Mangelnde Religionsfreiheit für jüdische Gemeinden in der Türkei

Israels Präsident Herzog spricht vor der jüdischen Gemeinde in Istanbul
Israels Präsident Herzog spricht vor der jüdischen Gemeinde in Istanbul (© Imago Images / Xinhua)

Nicht-muslimische Bürger der Türkei, darunter auch Mitglieder der jüdischen Gemeinde, leiden unter institutionellen Verletzungen ihrer Religions- und Glaubensfreiheit, so ein aktueller Bericht.

Uzay Bulut

Der umfassende Bericht mit dem Titel »An Appeal to Move Forward From Aspirations to Actions: Monitoring Report on the Right to Freedom of Religion or Belief in Turkey«, der von der Initiative für Glaubensfreiheit des norwegischen Helsinki-Komitees veröffentlicht wurde, stellt fest, dass die jüdische Gemeinschaft und die sie vertretenden Institutionen in der Türkei mit systematischen Problemen konfrontiert sind wie z. B. dem Fehlen einer Rechtspersönlichkeit, dem Mangel an öffentlichen Mitteln für ihre religiösen Dienste, der Einmischung der Regierung in ihr Recht, religiöse Amtsträger zu ernennen und, neben anderen Missständen, der Weigerung der Regierung, ihr beschlagnahmtes Eigentum zurückzugeben.

In dem Bericht wird erläutert, dass eines der Hauptprobleme der nicht-muslimischen Gemeinschaften und ihrer repräsentativen Einrichtungen wie Patriarchate oder Oberrabbinate darin besteht, dass sie keine Rechtspersönlichkeit oder den Status einer juristischen Person haben. Daher haben diese religiösen Einrichtungen keinen Zugang zum Gerichtssystem, können keine Bankkonten eröffnen, kein Eigentum erwerben, keine Verträge abschließen, sie können keine eigenen religiösen Amtsträger offiziell in Dienst stellen und deshalb nicht sozial absichern; und sie haben keine Möglichkeit, Aktivitäten oder Investitionen in Bezug auf ihr gemeinsames Leben und ihre Zukunft zu koordinieren, da sie keine repräsentativen Institutionen oder obersten Gremien mit Rechtsstatus bilden können.

Weiter heißt es:

»Einzelpersonen, die religiösen oder weltanschaulichen Gruppen angehören, organisieren sich als Vereinigungen oder gründen Stiftungen mit religiöser Zielsetzung, die jedoch ebenfalls Beschränkungen unterworfen sind. Die Vereinigungsfähigkeit der nicht-muslimischen Gemeinschaftsstiftungen wird weiterhin durch erhebliche Beschränkungen behindert.

Seit 2013 werden die Vorstandswahlen der Stiftungen behindert. Infolgedessen ist die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaftsstiftungen und der begünstigten Gemeinschaften weiterhin gelähmt und schwach. Diese Gemeinschaftsstiftungen verwalten und finanzieren nicht-muslimisches Gemeinschaftseigentum wie Kirchen- und Synagogengebäude, Schulen, Krankenhäuser und andere karitative Einrichtungen. Sie stellen eine Lebensader für diese Gemeinschaften dar.«

Die Regierung mischt sich in erheblichem Maße in die internen Angelegenheiten der jüdischen, armenischen und griechisch-orthodoxen Gemeinden ein, »was die Organisation, die Ernennung religiöser Führer und die Verwendung ihrer Titel betrifft«. In der Türkei unterliegen die nicht-muslimischen Gemeinschaften »weiterhin unterschiedlichen Gesetzen und Praktiken in Bezug auf die Ernennung religiöser Amtsträger oder geistlicher Führer«.

Unterdessen schaffen die obligatorischen Kurse für religiöse Kultur und Ethik (RCE) Probleme und Druck für jüdische und andere nicht-muslimische Kinder auf vielen Ebenen. Eine davon ist, dass die Regierung die Religionen der Bürger in Bevölkerungsregistern oder Personalausweisen festhält:

»Die mit einem Chip ausgestatteten nationalen Personalausweise enthalten ein Feld für die Religionszugehörigkeit. Die Menschen können in diesem Feld ihre Religion oder Weltanschauung ›entsprechend ihrer Präferenz‹ eintragen oder es leer lassen. … Informationen über den Glauben von Personen gelten als qualifizierte personenbezogene Daten (sensibel) und müssen daher gemäß dem Gesetz zum Schutz personenbezogener Daten geschützt werden. Nur befugte Beamte dürfen diese Informationen einsehen.«

Letztlich besteht jedoch die Gefahr einer Diskriminierung aufgrund der Religion oder der Weltanschauung, wenn sie eine andere Religion als den Islam angeben oder gar keine.

