Der Versuch, so große Veränderungen wie die Justizreform ohne breiten Konsens herbeizuführen, kann nur zu Kontroversen, Polarisierung und letztlich zu anhaltenden Unruhen führen.
Benjamin Kerstein
Vor Kurzem habe ich über den derzeitigen Bruch in der israelischen Gesellschaft im Zusammenhang mit der von der Regierung angepeilten Justizreform nachgedacht. Ich habe mich gefragt, ob sich der politische Kreis am Schließen und Israel auf dem Weg zurück zur Achterbahnfahrt der frühen 1990er Jahre ist, als die Kontroverse über die Osloer Verträge Israel in zwei Teile spaltete.
Abgesehen von den offensichtlichen Treppenwitzen dieser Rückkehr des Verdrängten – vor allem dem der verblüffenden Umkehrung der Rollen zwischen links und rechts – gibt es einen weiteren, der uns vielleicht zu einem Verständnis dessen führt, wie wir in diese Situation geraten sind.
Konsens notwendig
Wenn etwas die gewaltsame Polarisierung der Ära der Osloer Verträge ausgelöst hat, dann die Tatsache, dass Yitzhak Rabin und sein Kollege Shimon Peres auf einen der wichtigsten Aspekte der politischen Kunst verzichteten: Sie wollten eine große, ja epochale Veränderung herbeiführen, ohne sich die Mühe zu machen, einen breiten Konsens dafür zu finden.
Der eigentliche Sündenfall des Osloer Abkommens bestand darin, dass es im Geheimen ausgehandelt und dann ganz plötzlich nicht nur öffentlich gemacht, sondern zur unhintergehbaren Politik erklärt wurde, die nicht mehr geändert werden konnte, ohne Israels diplomatisches Ansehen massiv zu beschädigen.
Die Israelis gingen eines Abends mit der Überzeugung zu Bett, dass Jassir Arafat und die PLO Israels Todfeinde seien, und wachten auf, um zu erfahren, dass es nun Freunde und Partner seien. Dass so ein Vorgehen zu einem nicht geringen Maß an Zwietracht führte, sollte nicht überraschen. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass es so war, als ob die Amerikaner am 11. September 2002 aufgewacht wären, um zu erfahren, dass die Bush-Regierung ein Friedensabkommen mit Osama bin Laden geschlossen hatte, demzufolge er und Al-Qaida die Hälfte von Ohio erhalten würden.
Dies führte zu einer Spaltung Israels in zwei Teile, wobei die eine Hälfte des Landes davon überzeugt war, dass der jüdische Staat eine tödliche, selbst zugefügte Wunde erlitten hatte; und die andere davon, dass nun Frieden, Harmonie und ein »neuer Naher Osten« in Sicht seien. Auf der extremen Rechten nahm diese Spaltung grausame Ausmaße an und gipfelte in der Ermordung Rabins durch einen ideologischen Fanatiker.
Dass es Rabin und Peres nicht gelang, einen Konsens zur Unterstützung der Osloer Verträge herzustellen – was zwar schwierig, aber nicht unmöglich gewesen wäre – war nicht der Grund für das Scheitern des Abkommens. Das Verdienst dafür liegt allein bei Jassir Arafat und seiner spätestens im Jahr 2000 getroffenen Entscheidung, den Frieden sowie einen palästinensischen Staat abzulehnen – und stattdessen einen Terrorkrieg mit unzähligen Gräueltaten zu beginnen.
Nichtsdestotrotz ist Rabins und Peres‘ Gleichgültigkeit gegenüber dem Konsens ein Lehrstück dafür, wie wichtig dieser ist, wenn eine Regierung größere Veränderungen anstrebt: Hätten die beiden versucht, einen solchen Konsens herzustellen, wären die Spaltung, der Groll und die Gewalt, die folgten, vielleicht vermieden worden.
Wiederholung alter Fehler
Diese Lektion ist heute nicht weniger relevant. Man mag die vorgeschlagenen Justizreformen unterstützen oder ablehnen, aber es besteht kein Zweifel daran, dass sie einen Versuch darstellen, die israelische Gesellschaft zu verändern; und diese Veränderung ist (erneut) keine kleine. Sie wird das Machtgleichgewicht zwischen der Legislative und der Judikative völlig neu ordnen, mit weitreichenden Auswirkungen auf jeden Aspekt der Gesellschaft.
Es sollte sich also von selbst verstehen, dass eine Veränderung dieser Größenordnung einen breiten Konsens erfordert, wenn sie das Land nicht in Stücke reißen soll. Premierminister Benjamin Netanjahu hat trotz seines legendären politischen Scharfsinns keinen solchen Konsens hergestellt. Überraschenderweise hat er auch keinen Versuch unternommen, dies zu tun, sondern scheint seinen Wahlsieg einfach als Beweis dafür genommen zu haben, dass es einen solchen Konsens gebe.
Doch Netanjahu lag und liegt falsch. Sein rechtsreligiöser Block hat zwar in einer freien und fairen Wahl die Mehrheit errungen, aber eine Mehrheit von vier Sitzen reicht bei weitem nicht aus, um einen nationalen Konsens zu bilden. Mehr oder weniger halb Israel hat gegen seinen Block gestimmt, und die Tatsache, dass dieses Wählersegment 49 Prozent und nicht 51 Prozent der Bevölkerung ausmachen, bedeutet nicht, dass es keinerlei politisches Gewicht hat.
Vielleicht ist Netanjahu, ähnlich wie Margaret Thatcher in ihren späten Jahren, durch seine lange Zeit an der Macht jener Art selbstzerstörerischer Hybris verfallen, der extrem erfolgreiche Politiker oft erliegen. Ein so intelligenter Mann wie er hätte wissen müssen, dass der Versuch eines solch massiven Wandels in einer Gesellschaft, die so polarisiert ist wie Israel, ohne Konsens nur zu Kontroversen, Konflikten und am Ende zu anhaltenden Unruhen führen kann.
Anstelle der Schaffung eines Konsenses haben sich Netanjahu und der Rest seines rechtsreligiösen Blocks jedoch dafür entschieden, zu weit zu gehen. Das Ergebnis war unvermeidlich und vorhersehbar: Die israelische Gesellschaft wurde (erneut) in zwei Teile gespalten. Ein solcher Riss im sozialen Gefüge nützt niemandem. Das sollte zumindest einem so begabten und pragmatischen Politiker wie Netanjahu zu denken geben.
Benjamin Kerstein ist Schriftsteller und Redakteur und lebt in Tel Aviv. Lesen Sie mehr von ihm auf Substack, auf seiner Website oder bei Twitter. (Der Artikel erschien auf Englisch beim Jewish News Syndicate. Übersetzung von Alexander Gruber.)