Häuser, Bushaltestellen und Geschäfte in dieser inzwischen weitgehend leblosen Stadt zeugen von den Raketen- und Drohnenangriffen, die seit fast zehn Monaten unablässig auf sie niedergehen.
Etgar Lefkovits
Die Straßen von Kirjat Schmona sind menschenleer, die Einkaufszentren, Geschäfte und Betriebe längst geschlossen und die Spuren des Kriegs allgegenwärtig. Selbst für Israels nördlichste Grenzstadt, die durch palästinensische Terroranschläge Bekanntheit erlangte und schon in den vergangenen Jahrzehnten die Hauptlast der Raketenangriffe durch die libanesische Hisbollah zu tragen hatte, stellen die mittlerweile fast zehn Monate seit dem Ausbruch des Kriegs nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober eine Anomalie dar.
»Ich habe im vergangenen halben Jahrhundert alle Kriege hier miterlebt, aber so etwas haben wir noch nie gesehen«, so der 54-jährige Polizist Nahum Cohen, der nun zu den binnenvertriebenen Israelis gehört. »Noch nie waren wir für so lange Zeit von unserem Zuhause getrennt.«
Am 8. Oktober 2023 und damit nur einen Tag nach dem Hamas-Überfall auf Israel begann die libanesische Terrorgruppe Hisbollah, Raketen und später auch Drohnen auf den Norden Israels abzufeuern, was die Regierung im November dazu veranlasste, die Evakuierung von Zehntausenden Bürgern aus Städten und Dörfern in diesem Gebiet anzuordnen.
Mehr als neun Monate und siebentausend Geschosse später ist das Gebiet immer noch unbewohnbar und die Landschaft durch Waldbrände zerstört, während sich die meisten Einwohner mehr schlecht als recht in Hotelzimmern und anderen Unterkünften einquartiert haben und Sicherheitskräfte die Stadt in ihrer Abwesenheit bewachen.
»Dass eine Polizeistation in einer Stadt unter Beschuss genommen wird, passiert schon selten genug, dass dies aber geschieht, wenn fast alle Einwohner weg sind, geschieht praktisch zu allerersten Mal überhaupt«, erklärt der Polizeichef von Kirjat Schmona, Arik Berkovitch, gegenüber dem Jewish News Syndicate am vergangenen Mittwoch. »Nichts bereitet einen auf so etwas vor.«
Im direkten Blickfeld der Hisbollah
Die an den Hängen des Hula-Tals unterhalb der libanesischen Berge gelegene 25.000-Einwohner-Stadt, die wegen des Todes von acht Juden, darunter der berühmte zionistische Aktivist Joseph Trumpeldor, in der Schlacht von Tel Hai in Galiläa im Jahr 1920, als »Stadt der Acht« bekannt ist, liegt in direkter Sichtweite der Hisbollah, die unmittelbar über ihr thront, sodass die rund dreitausend, meist älteren oder gebrechlichen Einwohner, die geblieben oder hierher zurückgezogen sind, keine Zeit haben, Deckung zu suchen, wenn Raketen auf die schwer getroffene Stadt abgefeuert werden.
»In den meisten Fällen erfährt man von einem bevorstehenden Angriff durch zwei oder drei Explosionen, im besten Fall hört man die Sirenen und den Knall gleichzeitig«, weiß Loae Fares, der als Leiter der israelischen Polizeieinsätze in der Stadt fungiert. Er selbst lebt in einem drusischen Grenzdorf im nahe gelegenen Horfesh, das einstimmig beschloss, trotz der Sicherheitsbedrohungen nicht evakuiert zu werden. »Es ist wirklich traurig, jeden Tag zur Arbeit zu kommen und kaum einen Menschen draußen zu sehen«, erzählte er. »Nachdem ich von Haus zu Haus gelaufen bin, um die Menschen vor den Raketen zu retten, gehe ich als Zivilist nach Hause und muss meine sechsjährige Tochter in den Arm nehmen, die vom Klang der Sirenen in Angst und Schrecken versetzt wird.«
Jederzeit Einschlag möglich
Die Straßen der Grenzstadt sind gesäumt von den Schäden, die durch die Hunderten Geschosse, die seit Oktober niedergingen, verursacht wurden. Die Krater auf der Hauptstraße, dem Herzl Boulevard, werden zügig repariert, um Polizei- und Rettungsdiensten ungehindert die Fahrt zu ermöglichen, aber die Schäden sind überall zu sehen. Demolierte Häuser, Bushaltestellen und Geschäfte zeugen von den anhaltenden Angriffen. Laut dem Polizeichef sind sowohl die Qualität als auch die Quantität der Raketen, Flugkörper und Drohnen beispiellon: »So etwas haben wir noch nie gesehen.«
Die Raketen unterschiedlicher Typen und Größen tragen nach Angaben eines Bombenentschärfungsexperten der Stadtpolizei bis zu hundertfünfzig Kilo Sprengstoff. »Alle rufen ständig an, um nach ihren Häusern zu fragen«, berichtete der israelische Polizeibeamte Shlomi Ben-Hemo, der auch nach älteren und gebrechlichen Menschen sieht, die in ihren Häusern eingeschlossen sind.
