Von Philipp Thiée
Der mit eindrücklichste Buchtitel des polnischen Journalisten Ryszard Kapuścińskis lautet: „Die Erde ist ein gewalttätiges Paradies“. Genau so habe ich den Jemen erlebt, als ich vor circa 12 Jahren dort einen Freund besuchte, der in der Stadt Taiz arbeitete. Man kann sich kaum ein Land vorstellen, das weiter von Europa entfernt ist, als der mit einer traumhaften Architektur und einer von Schönheit geprägten Landschaft beglückte Jemen. Mehr noch als der dort dominante Islam, der die meisten Jeminitinnen hinter Burkas verschwinden lässt, ist der allgegenwärtige und den Alltag umfassend strukturierende Konsum des Rauschmittels Qat, etwas für hiesige Verhältnisse in seiner Bedeutung völlig Unverständliches. Der inzwischen getötete Präsident Ali Abdullah Saleh, der das Land Jahrzehnte nicht beherrschen konnte und doch als Herrscher überlebte, wurde wohl nur von den mächtigen Stämmen davon abgehalten, ein völliger Tyrann wie Saddam Hussein zu werden.
Im allgemeinen Chaos des Jemens haben sich anarchische Freiheit, Unrecht, Freundlichkeit und gesellschaftlich gegenseitig unnütz zugefügtes Leid verbunden. Nun herrscht dort Krieg. Der angesprochene Kapuściński schrieb über Krieg:
„Die Welt beobachtet den Schauplatz von Kampf und Tod, den sie sich im Übrigen nur schwer vorstellen kann, denn das Bild des Krieges ist kaum zu vermitteln, nicht mit der Feder, der Stimme oder der Kamera. Der Krieg ist nur für jene eine Wirklichkeit, die in seinem blutigen, abstoßenden, schmutzigen Inneren sitzen.“
Seit meinem Besuch im Jemen bestand über soziale Medien unregelmäßiger Kontakt zu Yahya und Abdullah. [Zum Schutz der Personen in Taiz, wurden Namen verändert und Identitäten verschleiert, Anm. Mena Watch.] Über sie habe ich auch den Aufstand gegen Ali Abdullah Saleh und den Krieg der letzten Jahre im Jemen verfolgt. Taiz ist eine der größeren Städte des Jemen und liegt genau im Zentrum einer Hochebene zwischen der Hauptstadt Sanaa und der Hafenstadt Aden. Die Washington Post versuchte jüngst, die Lage in der Stadt zu beschreiben, um einen Blick auf die, die – nach Kapuścińskis Worten – im Inneren des Schmutzes sitzen, zu ermöglichen:
„Die von Saudi-Arabien geführte Koalition, die im Jemen Krieg führt, bewaffnet und finanziert lokale Milizen. Einige von ihnen besitzen angeblich Verbindungen zu islamischen Extremisten, die sich jetzt in einem Wettstreit um Territorium, Reichtum und der Kontrolle über die Zukunft des Landes gegenüberstehen.“
„Diesen Krieg will keiner beenden – sie alle profitieren davon“
Yahya und Abdullah versuchen zu beschreiben, was das konkret bedeutet. WhatsApp macht es möglich, dass sie über die aktuelle Situation berichten können. Ich bin in den verschneiten Alpen und Yahya und Abdullah sitzen im winterlich kalten Taiz – der drittgrößten Stadt im Zentrum des sogenannten grünen Jemens. Nachts um 01:00 jemenitischer Zeit ist die Verbindung gut genug, um einigermaßen zusammenhängend miteinander zu sprechen. Schon vor 12 Jahren wurde, um eine regelmäßige Stromversorgung zu gewährleisten, rotierend einzelnen Stadtteilen mehrere Stunden am Tag der Strom abgeschaltet.