Erzwungene Offenlegung

Darüber hinaus besteht für jüdische und christliche Studenten ein echtes Risiko der Diskriminierung. Sie sind gezwungen, ihre Religion oder Weltanschauung offenzulegen. Um das Recht auf Befreiung von den obligatorischen Kursen in religiöser Kultur und Ethik in Anspruch nehmen zu können, dürfen diese Schüler das Feld ›Religion‹ in ihren Personalunterlagen nicht unausgefüllt lassen.

Die Generaldirektion für Religionsunterricht des Ministeriums für nationale Bildung (MNE) schrieb 2015 ein Memorandum an die Provinzgouverneure, in dem sie anordnete, dass Schüler, die in Grund- und Mittelschulen unterrichtet werden, mit Ausnahme von Schulen für religiöse Minderheiten, in ihren Ausweispapieren in der Rubrik ›Religion‹ ihre religiöse Zugehörigkeit angeben müssen, um vom Religionsunterricht befreit zu werden. Kinder mit einem leeren Feld in ihren Unterlagen sind verpflichtet, am Religionsunterricht teilzunehmen. Daher sind die Betroffenen gezwungen, ihre Religion anzugeben und den Religionsunterricht zu besuchen.

Der obligatorische Religionskundeunterricht lehrt auch das Judentum und das Christentum aus einer rein islamischen Perspektive. Nach islamischer Auffassung sind Judentum und Christentum verzerrte Versionen des Islam, aber keine authentischen Glaubensrichtungen. Der Bericht stellt fest:

»Die wesentlichen Grundsätze und Praktiken des Christentums und des Judentums sind im Lehrbuch der 11. Klasse weitgehend enthalten. Die Annahme der islamischen Sichtweise, dass die Schriften, welche die Hauptquellen des Christentums und des Judentums darstellen, ›verfälscht‹ wurden, nimmt jedoch einen wichtigen Platz in dem Buch ein.

Dieser Ansatz untergräbt ihre Legitimität und lehnt ihre Grundsätze und Praktiken ab. Nach Ansicht von christlichen und jüdischen Theologen in der Türkei beruhen die dargestellten Informationen auf Ungenauigkeiten und sind mit den grundlegenden Lehren des Christentums und des Judentums unvereinbar.«

Auch nicht-muslimische Gemeinschaften werden bei der öffentlichen Finanzierung ihrer religiösen Dienste ungleich behandelt. Die enorme Macht und das Budget der wichtigsten sunnitischen Institution des Landes und das Fehlen jeglicher öffentlicher Finanzierung für die religiösen Dienste nicht-muslimischer Einrichtungen geben ein recht klares Bild vom Ausmaß der Ungleichheit.

Das Direktorat für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) ist eine offizielle staatliche Einrichtung, die die Angelegenheiten im Zusammenhang mit der islamischen Religion in der Türkei verwaltet. Sie wurde 1924 gegründet. Unter der islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) hat sie jedoch den Höhepunkt ihrer Aktivitäten und ihres Budgets erreicht. Die Institution bildet alle Imame und Muftis der Türkei aus und stellt sie mit Beamtenstatus ein. Sie beschäftigt mehr als 138.000 Imame und andere Beamte und verfügt im Jahr 2022 über ein Budget von mehr als 1,1 Mrd. US-Dollar.

Fehlende Finanzierung

Der Bericht stellt fest, dass die vom Diyanet erbrachten religiösen Dienstleistungen durch die von allen Bürgern gezahlten Steuern finanziert werden. Es gibt keine Möglichkeit der Steuerbefreiung. Nicht-muslimische Bürger, einschließlich Juden, »erhalten jedoch keine öffentlichen Mittel, obwohl sie durch ihre Steuern zum Staatshaushalt beitragen. Diese Gemeinschaften sind auf die Spenden ihrer Mitglieder angewiesen.«

Die öffentliche Finanzierung religiöser Dienstleistungen ist somit ausschließlich für die sunnitisch-islamische Gemeinschaft vorgesehen. »Dies steht im Widerspruch zum Diskriminierungsverbot und zur Verpflichtung des Staates, den Gleichheitsgrundsatz zu beachten.«

Auch Nicht-Muslime, einschließlich Juden, werden in Bezug auf ihr Recht, ihre Religion oder ihren Glauben durch religiöse Symbole und/oder Kleidung zu bekunden, diskriminiert. »Das [muslimische] Kopftuch ist das einzige religiöse Symbol, das für Beamte oder Schüler in Grund-, Mittel- oder Oberschulen erlaubt ist. Andere religiöse Symbole wie die Kippa, das Kreuz oder Zulfikar [alevitisches Symbol] sind nicht erlaubt«, erläutert der Bericht.

