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Warum gibt es Judenhass in Ländern, in denen es keine Juden gibt?

Anti-Israel-Demonstration in Stuttgart. Sommer 2014
Anti-Israel-Demonstration in Stuttgart. Sommer 2014 (Foto: Facebook)

Seit es das jüdische Volk gibt, erfährt es eine eigenartige Ablehnung. Tatsächlich gab es immer Nichtjuden, die sich vorgenommen hatten: „Kommt, wir vernichten sie, so dass sie kein Volk mehr sind. Des Namens Israel soll nicht mehr gedacht werden!“ (Psalm 83,5). Dieser Hass auf ein Volk ist einzigartig. Selbst in Ländern, in denen es gar keine Juden gibt, ist er nachweisbar.

Johannes Gerloff

Im Laufe der Geschichte erwies dieses Gefühl eine interessante Anpassungsfähigkeit an die jeweilige „political correctness“ einer Zeit, Kultur oder Gesellschaft. Das zeigt der Wandel der Begründung für die immer gleiche Judäophobie.

Mutationen des Judenhasses

Der Pharao des alten Ägypten fühlte sich demografisch von seinen hebräischen Sklaven bedroht. Er befürchtete, dass sie im Falle eines Krieges zur „fünften Kolonne“ werden könnten (Exodus 1,8-10). Der persische Großwesir Haman begründete sein Vernichtungsvorhaben damit, die Juden hätten Gesetze, die sich von denen aller anderen Völker unterschieden (Ester 3,8). Martin Luther rechtfertigte seine Gegnerschaft gegen das jüdische Volk religiös. Im Rahmen dieses Begründungsmusters konnte ein Jude sich durch Bekehrung immerhin noch retten.

Im 19. und 20. Jahrhundert schließlich mutierte der uralte Israelhass zum Antisemitismus. Dieser Denkansatz fand den Grund für den Kampf gegen das jüdische Volk im Blut und in den Genen. Das Infame daran: Kein Mensch jüdischer Abstammung kann sich der Verfolgung entziehen.

Als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kein Westeuropäer mehr guten Gewissens Antisemit sein konnte, führte das sowjetische Propagandaministerium gezielt den Begriff des Antizionismus ein. Seither richtet sich die Judäophobie politisch völlig korrekt gegen den politischen Ausdruck des jüdischen Volkes. Praktisch an dieser Begründung des Negativgefühls gegenüber Juden ist, dass man es hegen kann, ohne religiös oder gar rassistisch sein zu müssen.

Alte Verleumdungen neu aufgewärmt

Doch oft verraten sich die ewig gleichen Denkmuster, wenn alte Verleumdungen neu aufgewärmt werden. Waren es im Mittelalter Blutlegenden, die Juden beschuldigten, Christenkinder zur Herstellung ihrer Mazzen zu schlachten, ist es heute der Vorwurf „Kindermörder Israel“. Und wo vor tausend Jahren behauptet wurde, Juden hätten die Brunnen Europas vergiftet, wird heute verbreitet, Siedler verseuchten das Wasser der Palästinenser.

Man muss allerdings keine raffinierte Gedankenakrobatik betreiben, um zu sehen: Das alte Gespenst Judäophobie ist in Mitteleuropa quiek lebendig. Rassistische Zettel, beleidigende E-Mails, antisemitische Parolen bei Fußballspielen oder einfach nur Bemerkungen im Vorbeigehen, Wandschmierereien und die Schändung von Gedenkstätten und Friedhöfen sind offensichtliche Symptome.

Deutschland aktuell

So wurde am 1. Mai 2019 in Frankfurt am Main ein jüdischer Geschäftsmann als „Scheißjude“ beschimpft. Am 6. Mai forderte in Hamm die nordrhein-westfälische Linksjugend auf Facebook die vollständige Vernichtung des Staates Israel. Am 10. Mai wurde in Berlin am Gedenkort für Opfer eines Terroranschlags eine Israelflagge verbrannt. Am 18. Mai spielte die Partei „Die Rechte“ vor der Synagoge in Pforzheim Tonaufnahmen einer mehrfach verurteilten Holocaust-Leugnerin ab. Am selben Tag wurde im niedersächsischen Hemmingen ein Brandanschlag auf das Haus eines jüdischen Ehepaars verübt.