Yahya erzählt: „Die Armee von Taiz wird von der Muslimbruderschaft kontrolliert. Die Bruderschaft nennt sich hier Islah-Partei. Houthi hat sich an die Grenzen der Stadt zurückgezogen. Seine Leute sitzen jetzt im Palast der Republik an der Straße nach Sanaa.“ Yahya spricht von „ihm“, weil es sich aus Perspektive eines Jemeniten nicht um eine politische Bewegung, sondern um einen Stamm mit einem Führer handelt. Er ist nicht so stark. Taiz wird von ein paar tausend Kämpfern belagert. Kannst Du Dir das vorstellen? Dagegen wird Taiz aus den Kasernen von mehreren 10.000 Kämpfern verteidigt.“ Die Front hat sich aber seit über einem Jahr nicht verschoben. „Ich habe selber gekämpft als der Houthi kam. Ich wollte nicht, dass meine Stadt mit von den Iranern beherrscht wird. Dann habe ich gemerkt, dass es gar nicht um Befreiung geht und mich aus dem Krieg zurückgezogen.“
Die Islah-Partei ist eine alte jemenitische Partei. Bei den letzten Wahlen erlangte sie über 20% und war so ein Faktor, den auch Saleh in sein Herrschaftssystem einbinden musste. Wie die Geschichten einer jeden Fraktion im tribalistisch strukturierten Jemen, ist die der Islah wechselhaft, widersprüchlich und gelinde gesagt kompliziert. Immer wieder war sie mit verschiedenen anderen politischen Kräften verbündet. Zuletzt gab es im November 2018 ein Treffen mit Saudi-Arabien in den VAE. Trotz der prinzipiellen Feindschaft der Saudis gegenüber der Muslimbruderschaft besteht ein Bündnis gegen den gemeinsamen schiitischen Feind. Das Washington Institute fasst die jüngste, wahrscheinlich aus der Sicht von Morgen schon vorgestern wieder überholte Entwicklung zusammen:
„Um den zum Scheitern verurteilten Friedensprozess voranzutreiben und den Einfluss der Vereinigten Arabischen Emirate im Nachkriegsjemen sicherzustellen, scheint Abu Dhabi bereit zu sein, seine Abneigung gegen bestimmte islamistische Parteien, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt, hintanzustellen.“
Offensichtlich können meine Gesprächspartner das aus ihrer Perspektive vor Ort nur schwer nachvollziehen. Abdullah, der sich schon 2011 an Demonstrationen gegen Ali Abdullah Saleh beteiligt hat und versucht, noch immer abseits der Kriegsparteien aktiv zu sein, meint: „Stell Dir vor, wir beide sind Feinde. Wir sitzen im Haus nebeneinander und haben viele Waffen. Aber seit einem Jahr schießen wir nicht aufeinander. Diesen Krieg will keiner gewinnen. Es gibt Leute in Taiz, die sind reich geworden seit es Krieg gibt, und bei den Houthi hinter der roten Linie im Norden der Stadt sieht es nicht anders aus. Wenn Du Krieg sehen willst, musst Du an die Küste gehen. In Taiz greifen sich die Soldaten nicht mehr an. Sie sind alle zufrieden wie es ist.“
„Die Muslimbruderschaft ist ein Gewerbe“
„Jemen ist ein Land der Geister geworden“, sagt Yahya, der jetzt als Fahrer arbeitet. „Wir sind doch zusammen über die Straße nach Sanaa gefahren als Du hier warst. Wir haben bis zum nächsten Ort 20 Minuten gebraucht. Heute brauche ich sieben Stunden. Ich muss über Schleichwege durch die Berge fahren und darauf warten, wann man ohne Kontrollen durchkommt. An den Checkpoints muss man zahlen. Und weil ich Kämpfer war, würde der Houthi mich nicht durchlassen, sondern mich gefangen nehmen.“ Es gibt aber viele die für ihren Alltag jeden Tag die rote Linie überqueren müssen, sodass Entführungen ein Geschäften auf allen Seiten geworden sind.
Vor zwölf Jahren fuhren viele junge Männer abends auf den Saber Mountain. In Autos oder Bauruinen kauten sie Qat und rauchten. „Saber kann man nicht mehr betreten, da ist jetzt das Militär. Man kann sich nicht mehr frei bewegen und da einfach eine Shisha rauchen oder Qat kauen gehen.“ Es gehe allen Seiten um Besteuerung, meint Yahya. Die Einnahmequellen und Geschäfte der Bewaffneten sind divers. Zunächst werden die Geschäftsleute ausgenommen, und bei diesem Geschäft will man sich nicht durch unnötige Kämpfe stören lassen. Trotzdem ist die Einmischung des Auslands willkommen: „Die [Muslim-]Bruderschaft hat vor einigen Monaten viel Geld von Saudi-Arabien und der Koalition bekommen, um den Houthi aus der Umgebung von Taiz zu vertreiben, es gab drei Tage zum Alibi Kämpfe. Das war’s, dann wurde das Geld verteilt.“ Nicht nur die Einheimischen werden also ausgenommen.