Eine unheimliche Stille durchdringt die heiße und trockene Nachmittagsluft. Selbst die sonst allgegenwärtigen streunenden Stadtkatzen sind nirgendwo zu sehen. Ein oder zwei Autos fahren vorbei, darunter eines mit Lebensmittelspenden für die hier Gebliebenen, während mit dem anderen die chassidische Chabad-Lubawitsch-Bewegung eisgekühlte Energydrinks und Messias-Aufkleber an die Soldaten und Polizisten verteilt, die in der prallen Nachmittagssonne Dienst tun.
»Wir hätten uns nie vorstellen können, dass es so weit kommen würde«, erzählt Ben-Hemo, der schon sein ganzes Leben hier lebt, während er Anrufe von seiner Familie entgegennimmt, die evakuiert wurde und sich nach seiner Sicherheit erkundigt.
Nachdem zahlreiche Raketen, die Anfang letzter Woche auf die Stadt abgefeuert wurden, erfolgreich abgefangen werden konnten, wurde die Bedrohungsstufe am Mittwoch auf die mittlere Stufe zwei (von drei) gesetzt, da man befürchtete, die Rede Benjamin Netanjahus vor dem US-Kongress am Nachmittag könnte als Zeitpunkt für einen neuen Angriff genutzt werden.
Letztlich verlief der Abend friedlich, aber die Sicherheitsbehörden blieben in Alarmbereitschaft für einen Angriff, der »jeden Moment« erfolgen kann; insbesondere nach einem erfolgreichen israelischen Schlag gegen Hisbollah-Kommandeure im Libanon, wenn die Terrorgruppe routinemäßig mit einem größeren als dem üblichen Raketensperrfeuer auf Nordisrael antwortet.
Der israelische Polizeibeamte zeigt auf ein Wohnhaus, das kürzlich Ziel eines Volltreffers war. Vier Kinder befanden sich noch in dem veralteten Schutzraum, die Hände auf dem Kopf und zitternd auf dem Boden sitzend. »Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich nur daran denke«, zeigte sich Ben-Hemo noch immer erschüttert.
Ein anderes Haus in der Straße wurde innerhalb einer Woche zweimal getroffen; ein Wohnhaus und ein Militärstützpunkt am Rande der Stadt – in Sichtweite einer Stadt an der libanesischen Grenze – wurden ebenfalls durch Raketenbeschuss in Mitleidenschaft gezogen.
Anders als im Süden Israels, der in diesem Jahr zu einem Epizentrum des Kriegstourismus für Menschen geworden ist, welche die Schauplätze der Terroranschläge vom 7. Oktober besuchen, ist die Situation an der Nordgrenze Israels völlig anders. »Wer hier nichts zu tun hat, sollte nicht hier sein«, sagt Ben-Hemo.
Und die Wunden sind nicht nur physischer Natur: Der Polizist erzählt, seine fünfzehnjährige Tochter habe zu viel Angst, um jemals wieder nach Hause zu kommen, selbst wenn der Krieg zu Ende ist, während seine Frau befürchtet, dass die Situation ohne eine Militäroperation gegen die Hisbollah an der Grenze auf lange Sicht nicht wieder friedlich sein wird.
»Wir haben das in unserer Kindheit erlebt«, sagt der 47-jährige Yaniv Azulay, der zurückgeblieben ist, um in einem städtischen Schuppen gegenüber dem Ort des tödlichen Raketenangriffs zu arbeiten, während er die verschiedenen Kriege und Militäroperationen der vergangenen Jahrzehnte aufzählt. »Was soll ich Ihnen sagen? Es sind schwierige Tage. Wir beten.«
Selbst die Erinnerungen an vergangene Kriege, darunter der einmonatige zweite Libanonkrieg im Jahr 2006, als die Bewohner ihre Häuser ebenfalls evakuieren mussten, oder jene an ein berüchtigtes Massaker in der Stadt vor genau einem halben Jahrhundert, bei dem palästinensische Terroristen aus dem Libanon achtzehn Bewohner, darunter acht Kinder, töteten, sind im Vergleich zu dem derzeit längsten Krieg Israels seit dem Unabhängigkeitskrieg von 1948 entweder verblasst oder verklungen.
»Mein Traum und der aller Polizeibeamten ist es, dass die Kinder wieder in die Stadt zurückkehren, wenn sich die Lage normalisiert hat«, hofft der Einsatzleiter der Polizei der Stadt. »Wir wissen nicht, wie lange es dauern wird, aber bis dahin werden wir hier sein.«
Der Text erschien auf Englisch zuerst beim Jewish News Syndicate. (Übersetzung von Alexander Gruber.)