, der Exekutivdirektorin Yuli Novak und der Vorsitzenden Orly Noy.« Beide seien »altgediente linke Aktivistinnen, die sich, wie die gesamte Organisation, große Verdienste erworben haben, und beide haben es versäumt, das Massaker richtig einzuordnen.« Ob da nicht vielleicht die »großen Verdienste« ebenfalls auf den Prüfstand müssten?
Yuli Novak habe das Massaker als »einen Akt des Widerstands oder der Rebellion gegen das israelische Apartheidregime« bezeichnet und es damit »faktisch legitimiert«. Darin unterscheide sie sich »nicht von all jenen, welche die Bilder der Kindergeiseln abgerissen haben«. Wahre Wort. Weiter schreibt die Haaretz-Autorin: »Wenn B’Tselem vergessen hat, dass es sich um eine Menschenrechtsorganisation und nicht um eine Bewegung für die Befreiung des Gazastreifens handelt, muss sie daran erinnert werden.«
Dass die Organisation »Rechtfertigung … für Hamas-Terroristen« betrieben habe, habe »wahrscheinlich einen langfristigen Schaden verursacht, der nicht wiedergutzumachen sein wird«, so die Journalistin Anat Kamm. Wenn B’Tselem nun endgültig diskreditiert sein sollte – auch in den Augen von Haaretz –, dann wäre das allerdings etwas Gutes.
Was Haaretz betrifft, sollte man keine große Hoffnung auf Läuterung hegen. Gideon Levy zumindest ändert sich nie: »Schüttelt den Schock vom 7. Oktober ab und öffnet eure Augen für Gaza«, schrieb er im März. Es sei Zeit, so Levy weiter, »vom Ausnüchtern auszunüchtern«. Na, dann Prost! Das nennt man wohl »Rückkehr zur Normalität«.