Am „Versöhnungstag“ kommt im jüdischen Staat so gut wie alles zum Stillstand, doch vor 46 Jahren mussten die Israelis lernen, dass sie selbst an diesem Tag wachsam sein müssen.
Am Dienstagnachmittag erstarb in Jerusalem jegliches öffentliche Leben. Gegen 15 Uhr rauschten die letzten Stadtbusse an unserer Haustür vorbei. Die Überlandbusse peilten gleichzeitig im ganzen Land die Depots an, um erst am Mittwoch gegen Mitternacht ihren Dienst wieder aufzunehmen. In den vorletzten israelischen Rundfunknachrichten wurde noch gemeldet, dass der Ben-Gurion-Flughafen um 15 Uhr seine Pforten geschlossen habe. Nach den Nachrichten um 16 Uhr hieß es im Radio: „Hiermit beenden wir unsere Sendungen.“ Danach herrschte Schweigen im ganzen Land, das erst am Mittwoch gegen 19:30 Uhr gebrochen werden sollte. Tatsächlich läuft am jährlichen Versöhnungstag in Israel öffentlich nichts mehr. Die Autobahnen füllen sich mit Fahrrad-fahrenden Kindern und selbst Kioske, die sonst an allen Tagen im Jahr 24 Stunden geöffnet haben, verriegeln ihre Tore.
Nur vereinzelt bahnen sich Feuerwehrwagen, Ambulanzen oder Polizeipatrouillen vorsichtig ihren Weg auf den mit Fußgängern gefüllten Straßen. Alle Fabriken haben ihre Produktion eingestellt. Und neben dem Nichtstun ohne Musik, Nachrichten und Fortbewegungsmittel wird in Israel auch noch streng gefastet und nichts getrunken.
Tag der Versöhnung
Am höchsten Feiertag des Judentums geht es um „Versöhnung“. Da soll man alle um Verzeihung bitten, die man im Laufe des Jahres beleidigt oder verletzt hat. Zu diesem Zweck strömen alle Menschen in die Synagogen. Sie sind teilweise in weiße Leichentücher gehüllt und kommen in Turnschuhen, weil es an diesem Tag verpönt ist, Lederschuhe zu tragen.
Die Wünsche der „Fridays for Future Bewegung“, die in Berlin zurzeit die „Extinction Rebellion“ übt, sind hier für einen Tag Wirklichkeit geworden. Doch, was die grünen Rebellen in Berlin fordern, diesen umweltschonenden Idealzustand, könnte keiner länger als einen Tag durchhalten. Und selbst dieser eine Tag ist schon schwer genug zu ertragen. Nach dem Feiertag wird regelmäßig gemeldet, wie viele Menschen wegen Dehydrierung ins Krankenhaus gebracht werden mussten, und wie viele Frauen niederkamen, ohne rechtzeitig ins Hospital zu gelangen.
Zudem ist diese Stille nur oberflächlich friedlich. Zwar strömen in Jerusalem Tausende zur Klagemauer, doch das Land kann nicht einfach nur beten und auf eine glückliche Zukunft hoffen. Die Lage ist angespannt. Im Hintergrund müssen Polizei und Grenzschutz doppelt wachsam sein. Vor genau 46 Jahren haben die Israelis miterlebt, was passiert, wenn sie an Jom Kippur nicht aufpassen. Ministerpräsidentin Golda Meir wollte nicht an einen Krieg glauben, und das nutzten Ägypter und Syrer aus, um Israel überraschend zu überfallen. Der jüdische Staat hätte das fast nicht überlebt. Die Menschen haben das nicht vergessen.
Ruhe in Sicherheit
Hier in Jerusalem, wo man stets von arabischen Vierteln umgeben ist, gibt es trotz Jom Kippur sowieso keine Ruhe. Abends werden bei den muslimischen Nachbarn wie immer Feuerwerkskörper abgeschossen. Weil der Lärm der Stadt verstummt ist, hallt das an den Hügeln verstärkt wider. Und schon morgens bei Tagesanbruch ertönt der Gebetsruf der Minarette, die hierzulande mit riesigen Lautsprechern verstärkt werden. Die Rufe beginnen leicht zeitversetzt und werden begleitet von großen Horden halbwilder Hunde, deren Jaulen und Bellen mit dem menschlichen Lärm um die Wette tönt. Man wird unweigerlich wach.
Wer sich anschließend noch einmal ins Bett legt, um ein paar Stunden Schlaf zu genießen, kann dies in der Gewissheit tun, dass die Stille des Feiertages behütet ist. Und auch, wer in dieser frömmsten aller Städte nicht gläubig ist, wird dafür dankbar sein. Vielleicht täte es der deutschen Öffentlichkeit gut, wenn man sich einmal daran erinnert, wie viele Polizisten es braucht, um so einen Ausnahmezustand abzusichern. Jerusalem weiß es. Ob Berlin das lernt, bleibt abzuwarten.