Am 1. Juni muss sich in Berlin-Charlottenburg eine junge Jüdin anhören: „Eigentlich müsste Hitler wiederkommen und auch den Rest töten.“ Am 13. Juli bedrängt in Freiburg ein Mann die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde: „Mich wundert nicht, dass Hitler euch vergast hat, euch Idioten.“ Und: „Ab mit euch! Sonst schlag ich dich tot, du Hure!“ Am 10. August wird im Berliner Flughafen Tegel ein Mann mit Davidstern-Kette von Mitarbeitern beleidigt und vom Flug ausgeschlossen. Drei Tage später wird ein Jude in Charlottenburg von zwei Männern zu Boden gestoßen. Augenzeugen greifen laut dem Opfer nicht ein.

Im September wird in Berlin ein junger Mann, der sich vor einer Diskothek auf Hebräisch unterhält, ins Gesicht geschlagen. Trotz Auftrittsverbots für zwei antisemitische Rapper nehmen im selben Monat in der deutschen Hauptstadt 500 Menschen an einer israelfeindlichen Kundgebung teil. Bei einem Fußballspiel in Frankfurt am Main wird der israelische Schiedsrichter als „Judensau“ bezeichnet.

Als dann am 9. Oktober in Halle an der Saale ein schwer bewaffneter Mann versucht, in eine Synagoge einzudringen, ist kein jüdischer Mensch, der Deutschland kennt, wirklich erstaunt. Der Plan des Gewalttäters scheitert, weil die jüdische Gemeinde gute Sicherheitsmaßnahmen getroffen hatte. Doch zwei Passanten werden ermordet.

Wer in der deutschen Öffentlichkeit des 21. Jahrhunderts eine Kippa oder einen Davidstern trägt, Hebräisch spricht, eine Israelfahne zeigt oder sonst irgendwie seine Verbundenheit mit dem jüdischen Volk zeigt, muss davon ausgehen, beleidigt, beschimpft, bedroht, mit Steinen beworfen oder verprügelt zu werden. 2019 wurde Juden in der Bundesrepublik Deutschland der Zugang zu Restaurants verwehrt, und sie bekamen den Hitlergruß zu sehen.

Analysen

Eine Statistik des Bundeskriminalamts verzeichnet zwischen Januar und Juni 2019 442 Straftaten mit antisemitischem Hintergrund. Die „Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus“ (RIAS) beobachtet die Lage in Deutschland und registriert die Fälle, die ihr gemeldet werden. Die Welt veröffentlicht am 24.10.2019 ohne Anspruch auf Vollständigkeit eine Liste von achtzig Vorfällen zwischen 1. Januar und 9. Oktober 2019, dem Jom Kippur des Jahres 5780 (nach jüdischer Zeitrechnung „seit Erschaffung der Welt“), als der gewalttätige Vorfall in Halle eine neue Zäsur setzte. Die deutsche Tageszeitung kommt zu dem Schluss: „Hass auf Juden ist in Deutschland Alltag“.

Vor dem Anschlag in Halle wurden im Auftrag des Jüdischen Weltkongresses 1 300 Menschen befragt. Die Studie ergab, dass 27 Prozent der Deutschen antisemitische Gefühle hegen. 41 Prozent meinten, Juden redeten zu viel über den Holocaust, hätten zu viel Macht in der Wirtschaft oder trügen die Verantwortung für die meisten Kriege auf der Welt.

Resümee

Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, kommt zu dem Schluss: „Antisemitismus war in bürgerlichen Kreisen in Deutschland immer vorhanden. Doch heute äußern sich die Menschen offener.“ Der israelbezogene Antisemitismus in Deutschland liegt bei 40 Prozent. Handlungen der israelischen Regierung werden mit dem gleichgesetzt, was die Nationalsozialisten der jüdischen Bevölkerung in Europa angetan haben.

