Seit dem antiisraelischen Massaker vom 7. Oktober ist klar, dass sich der Prozess des kollektiven Vergessens und Verdrängens schneller entwickelt als man je gedacht hätte.
Welcher Sohn kann und muss über seinen Vater sagen: »Das Knacken deines Genicks hat mir ein verkorkstes Leben erspart«? »Freuen« Sie sich auf einen unserer nächsten Videobeiträge, den wir am kommenden Freitag auf unserem YouTube-Kanal veröffentlichen: Der vielfach preisgekrönte Historiker, Journalist und Publizist Peter Huemer spricht mit Niklas Frank, dem 1939 geborenen Sohn des »Nazischlächters« Hans Frank, der bei den Nürnberger Prozessen als einer der nationalsozialistischen Haupttäter zum Tod verurteilt und 1946 gehängt wurde.
Eigentlich fällt dieser Beitrag ein wenig aus dem Rahmen, denn wir befassen uns ja mit Gegenwart und Zukunft der MENA-Region. Aber die dortige aktuelle Dynamik hat auch in Europa und der Welt generell – vor allem des letzten Jahrhunderts – ihre Wurzeln.
Eigentlich sind die beiden Gesprächspartner Peter Huemer und Niklas Frank in vielerlei Hinsicht Gleichgesinnte. Sie kommen aber dennoch zu diametral entgegengesetzten Schlussfolgerungen über Demokratien und was sie wirklich noch zusammenhält, über Scheinheiligkeit oder über das wahre mitleidslose Empfinden der Mehrheiten über Generationen hinweg, die immer noch »zum Ausrotten bereit« sind. Das macht dieses Gespräch so spannend, weil es sorgsam gehegte, kollektive Verdrängungsmechanismen auf den Prüfstand stellt.
Die Vergangenheit reicht in die Gegenwart
Ich dachte immer, kollektives Vergessen nehme zumindest Jahrzehnte in Anspruch, bis es greift. Aber seit dem 7. Oktober 2023 weiß ich, dass sich dieser Prozess schneller, und zwar sehr viel schneller entwickelt, und zwar sehr wohl im aufgeklärten Westen und nicht nur unter Islamisten.
Auch im Medienbereich, auf Universitäten und in der Kunstszene – den Grundpfeilern moderner, gebildeter Gesellschaften – hat es nicht einmal Wochen gedauert, bis vergewaltigte Frauen, verstümmelte Kinder, ermordete Friedensaktivisten und verschleppte Geiseln so gut wie völlig vergessen waren. Keine Empathie für Israelis. Keine Wut auf die Täter. Kein Entsetzen. Nicht einmal Frauenorganisationen schreien auf. Die Schönredner, die alle Sätze zu diesen Grauen mit »ja, aber« und »aber nicht nur« beginnen, verharmlosen das Schrecklichste, das ich mir vorstellen kann und das die Generation meiner Eltern ebenfalls durchlebt hat.
Bis jetzt war es für mich als einem, der »die Gnade der späten Geburt« erleben durfte, trotz allen Wissens und persönlicher Betroffenheit überhaupt nicht vorstellbar, dass solch eine Gleichgültigkeit möglich sein könnte. Aber sie wiederholt sich seit dem 7. Oktober 2023 Tag für Tag vor meinen eigenen Augen.
Sind Sie persönlich eher Optimist oder doch Pessimist? Ich versuche immer, Gründe für Optimismus zu finden. Aus purem Egoismus. Um mir das Leben nicht vermiesen zu lassen und man nicht mehr sinnvoll handlungsfähig ist, denkt und lebt man in ständigen negativen Spiralen. Ich muss Ihnen das sicher nicht erzählen, aber einfach ist das nicht.
Ja, die Befreiung von vier der Hamas-Geiseln hat mich für einige Stunden glücklich gemacht. Und ich bin immer wieder stolz auf die israelische Zivilgesellschaft, die auf den Straßen des Landes für ihre Demokratie kämpft, während ihre Angehörigen auf dem Schlachtfeld ihr Leben dafür riskieren. Ich freue mich immer, wenn, was leider zu selten vorkommt, Menschen wo auch immer gegen Hass, Gewalt und jedwede Menschenverachtung aufstehen.
Aber mein Realitätssinn, der blöde Hund, lässt sich nicht ganz beiseiteschieben. Es fällt mir schwer, nicht pessimistisch zu sein. Was wird als Nächstes kommen? Was kann das sein? Im Gespräch mit Peter Huemer spricht Niklas Frank von »letzten demokratischen Zuckungen«.
So, wie die Europa-Wahlen ausgegangen sind, hat er, fürchte ich, recht.