Kommt noch Bewegung in Israels politische Sackgasse?

Die arabsichen Wähler in Israel könnten das Zünglein an der Waage sein
Die arabsichen Wähler in Israel könnten das Zünglein an der Waage sein (© Imago Images / APAimages)

Die Wahlprognosen verkündeten nichts Neues, kein Block wird eine regierungsfähige Mehrheit erringen. Aber schon geringfügige Wählerbewegungen könnten die statische Situation verändern.

Vier Tage vor der heutigen Wahl wurden die letzten Wahlprognosen veröffentlicht. Die Parteien konnten weiter die statistischen Entwicklungen verfolgen, die Wähler aber wurden nicht mehr informiert. Während des heutigen Tags der Wahl zur 25. Knesset erfahren sie lediglich den Stand der Wahlbeteiligung, bis ab zweiundzwanzig Uhr die ersten Hochrechnungen folgen.

Vermeintlich ruhige Tage

Für Israel brachten die letzten Tage zumindest in wahlpolitischer Hinsicht ruhige Stunden. Auch die Tage vor dem 22. Januar 2013, dem Tag der Wahl zur 19. Knesset, waren ruhig, was die Prognosen anging, die damals den rechtskonservativen Parteien einen Vorteil vorhersagten. Letztlich aber erwiesen sich diese bloß vermeintlich ruhigen Tage als eine Phase, in der sich innerhalb kürzester Zeit eine massive Wählerbewegung vollzog.

Yair Lapid trat damals mit seiner im April 2012 gegründeten Partei Yesh Atid erstmals zur Wahl an. Im November und Dezember 2012 fuhr seine Zukunftspartei in den Prognosen gewissermaßen Achterbahn: Mal wurden ihr fünf oder sechs Sitze vorhergesagt, dann kletterte sie auf zehn Mandate, und selten standen auch dreizehn Sitze in Aussicht.

Still und heimlich vollzogen sich aber in den erwähnten wenigen Tagen zwischen den letzten Wahlprognosen und dem Wahlgang massive Veränderungen, sodass Lapids Zukunftspartei überraschenderweise mit neunzehn Sitzen zweitstärkste Partei der Knesset wurde.

Damals ging Lapid ein Koalitionsabkommen mit dem Likud ein; ein heute schier undenkbares Szenario. Ebenso unwahrscheinlich scheint, dass sich die Pattsituation ändern wird, schließlich manifestierte sie sich durch jede der seit 2019 schnell hintereinander folgenden Wahlen nur immer weiter.

Schon seit Beginn dieses Wahlkampfes bestätigen die Prognosen genau diesen Trend. Niemand hält es für möglich, dass eine Partei, egal welche, wie 2013 im Stil von Lapids Zukunftspartei tatsächlich auf einmal mehr Mandate als prognostiziert erhält, womit die Pattsituation der beiden gegeneinander antretenden Blöcke aus der Welt geschaffen wäre. Bislang haben sich Israels Wähler dafür als viel zu blockgetreu gezeigt, sodass das Potenzial für eventuelle Bewegung aus anderen Richtungen kommt.

Viel Luft nach oben

Eine der letzten Wahlprognosen, die Channel 13 News durchführen ließ, ergab, dass nicht weniger als dreißig Prozent der jüdischen Wähler und neunzehn Prozent der arabischen Wähler noch unentschieden waren.

Angesichts des Kopf-an-Kopf-Rennens wird um jede einzelne Stimme gerungen, was in diesen Tagen bedeutet: Gefühlt nahezu jedes Smartphone des Landes klingelt, piepst oder vibriert andauernd, weil Parteien bis auf den letzten Drücker Stimmenfang betreiben und im Minutentakt von diversen Nummern aus potenzielle Wähler anrufen. Fraglich ist jedoch, ob das, angesichts der Belästigung, als die es über weite Strecken empfunden wird, zum gewünschten Effekt führt. Wahlstatistiker berücksichtigen die bis zum letzten Moment Unentschiedenen ebenso, wie sie das sogenannte strategische Wahlverhalten einkalkulieren: Wähler, die angaben, für kleinere Parteien zu stimmen, obwohl sie wissen, dass diese an der Sperrklausel scheitern dürften, ändern spätestens in der Wahlkabine doch noch ihre Meinung.

In Israel kommt diesem strategischen Wahlverhalten angesichts der enormen Zahl von vierzig zur Wahl antretenden Parteien ein durchaus großer Einfluss auf das Endergebnis zu. Dieser Einfluss nimmt noch weiter zu, weil etliche Parteien, deren Chancen auf einen Einzug in die Knesset schlecht stehen, trotzdem im Rennen bleiben und dafür sorgen, dass gegenwärtig mindestens sechs Prozent aller Wählerstimmen bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt werden könnten.

Diese sechs Prozent sind eine durchaus kritische Masse, vor allem, weil sie mehrheitlich auf das Konto der arabischen Partei Balad geht, die ihren rund um die Sperrklausel herumdümpelnden Ex-Partnern Hadash-Ta’al nötige Stimmen wegzunehmen droht. Aber auch Ayelet Shaked, die im rechtsnationalen Spektrum fischt und ebenfalls nicht über die Sperrklausel kommen dürfte, trägt zu dieser Situation bei und könnte dort der einen oder anderen Partei schaden. Auch wenn Parteien wie Balad oder Shakeds Zionistischer Geist nicht in die Knesset einziehen, werden sie und ihre Wähler also ein Wörtchen bei der Entscheidung zwischen dem Bibi-Ja- und dem Bibi-Nein-Block mitreden.