In Taiz ist die Muslimbruderschaft jetzt formell nicht nur mit Saudi-Arabien und Emiraten, sondern auch mit Katar, das im Gegensatz zu den Saudis auch sonst der Muslimbruderschaft nahesteht, weswegen zwischen beiden Staaten eine tiefe Feindschaft besteht. „Ich kenne Leute, die kriegen aus Katar im Monat 800 bis 1.000 Dollar“, meint Abdullah. Es soll eine Liste mit 600 Namen in Taiz geben, die so ihr Geld verdienen. Er fährt fort: „Sie sind den sozialen Medien aktiv, aber sie schreiben nichts gegen Al-Houthi, obwohl er ihr erster Feind sein soll. Sie schreiben nur gegen Saudi-Arabien. Sie denken sich Verbrechen aus. Die Saudis begehen Verbrechen, aber die Leute die ich kenne denken sich zusätzliche Verbrechen aus.“ Yahya nennt die Fernsehkanäle bei denen er davon ausgeht, dass sie für die Bruderschaft arbeiten – z. B. Al-Jazeera: „Katar und die Türkei finanzieren die Medien der Bruderschaft. Und ihre Medien sind gut gemacht.“
Ein weitere Einnahmequelle, um die sich die Bewaffneten lieber kümmern als darum, die Belagerung zu beenden, ist das Geschäft mit dem Rauschmittel Qat: „Das ist jetzt komplett in der Hand des Militärs, was schon einmal dazu führt, dass Soldaten aus derselben Einheit aufeinander schießen. Sie streiten sich um die Marktanteile.“ Abdullah, der mit seiner Frau ein Kind im Krieg bekommen hat, macht deutlich, was das konkret heißt: „Anfang des Jahres sind in Taiz zwei Kinder erschossen worden. Zwei Soldaten waren in Streit geraten und hatten sich beschossen. Keiner weiß genau, warum die Kinder jetzt tot sind. Die Soldaten werden nie zur Rechenschaft gezogen werden. Man könnte zur Islah gehen. Die sagen dann aber auch nur: Wir wissen das. Was sollen wir machen? Wir brauchen die Soldaten, sie schützen uns und auch Dich. Die Folge ist, dass kaum noch ein Kind zur Schule geht. Die einzigen funktionierenden Schulen sind ohnehin außerhalb, und es gibt fast keine Lehrer mehr.“
Auch die Hilfsgüter sind eine Einnahmequelle der bewaffneten Gruppierungen – nicht nur bei den Houthi wie beide meinen, sondern auch im von ihnen befreiten Taiz: „Auch die lokalen Mitarbeiter der UNO sind korrupt. Sie verkaufen die Hilfsgüter an die Armee der [Muslim-]Bruderschaft, und diese verkaufen sie an die Bevölkerung. Bei der UN zu arbeiten, ist für die Einheimischen wie ein grünes Licht zum Geldverdienen. Ich denke aber, die Ausländer in den gehobenen Positionen wissen aus ihren Projektevaluierungen darüber Bescheid. Auch das ist ein Grund warum die Truppen kein Interesse am Ende des Krieges haben.“
„In Friedenszeiten war Nobelpreisträgerin Tawakul Karman nicht aktiv“
Yahya hat wegen des Krieges keine Familie gegründet – in einem Land, in dem Hochzeit eine wesentlich höhere Bedeutung hat als bei uns. „Ich arbeite draußen. Ich kann einer Frau nicht garantieren, dass ich abends wieder zuhause bin. Dies ist keine Zeit, in der Menschen heiraten.“ Er weiß aber zu berichten, welche öffentlichen Einrichtungen in Taiz noch funktionieren: „Die Löhne in der Verwaltung, die noch gezahlt werden, zahlen die Saudis. Für die ist Taiz aber sonst nicht interessant, deshalb haben sie keine Truppen hier, die direkt an sie angebunden sind. Die bezahlen nur, und ohne die sähe es schlimmer aus. Ich klinge jetzt bestimmt pro-saudisch. Das bin ich nicht. Ich weiß, dass sie in anderen Teilen Jemens schlimme Sachen machen, und sie haben ihre Agenda.“
Als ich Abdullah frage, was aus der Revolution geworden ist, lacht er: „2011 sind wir gegen Korruption auf die Straße gegangen. Es war eine Revolution der Jugend gegen Korruption und für Mitbestimmung. Aber wir haben einen Fehler gemacht. Wir haben alles an dem großen Führer Ali Abdullah Saleh festgemacht. Wir haben nicht gesehen, dass das ganze System korrupt ist. Letztlich haben wir Islah die Macht mit übergeben und die sind um 200 % mehr korrupt als Saleh. Das kriegen wie jetzt zu spüren.“
Ich spreche ihn an auf den 17 Jährigen Ghazwan al-Mekhlafi, über den in der internationalen Presse berichtet wurde. Er soll in Taiz eine Miliz von 100 Leuten führen: „Ja das stimmt, den gibt es. Er ist ein Mörder. Ich denke er arbeitet für die Islah und den Vizepräsidenten. Er bringt vor allem innerhalb von Taiz Menschen um. Aber er ist nicht der Einzige hier.“