Die Abneigung gegen das jüdische Volk, seinen Glauben, seine Kultur und seinen Staat durchzieht alle Bereiche des täglichen Lebens in Deutschland. Gesellschaftlich lässt sich diese Antipathie nur schwer verorten. Die Autoren der oben aufgezählten Symptome sind Akademiker und Handwerker, Adelige und Bürgerliche, Fußballfans, einfache Passanten, Bus- und Taxifahrer, Polizisten und Politiker.

Importierter Judenhass?

Immer wieder ist zu hören, Migranten aus islamischen Ländern hätten einen neuen Antisemitismus in die deutsche Gesellschaft importiert. An dieser Behauptung ist richtig, dass eine tiefsitzende Judäophobie ein entscheidender Faktor im Nahostkonflikt um den modernen Staat Israel ist. Interessanterweise wird das von Nahostexperten, Politikern und Diplomaten jedoch kaum verbalisiert.

Tatsache ist, dass arabische Regierungen und ihre Diplomaten oft „israelfreundlicher“ sind, als die Bevölkerung, die sie vertreten. So mussten etwa palästinensische Unterhändler um ihr Leben fürchten, als der katarische Nachrichtensender Al-Jazzeera im Januar 2011 veröffentlichte, zu welchen Zugeständnissen sie gegenüber dem jüdischen Staat bereit gewesen wären. Es ist Fakt, dass sowohl die Praxis, Juden in Ghettos zu sperren, als auch die Kennzeichnung mit einem gelben Stück Stoff ihren Ursprung in der arabischen Welt haben.

Aber wir sollten historische Entwicklungen nicht auf den Kopf stellen. Der Islam hat in Sachen Judenhass viel vom Christentum gelernt, wenn nicht gar einen Großteil seiner Argumentation auf diesem Feld übernommen. Dazu gehört das christliche Motiv des Gottesmordes. Die islamische Tradition behauptet, Mohammed sei von einer Jüdin vergiftet worden.

Richtig ist allerdings auch, dass das Christentum nicht der Urheber des Phänomens der Judäophobie war. Viele Vorurteile und Vorgehensweisen haben Christen in der Antike aus ihrem heidnischen Umfeld übernommen, das alles andere als judenfreundlich war.

Engagement gegen Antisemitismus

Damit stellt sich allerdings die Frage an das moderne Deutschland genau wie an das antike Christentum, warum man sich im Blick auf den Judenhass immer wieder so anpassungsfähig erwiesen hat?

In der deutschen Öffentlichkeit machen sich zudem Menschen mit Migrationshintergrund hörbar gegen Antisemitismus stark. Zu nennen ist da nicht nur der außenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Bijan Djir-Sarai, der immer wieder anmahnt, die Politik der Bundesregierung gegenüber Israel sei korrekturbedürftig. Auch der Psychologe Ahmad Mansour zeigt einen bewundernswert unerschrockenen Einsatz gegen Rassismus, Bigotterie und Fremdenfeindlichkeit.

Aus der Perspektive Israels

Die Medien in Israel beschäftigt der weltweit zunehmende Antisemitismus sehr. Die Jerusalem Post erwähnt, dass 2018 in Frankreich eine Zunahme von 74 Prozent, in Deutschland im selben Zeitraum eine Zunahme von 60 Prozent antisemitischer Vorfälle verzeichnet wurde. In den USA haben sich im gleichen Jahr die Vorfälle rassistisch motivierten Judenhasses mehr als verdoppelt. Haaretz ergänzt, dass Australien 2019 bereits eine Zunahme von 30 Prozent an antisemitischen Vorfällen verzeichnen muss.