Im Israel dieser Tage steht völlig außer Frage: Schon geringfügigste Wählerbewegungen können ausreichen, um einen großen Unterschied zu erwirken. Das lässt Israel mit großer Spannung vor allem zu jenem Wahlparameter blicken, der das größte Potenzial hat, Bewegung in den Gleichstand zu bringen: die Wahlbeteiligung.

Oy-Gevalt-Kampagnen

Mehrmals in den vergangenen Jahren wurde während der Wahlkämpfe der jiddische Ausdruck »Oy Gevalt« mit Benjamin Netanjahu in Verbindung gebracht. Seit 2019 beschwor er hilfeflehend praktisch jede mögliche Macht, um sein politisches Überleben zu sichern. Inzwischen sind es vorwiegend der arabischen Gesellschaft Israels entspringende NGOs, die vor Wochen mit vereinten Kräften eine Oy-Gevalt-Kampagne einleiteten und in den letzten Tagen besonders viele Aktivisten aussandten.

An dem Gemeinschaftsprojekt sind Organisationen beteiligt, die im Negev, in Galiläa und in der Triangle-Regione wirken, einem Landstrich zwischen Um al-Fahem in Norden und Kfar Qasim im Landeszentrum, also Regionen mit einer hohe Konzentration arabischer Bürger. Zu den namhafteren NGOs gehören The Arab Center for Alternative Planning, die Aliyal Jugendbewegung und das Standing Together Movement, in dem sich arabische und jüdische Israelis für eine Shared Society einsetzen.

Sie und weitere Partner sprechen mit Unterstützung namhafter Influencer über die sozialen Medien arabische Wähler an. Doch die Aktivisten putzen auch Türklinken, um mit möglichst vielen arabischen Wählerhaushalten zu reden. Viel Aufmerksamkeit widmen sie der jungen Generation und der weiblichen Wählerschaft.

Natürlich wurde ihnen bereits vorgeworfen, sich auf unlautere Weise in die Wahl einzumischen, doch sie bestehen darauf, keine parteipolitische Seite zu vertreten oder zu propagieren, sondern den Angehörigen ihrer Minderheit zu vermitteln, wie wichtig es ist, sich durch die Abgabe eines Stimmzettels in die Demokratie einzubringen. Die Aktivisten haben viel Überzeugungsarbeit zu leisten, um die Angehörigen ihrer Minderheit zum Wahlgang zu motivieren, da im arabischen Sektor nach wie vor die Ansicht weit verbreitet ist, man habe ohnehin keinen Einfluss auf die israelische Politik.

Und ihre Überzeugungsarbeit ringt mit weiteren Hürden. Wenngleich viele arabische Wähler realisieren, dass sie in Anbetracht der Pattsituation durch eine höhere Wahlbeteiligung sogar übergebührlich viel Einfluss nehmen könnten, sind dennoch 51,5 Prozent fest davon überzeugt, dass das Wahlergebnis »nicht exakt das Wahlverhalten der Öffentlichkeit reflektiert«. Es bedarf wohl Engelszungen, um sie von demokratischen Standards zu überzeugen.

Das Spiel ist offen

Noch vor einigen Wochen ging man in Israel davon aus, dass die arabische Wahlbeteiligung einen Allzeitnegativrekord aufstellen und unter vierzig Prozent fallen wird. Inzwischen sprechen Optimisten der erwähnten Kampagne von einer möglichen fünfundfünfzigprozentigen arabischen Wahlbeteiligung, während die Umfrageinstitute am Vorwahlabend zu einer Einschätzung von 46 bis 48 Prozent tendierten. Klar ist, dass eine arabische Wahlbeteiligung von fünfzig Prozent und mehr die Chancen von Netanjahu schmälern würde, eine regierungsfähige Koalition zusammenzustellen.

Eine steigende arabische Wahlbeteiligung könnte aber auch bedeuten: Je mehr Araber wählen gehen, desto mehr schlummernde Wähler des Bibi-Blocks könnte das mobilisieren. Ganz Israel wird nicht nur die arabische, sondern auch die allgemeine Wahlbeteiligung im Auge behalten und sollte niemals folgende Dynamik unterschätzen: Auf den Likud entfällt der höchste Anteil arabischer Wählerstimmen, die an »zionistische Parteien« gehen.

Und da es gerade diese Wählerschaft ist, die, sobald es um die Frage geht, unter welcher der letzten Regierungen es ihnen wirtschaftlich am besten ging, ausgerechnet für den Likud eine Lanze bricht, ist keineswegs klar, dass arabische Wählerstimmen den Ausschlag nur in eine Richtung geben könnten.

Selbst wenn heute Abend der Gleichstand wider alle Erwartungen aus der Welt geschaffen würde, ist nichts, aber auch gar nichts in trockenen Tüchern. Dass Israels Koalitionsverhandlungen durch die Bank für Überraschungen gut sind, ist bestens bekannt und dürfte aus der letzten Runde besonders drastisch im Erinnerung geblieben sein.

Kurz gesagt: Es ist spannend. Und spannend wird es auch bleiben. Um die Pattsituation mit der heutigen Wahl aus der Welt zu schaffen, brächte es einen wahrhaften Erdrutsch. Daran glaubt so gut wie keiner, ebenso wie man die von einer anderen Lösung der Pattsituation Überzeugten geradezu mit der Lupe suchen muss, die etwa von einem Modell Große Koalition reden. Und trotz allem bleibt die Hoffnung, dass Israels Bürger nicht im Mai 2023 schon wieder zu einem Knesset-Wahlgang aufgerufen sein werden.

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