Ich möchte wissen, welche Rolle die ebenfalls in Taiz geborene Tawakul Karman spielt, der 2011 als „Mutter des Arabischen Frühlings“ der Friedensnobelpreis verliehen wurde. Für Yahya fällt das Urteil aus seiner Perspektive klar aus: „Dieses Mädchen hat die türkische Staatsbürgerschaft und erhält viel Geld aus Katar. Es ist ihre Mission die Arabische Allianz anzugreifen und die Kräfte zu unterstützen, die mit der [Muslim-]Bruderschaft verbunden sind. Als Tawakul Karman den Friedensnobelpreis bekam, waren viele überrascht. In Friedenszeiten war sie nicht aktiv. Es gab viele Frauen, die sehr viel Gutes getan haben, aber die haben den Preis nicht bekommen.“
Das Interessante an Interviews mit Tawakul Karman, ist wie so oft, dass die Interviewer – wie z. B. bei einem Besuch in Berlin – mehr über ihre eigene Sichtweise als über die Realität des Nahen Ostens offenbaren. So fragt der deutsche Gesprächspartner sie sehr kritisch zu Saudi Arabien, und erhält als Antwort eine differenzierte Analyse der Verbrechen des Irans im Jemen, die durch den Atomdeal ermöglicht wurden. Das Interview stammt aus einer Zeit, in der der Kampf gegen die Houthis in vergleichsweiser Einigkeit der verschiedenen Akteure geführt wurde. Interessant an Karmans Vorträgen wie z. B. dem an der Universität in Santa Barbara, das durchaus treffend die derzeitige Konterrevolution nicht nur in der arabischen Welt beschreibt, sind vor allem auch die interessierten Auslassungen, die auf ein Unwissen über die Verhältnisse im Jemen bei ihrem Gegenüber bauen. So gelingt es Karman die Rolle der Islah-Partei noch nicht einmal zu erwähnen, die für meine Gesprächspartner so zentral ist. Das Internetportal Al Monitor ordnet die Rolle vom Karman folgender maßen ein:
„Einige Islah-Mitglieder im südlichen Jemen blieben Katar treu und untergraben weiterhin die Zielsetzungen der Vereinigten Arabischen Emirate in der Region. Summer Ahmed, ein politischer Analyst, der eine enge Zusammenarbeit mit dem ‚Southern Movement’ pflegt, sagte gegenüber Al-Monitor, dass Katar weiterhin religiöse Führer und Hilfsorganisationen von Islah finanziert, welche die Friedensnobelpreisträgerin Tawakul Karman als ihr Aushängeschild betrachten. Ahmed zufolge sind diese Kleriker und Organisationen dazu bereit, ihr Sponsoring aus Katar, trotz Islahs pro-saudischer Ausrichtung, öffentlich zu machen. Auch nahmen sie gemeinsam mit extremistischen Netzwerken wie Al-Qaida an militärischen Kampagnen im Süden des Jemen teil.“
In der Tat wird Karman auch in der türkischen Hürriyet mit der Aussage zitiert, dass ihr die Verleihung der türkischen Staatsbürgerschaft wichtiger ist als der Friedensnobelpreis.
„Wir hassen die Iraner nicht – wir sehen, was im Iran passiert“
Gedanken an Flucht hatten Yahya und Abdullah. Aber beide haben sich dagegen entschieden. Obwohl sie das gewalttätige Paradies des Jemens nie in ihrem Leben verlassen haben, sind beide von einer für kleine Länder nicht untypischen Zugewandtheit zur Welt nicht abgerückt. So meint Yahya: „Wenn Du Iraner kennst, sag ihnen, dass wir sie nicht hassen. Ihre Regierung ist wirklich sehr verrückt. Keiner hier versteht, was sie mit dem Jemen wollen. Aber wir sehen was im Iran passiert, und dass viele da gegen den Krieg sind. Wir sehen auch, dass die Menschen im Iran Angst haben. Im Gebiet des Houthi traut sich auch keiner über irgendetwas frei zu sprechen, was in Ansätzen mit Politik zu tun hat.“
Abdullah beobachtet: „Das ist in den anderen Gebieten etwas besser. Besonders wenn man Kontakt zu ausländischen Organisationen hat, die es auf unserer Seite der roten Linie noch gibt, haben die Leute etwas Schutz. Es lohnt sich nicht, jemanden zu töten, bei dem Ausländer Stress machen können. Aber man sollte aber vermeiden, in Taiz direkt mit der Islah Probleme zu kriegen, und ihre Geschäfte zu stören. Eine Garantie auf Leben haben auch die Leute nicht, die heute noch versuchen, so etwas wie Menschenrechte zu thematisieren.“