Judäophobie weltweit ist ein Dauerthema im Staat Israel, der sich per Definition als Zufluchtsort für verfolgte Juden versteht. Man fragt sich, was ein Wahlsieg von Labour unter Jeremy Corbyn für Großbritanniens Juden bedeutet. Aufmerksamkeit gewinnt, wenn der Triester Stadtrat Fabio Tuiach behauptet, es sei „anstößig für Christen, Jesus einen Juden zu nennen“. Donald Trumps Verbindungen zur rechts-nationalistischen Szene in den Vereinigten Staaten sind ebenso Thema, wie die ermutigende Meldung, das französische Parlament habe Antizionismus als Form des Antisemitismus verurteilt.

Selbstverständlich wird seit Jahren die BDS-Bewegung analysiert, die vor allem an amerikanischen Universitäten mit ihrer explizit antiisraelischen Rhetorik an Einfluss gewinnt. Dabei wird klar: „Antisemitismus ist nicht länger das exklusive Feld von Rechtsaußen. Er hat sich in der politischen Linken festgesetzt, deren Mitglieder traditionell anti-rassistische Standpunkte vertreten, dann aber antisemitische Narrative vertreten, wenn sie den Staat Israel kritisieren.“

Scharanskys „3-D-Test“

Nathan Scharansky war „Zionsgefangener“ in sowjetischen Gefängnissen, bekleidete verschiedene Resorts als Minister der israelischen Regierung und diente zuletzt fast zehn Jahre lang als Vorsitzender der Exekutive der Jewish Agency. Das Schach-Genie hat einen „3-D-Test“ entwickelt, der zeigen soll, wann legitime Israelkritik zum Antisemitismus wird: Wenn das jüdische Volk und sein Staat „d“ämonisiert oder „d“elegitimiert werden und ein „d“oppelter Standard anlegt wird.

Rabbi Wolicki und die christliche Theologie

Der modern-orthodoxe Rabbiner Pesach Wolicki engagiert sich im christlich-jüdischen Dialog. Er beobachtet eine Wandlung in der antijüdischen Polemik christlicher Theologen. Martin Luther hatte sich lustig gemacht über Juden, die daran festhielten, dass sie eines Tages in das Land Israel zurückkehren würden. Für Luther war klar, dass das niemals geschehen würde – so klar, dass er sich sarkastisch festlegen konnte: Sollte das geschehen, „so sollen sie uns bald auff den ferssen nach sehen daher komen und auch Jueden werden.“

„Wie würde Luthers Theologie über die Juden aussehen“, fragt Wolicki, „hätte der moderne Staat Israel in seiner Zeit existiert, wohlhabend und von Millionen von Juden bevölkert, die von allen vier Enden der Erde zurückgekehrt sind? Ich glaube nicht, dass Luther zum Judentum konvertiert wäre. Aber hätte er dieselbe Aussage auf diese Weise gemacht? Gewiss nicht.“

Wolicki beobachtet, dass sich christliche Theologen heute nicht mehr über die Rückkehrhoffnung des jüdischen Volkes lustig machen können. Der Staat Israel ist Fakt. Christliche Kritik an der jüdischen Existenzberechtigung muss jetzt an anderer Stelle einsetzen: Sie stellt die Kontinuität des Volkes Israel aus biblischen Zeiten bis in die Gegenwart in Frage. „Ich denke nicht, dass die alttestamentliche Nation Israel und die moderne Nation Israel dasselbe Volk sind. Noch sollten sie das nach meiner Einschätzung sein“, schreibt der General-Presbyter eines US-Bundesstaates.

Die Kontinuität des jüdischen Volkes ist eine historische Tatsache. Trotzdem scheint heute denjenigen, die ein theologisches Problem mit der Existenz des Volkes Israel haben, nur noch die Möglichkeit zu bleiben, diese nachweisbare Abstammung anzuzweifeln. „Anstatt zu behaupten, die Kirche habe Israel ersetzt“, erkennt Rabbi Wolicki, „behaupten sie jetzt, dass es überhaupt kein Israel mehr gibt.“

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