Auch bei der offiziellen Anerkennung muslimischer und nicht-muslimischer religiöser Feiertage gibt es Ungleichheiten. Der Ramadan (Eid al-Fitr) und das Opferfest (Eid al-Adha) sind offiziell als nationale Feiertage anerkannt. Wichtige religiöse Gedenktage von Nicht-Muslimen, darunter Rosch Haschana, sind jedoch keine nationalen Feiertage in der Türkei.

In der Zwischenzeit stellt die Weigerung der Regierung, die von ihren nicht-muslimischen Bürgern konfiszierten Immobilien zurückzuerstatten, eine schwerwiegende Verletzung der Eigentumsrechte und der Religionsfreiheit der Opfer dar. Im Laufe der Jahre hat die türkische Regierung Tausende von nicht-muslimischen Grundstücken, darunter auch jüdische Friedhöfe und Schulen, beschlagnahmt. Das Stiftungsgesetz von 1935 beispielsweise stellte muslimische und nicht-muslimische Stiftungen unter Vormundschaft.

»Dies ebnete den Weg dafür, dass die Gemeinschaftsstiftungen den Status einer angeschlossenen (mülhak) Stiftung erhielten. Dieser Status verlieh der VGM [Generaldirektion der Stiftungen] weitreichende Befugnisse über diese Stiftungen und hob ihren autonomen Rechtsstatus auf. Der nächste Schritt war die Beschlagnahmung dieser Stiftungen und ihres Eigentums.«

Selbst Jahrzehnte später ist der Prozess der Rückgabe von ungerechtfertigtem Stiftungseigentum für nicht-muslimische Gemeinschaften noch nicht abgeschlossen; »der Schaden muss noch vollständig behoben werden«.

Antisemitische Hassreden

Antisemitische Hassreden stellen nach wie vor ein ernstes Problem dar, so der Bericht: »Die jüdische Gemeinschaft wird in den sozialen Medien häufig mit Beleidigungen, Hass und Verleumdungen angegriffen. Trotz der Beschwerden aus der Gemeinde haben die Behörden und soziale Netzwerke wie Twitter und Facebook diese Probleme nicht angegangen.«

Als der israelische Präsident Isaac Herzog am 9. März zu einem offiziellen Besuch in der Türkei eintraf, griffen einige Türken ihn und Israel mit antisemitischen Hassreden unter dem Hashtag »#Defol Herzog« an, was so viel bedeutet wie »#Hau ab, Herzog«.

Der Bericht nennt ein weiteres Beispiel aus dem Jahr 2021. Als Reaktion auf die Proteste der Professoren und Studenten der Istanbuler Boğaziçi-Universität gegen die Regierung schrieb ein Mediziner namens Cemil Kandemiroğlu auf Twitter an die Demonstranten gerichtet:

»Ihr seid alle unehrenhaft. Ihr seid Verräter. Ihr seid Juden. Möge Allah euch verdammen, InsALLAH.«

Die jüdische Gemeinde verurteilte Cemil Kandemiroğlus Posting auf Twitter vom 18. Juni 2021, in dem er den Begriff ›jüdisch‹ als Synonym für Verräter und unehrenhaft verwendet und dem jüdischen Volk die Verdammnis Gottes wünscht, und reichte Beschwerde bei der Staatsanwaltschaft ein, heißt es in dem Bericht.

Als die Türkei 1923 gegründet wurde, gab es rund 81.000 Juden in der Türkei. Infolge jahrzehntelanger Verfolgung, zu der auch ein Pogrom, eine diskriminierende Steuerpolitik, die sich nur gegen Juden und Christen richtete, und andere schwere Rechtsverletzungen gehörten, ist die aktuelle jüdische Bevölkerung des Landes auf weniger als 15.000 bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 85 Millionen gesunken. Angesichts der Diskriminierung und des Antisemitismus in der Türkei ist es kein Wunder, dass die große Mehrheit der im Land geborenen Juden mit den Füßen abstimmte und nach Israel auswanderte.

Uzay Bulut ist eine türkische Journalistin und politische Analystin, die früher in Ankara lebte. Derzeit ist sie Forschungsstudentin am MA Woodman-Scheller Israel Studies International Program der Ben-Gurion-Universität in Israel. Der Text erschien auf Englisch zuerst beim Jewish News Syndicate. (Übersetzung: Alexander Gruber und Martina Paul.)

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